Über die Liebe: Wie man mehr als 50 Jahre ein Paar bleibt
Er sagt: Ich habe sie nicht immer gut behandelt. Sie sagt: Es gibt Fragezeichen, die man aushalten muss. Seit mehr als 50 Jahren sind die Wiesners ein Paar. Wie das geht? Vielleicht nur mit Verzicht.
Irgendwann, nach mehr als zehn Jahren Ehe, drei Kinder sind geboren, stehen sie am Scheideweg ihrer Liebe. Heimlich wie ein Feind hat sich ein Gefühl in ihnen ausgebreitet, das sie daran hindert, den Wert ihres Glückes zu erkennen; stattdessen registrieren sie inmitten der Rushhour ihres Lebens, ihre Kinder sind noch jung, ihre Eltern werden alt und sterben, nur noch die schwierigen Seiten des Partners.
Im Rückblick sagt der Mann: „Eine schwere Krise.“ Die Frau sagt: „Es stand Spitz auf Knopf.“
Er will nach Paris, sein Beruf ist ihm Berufung, sie sagt: „Nein!“ Sie hat das Gefühl, sein Job sei seine wahre Liebe. Sie begleitete ihn schon nach Heidelberg, sie war mit in Amerika, sie will jetzt nicht mit drei Kindern von Berlin nach Paris, um dort zu Hause brav auf den eigenen Mann zu warten. Eltern, Verwandte, ja, auch die eigene Schwester, sind entsetzt über ihr Verhalten, denn sie leben damals in anderen Zeiten, Ende der Siebzigerjahre ist es gesellschaftlich unvorstellbar, dass die Frau sich widersetzt.
Er geht. Sie bleibt. Sie sprengen mit dieser Entscheidung damals gültige Konventionen.
Vierzig Jahre später sitzen sich Helen und Bernhard Wiesner in ihrem Haus in Dahlem gegenüber, bei beiden ist das Haar weiß, das Äußere elegant, und ihr Lächeln wie ihr Schweigen sind lebensklug. Sie sind bereit, über ihre Liebe, ihre Ehe und Krisen zu sprechen, wenn ihr wirklicher Name dann nicht in der Zeitung steht. Helen und Bernhard Wiesner sind ein eingespieltes Team, selbstbewusst und doch bescheiden, bestens vertraut mit den Schwächen des anderen und beschenkt mit dem, was man vom anderen liebt und was der andere gibt. Und das schon mehr als 50 Jahre lang. Im letzten Jahr haben sie ihre Goldene Hochzeit gefeiert, ausgelassen, fröhlich, mit ihren drei Kindern und sieben Enkeln und unzähligen Gästen. Helen und Bernhard Wiesner wirken wie von allen Zweifeln befreit. Sie sagen: „Vielleicht haben wir in der Krise unsere Liebe neu erfunden.“
70 Prozent der Deutschen glauben an die ewige Liebe
Frühling und Sommer sind die Boomzeiten für Hochzeiten. Und die Deutschen trauen sich das Heiraten wieder häufiger zu. Erstmals seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Eheschließungen im Jahr 2015 auf mehr als 400 000 gestiegen, 2016 setzte sich dieser Trend fort. Gleichzeitig lassen sich weniger Paare scheiden, 2016 waren es 162 397 – so wenige wie seit 1993 nicht mehr. In Berlin ist der Trend ähnlich, mehr Ehen werden geschlossen, die Zahl der Scheidungen nimmt ab. Allerdings hat dies auch einen sehr pragmatischen Grund: 2009 wurde vom Gesetzgeber das Pflichttrennungsjahr eingeführt, insgesamt sind die Kosten für Scheidungen gestiegen. „Da leben die Leute lieber getrennt, aber nicht geschieden“, sagt ein Experte aus dem Statistischen Landesamt. Trotzdem sind die Deutschen, zumindest vor einer Ehe, sehr romantisch in ihren Vorstellungen, seit Jahren geben in Umfragen mehr als 70 Prozent der Befragten an, dass sie an die Liebe fürs Leben glauben.
Doch wie schafft man das?
In der Erinnerung der Wiesners ist das Positive allgegenwärtig und überwiegt, schließlich haben sie ihre Abgründe übersprungen. Aber Bernhard Wiesner, wie seine Ehefrau Jahrgang 1940, muss noch einen Satz loswerden am Ende dieses Gespräches: „Ohne Helen wäre ich nichts, wäre nicht hier in diesem Haus.“ Schweigen. „Aber ich habe sie nicht immer gut behandelt.“ Schweigen. „Das grummelt in mir.“
Er blickt auf, blickt zu ihr, sie lächelt milde. Sie ist eine beherrschte Frau, die doch noch immer so ausgelassen lachen kann wie ein junges Mädchen. Sie erwidert: „Liebe ist nicht flüchtig, auch nicht nur romantisch, sie ist immer anders, im besten Falle neu. Liebe in einer Ehe muss ständig neu erworben werden.“
Bernhard Wiesner will erklären, was seine Ehefrau auszeichnet, was sie alles geleistet hat, sie ruft: „Bernhard …, darf ich das vielleicht selbst erzählen …“ Später, wenn vor allem sie das Wort ergreift, hält er sich zurück. Lobt er sie, ist sie geschmeichelt, lässt es aber nicht gerne erkennen. Sie ist selbstbestimmt, jedes Wort, jede Geste demonstrieren es, sie sagt, dass sie sich immer gleichberechtigt gesehen habe, auch wenn sie beide, Mann und Frau, im Alltag nicht gleich waren. Jetzt zögert er, denn er hat erst lernen müssen, dass die Ehefrau die Ernährerin sein kann. Zeitweise. Er sagt ohne Ironie und Scham: „Sie hat mich im Grunde erzogen.“
In der Generation von Bernhard und Helen Wiesner beruhte das Rollenverständnis von Mann und Frau noch auf Konventionen – die Frau hatte sich anzupassen. Die Scheidungsquoten begannen wohl auch deshalb Ende der 60er Jahre zu steigen, sie lagen in den 70er Jahren schon so hoch wie zurzeit. Heute wiederum sind viele Paare in ihrer Ehe oder ihrer Beziehung gleichberechtigter, aber das heißt in der Praxis oft auch, dass sie ein ehrgeiziges Ideal leben wollen: nicht nur gleichberechtigt, sondern auch gleich zu sein – gleich erfolgreich, gleich belastet, gleich müde. Jeder macht alles. Haushalt, Beruf, Erziehung. Denn alles soll möglich sein. Die Rollen, die früher klar erschienen, vermischen sich. In der gut gemeinten Gleichheit besteht die Gefahr, dass die Bereitschaft, sich dem anderen für die Liebe auch mal unterzuordnen, verloren geht.
Die israelische Soziologin Eva Illouz formuliert es so: „Die vormoderne Ehe basierte auf der Kraft impliziter Normen, auf Geschlechterrollen, auf der stillschweigenden Übereinkunft darüber, was Männer und Frauen einander schuldeten.“ Im Vergleich dazu ähnele die moderne Ehe einem Bienenstock betriebsamen Summens darüber, wie man die eigene Beziehung mit den Mitteln des Gesprächs und der Hilfe von Experten verbessern könnte.
Ist somit die Verschiedenheit in einer Beziehung der bessere Garant für Liebe?
Helen und Bernhard Wiesner lernen sich 1961 an der Freien Universität Berlin kennen, er Student der Chemie, sie Studentin der Geschichte, beide aktiv in der Evangelischen Studentengemeinde. Beim ersten Faschingsfest guckt sie sich ihn entsetzt an, seine geschminkten Augen, die ganze Aufmachung, und denkt: „Was für ein Schwerenöter.“ Aber er fasziniert sie. Später, beim Skilaufen auf der Tauplitzalm im Salzkammergut, funkt es. „Seine zärtliche Zuwendung hat mich angezogen“, sagt sie. Sie hatte gelernt, sich durchzusetzen, auch gegen die Ansichten des eigenen Vaters. Der hat sie zu Hause zwar immer ermutigt, zu widersprechen, aber als sie studieren möchte, will er sie lieber auf eine Haushaltsschule in die Schweiz schicken. Sie kontert: „Kochbücher kann ich auch lesen, die muss ich nicht studieren.“
Er putzte die Fenster - aber die Fensterläden waren zu
Sie absolviert ihr erstes und zweites Staatsexamen als Lehrerin und will in den Beruf einsteigen, da geht er nach Heidelberg, um dort sein Diplom zu machen. Er studiert, sie arbeitet dort als Lehrerin. Als eines Tages ihre Mutter zu Besuch kommt, stellt er sich demonstrativ an den Schreibtisch, kontrolliert die Haushaltsausgaben und merkt an, es würde Geld fehlen. Heute, in ihrem Wohnzimmer, schüttelt Helen Wiesner den Kopf: „Damals bin ich fast geplatzt vor Wut. Ich verdiene das Geld, und er kontrolliert mich.“ Irgendwann sagt sie zu ihm, du kannst ja auch mal Staub saugen und Wäsche waschen. Er hatte das noch nie gemacht. Einmal kommt sie von der Schule nach Hause, die Fensterläden sind geschlossen, drinnen laute Musik, er fröhlich beim Fensterputzen. Es war ihm zu peinlich, als Mann von den Nachbarn beim Haushalt gesehen zu werden.
So waren die Zeiten – Zeiten voller Konventionen und Etikette, an die man sich zumeist gehalten hat. Bernhard Wiesner wollte partout nicht heiraten, bevor er nicht sein Diplom hatte. Man musste, so war er erzogen worden, „als Mann doch etwas vorweisen“. Er sagt über diesen inneren wie äußeren Druck: „Mein Glaube hat mir geholfen, mich nicht zu verlieren.“ Sie sagt: „Ich hatte nie Angst vor dem Leben und seinen Krisen. Ich habe mich im Inneren immer beschützt gefühlt. Meine Identität gründet auf Vertrauen.“ Dabei war sie als kleines Mädchen mit der Mutter und der Schwester 1944 auf der Flucht, von Danzig über Köslin nach Stettin, von dort nach Hamburg. Der Großvater war Pfarrer, der Vater Jurist und eine starke Persönlichkeit. Sie sagt: „Ich hatte die Wahl: Entweder ich füge mich oder ich widerspreche.“ Es fing an, als sie das Tagebuch der Anne Frank las, mit 14 Jahren, und hörte nicht mehr auf.
Bernhard Wiesner wächst in Stuttgart bei Mutter und Großmutter und in den ersten acht Jahren ohne den Vater auf, der erst im Krieg, dann in Gefangenschaft und schließlich zurück in seiner Heimatstadt Essen war. Erst 1948 findet der Vater dort eine Wohnung für alle und holt die Familie aus Stuttgart zu sich. „Das Familienleben musste erst gelernt werden“, erinnert sich Wiesner. Beide Eltern sind promovierte Philologen, trotzdem ist der Vater der Patriarch im Haus. Die Mutter beginnt erst zu Beginn der 60er Jahre wieder zu arbeiten – Haushalt und Kinder bleiben ihre Aufgabe.
Der Bibelspruch, den sich Helen und Bernhard Wiesner für ihre Hochzeit ausgesucht haben, war immer ein Leitspruch für ihr Leben: „Nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat.“ Also bedingungslos. Doch das ist für alle Paare der Welt leichter gesagt als getan. Helen Wiesner wollte arbeiten, Karriere machen, auf eigenen Füßen stehen; gleichzeitig hat sie gesehen, wie wichtig der Beruf für ihren Mann ist, wie gut er darin ist, wie er darin aufgeht und er ihn glücklich macht. Dafür hatte sie Verständnis.
Auf ihrem Stuhl im Wohnzimmer vor dem Bücherregal formuliert Helen Wiesner eine Lebenserfahrung: „Dieses Geschenk, dass man überhaupt zusammengefunden hat, wird heute vielleicht nicht mehr als ein Wert an sich gesehen. Sagen wir es so: Es gibt Fragezeichen, die man aushalten muss, nicht auflösen kann, wenn man die Liebe erhalten will.“ Die Soziologin Eva Illouz findet, dass in unserer an Wissen gesättigten Welt mehr „Undeutlichkeit Sinn“ habe, weil diese es schafft, „uns unser Nicht-Wissen voneinander zu bewahren“. Wir sollten Abhängigkeit und Ungleichheit als etwas definieren, das unsere Freiheit und die Liebe nicht gefährdet.
Nach der Hochzeit 1967 in Heidelberg will Helen Wiesner durchstarten, sie weiß, dass sie ein Talent für das Organisieren hat, sie träumt davon, vielleicht eines Tages Schulrektorin zu werden. Dann kommt er: „Ich habe ein Forschungsstipendium für Amerika, Kalifornien, und du musst mitkommen.“ Sie antwortet: „Ich komme nur schwanger mit, sonst habe ich dort ja nichts zu tun.“
Sie verzichtet auf eine eigene Promotion – er wird später mit der Erfahrung aus den USA das Umweltbundesamt in Deutschland mit aufbauen, wird Bundesbeamter und ein gefragter Experte an vielen Orten der Welt. Er sagt: „Ich war dann doch der Macho, der sich durchgesetzt hat.“ Sie sagt: „Alle waren so stolz auf ihn, ich ja auch. Also bin ich den Weg mitgegangen, habe ihm den Rücken freigehalten. Das war dann schon meine Entscheidung. Natürlich aus Liebe.“
Bis zur Krise. Bis er, obwohl da schon drei Kinder waren, glaubte, wieder fort zu müssen. Paris schlägt Helen Wiesner rigoros aus. Baut stattdessen in Berlin für die Familie ein Haus vom Erbe ihres Großvaters. Im Rückblick sagt sie: „Ich musste Klarheit schaffen durch diese Distanz.“ Er: „Bald stand fest, dass ich mich entscheiden muss. Ich bin zurück zu ihr und den Kindern.“
Es gibt Herausforderungen, die jedes Paar für sich lösen muss, etwa, wie man ein Patt von Interessen auflöst. Vor allem aber: wie man verzeiht.
Im Wohnzimmer stehen im Bücherregal Bilder von den drei Söhnen, den Schwiegertöchtern und Enkeln. Von außen betrachtet sieht man Harmonie und großes Glück. Was man nicht sieht, ist, dass dieses Glück und diese Liebe auf harten Auseinandersetzungen und Tränen basieren. Das macht sie nicht weniger wertvoll, nicht weniger romantisch. Sie ist auch nicht erfolgreicher als andere, sie ist, wie sie ist.
Der Philosoph Dieter Thomä, der die Geschichte des sich wandelnden Vaterbildes untersucht hat, schreibt mit Blick auf moderne Eltern: „Das Gejammer über die Doppelbelastung schneidet uns doch nur von unseren Glücksquellen ab. Diese Glücksquellen sind Kinder und Beruf.“
Wie immer, ist das Leben also nichts anderes als eine Sichtweise.
Die Wiesners haben einen Sohn in Hamburg, einen in Frankfurt und einen in Sydney. Der siebenfache Großvater holt ein Album hervor, das die Familie ihnen zur Goldenen Hochzeit geschenkt hat. Jedes Bild eine Geschichte, eine Erinnerung, Helen Wiesner zeigt auf ein schwarz-weißes: „Guck, mit Bubikopf. Er wollte immer, dass ich den trage.“ Er: „Ich liebe den Bubikopf an dir.“
Eine neue Liebe kann auch die alte Liebe sein
Als die Kinder größer sind, beschließt Helen Wiesner, nach 20 Jahren wieder zurück in den Schuldienst zu gehen. Vorher hat sie sich in der Kirchensynode engagiert, bei der Aktion Sühnezeichen oder der Flüchtlingsarbeit. Jetzt murmelt Bernhard Wiesner in seinem Sessel noch einen leisen Satz: „War auch nötig.“ Soll heißen: Sie brauchte das, und uns hat es gutgetan. Es ist die Zeit kurz nach der Wende, Helen Wiesner geht mit ihren Fächern Geschichte und Französisch an ein Gymnasium in Weißensee. Von ihrem ersten Gehalt kauft sie sich ein Ticket und fliegt für eine Woche nach Mexiko, wo ihr Mann gerade arbeitet. Sie kommt an einem Sonntagabend wieder, Montag um sechs Uhr muss sie losfahren zur Schule. „Herrlich fand ich das“, sagt sie.
Mit der späten, gemeinsamen Berufszeit beginnt eine andere, neue Liebe mit anderen Gesprächen. Plötzlich gibt es wieder Zweisamkeit, ohne Kinder, gemeinsam und doch autonom. Sie gehen wieder ins Theater, in die Oper. Und sie beginnen, ihre Freundeskreise intensiv zu pflegen. Sie spielen mit den jüngeren Enkeln gerne das Brettspiel „Hase und Igel“. Bernhard Wiesner singt seit seiner Uni-Zeit im Chor. Und wenn Helen Wiesner darüber redet, ist zu spüren, wie stolz sie auf ihn ist. Er sagt: „Man kann nur singen, wenn man sich öffnet. Dann ist es befreiend.“ So ist es wohl auch mit der Liebe.
Armin Lehmann
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