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Risikogruppe Senioren. In Berlin steigt die Corona-Kurve rasant.
© dpa

Die Coronavirus-Kurve steigt: Berlin stellt sich auf Ausnahmezustand im Gesundheitssystem ein

In Berlin infizieren sich immer schneller immer mehr Menschen. Bald könnte sich die Situation in den Kliniken zuspitzen. Experten warnen.

Sie steigt und steigt – immer steiler: die Kurve der mit dem Coronavirus infizierten Menschen in Berlin. Nach 383 Fällen am Dienstag waren es am Mittwochabend 519, am Donnerstagabend 688 – das ist jeweils eine Zunahme um ein Drittel. Bei dieser Steigerungsrate könnten es bis Sonntag fast 2000 offiziell registrierte Infizierte, bis Mittwoch mehr als 4000, in einer Woche fast 10 000 sein.

Dabei läuft die Kurve der Realität hinterher. Bis eine Covid-19-Erkrankung ausbricht, dauert es eine knappe Woche, die Testergebnisse lassen mehrere Tage auf sich warten. Wer sich heute infiziert, wird frühestens nach mehreren Tagen erfasst – wenn er Symptome zeigt und getestet wird. Die heutige Kurve zeigt den Zustand vor sieben bis zehn Tagen.

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Vor allem in den mittleren Altersgruppen zwischen 30 und 59 Jahren nimmt die Zahl der Infizierten zu. Bei der Inzidenz, also den Fällen im Verhältnis zur Einwohnerzahl, ist sie am stärksten betroffen. Auf 100 000 Einwohner kommen bei den 30- bis 39-Jährigen 29,4 Infizierte, in der Gruppe der 25- bis 29-Jährigen liegt die Inzidenz bei 31,2 Infizierten und bei den Über-60-Jährigen bei 6,7. Doch hier stiegen die Zahlen in nur 24 Stunden um 60 Prozent. Ältere Erkrankte brauchen wegen eines schweren Krankheitsverlaufs besonders häufig medizinische Hilfe – die größte Herausforderung für das Gesundheitssystem. Mit Stand Donnerstagabend gab es 43 Corona-Patienten in Berlin, die medizinisch versorgt werden mussten, 15 davon intensivmedizinisch.

Noch ist Deutschland am Beginn der Epidemie. Sollten sich weiter so viele Menschen in dieser Geschwindigkeit anstecken, droht ein Kollaps des Gesundheitssystems. „Zumindest vorübergehend wird die Kurve weiter so rasant steigen“, sagt ein Arzt und Wissenschaftler aus Berlin, der sich seit Jahren mit dem Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen beschäftigt. Er sieht die Stadt nur bedingt vorbereitet. „Schon jetzt haben sich in Deutschland im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Menschen infiziert als in China“, sagt er.

"Völlig irre, dass Kassierer ungeschützt Kontakt zu Kunden haben"

In Japan liege die Zahl noch weitaus niedriger. Das liege offenbar am Sozialverhalten: kein Händeschütteln und das Tragen von Schutzmasken, die die Infektionsgefahr deutlich reduzieren. „In Berlin haben wir davon aber nicht einmal genug für das Krankenhauspersonal“, kritisiert er. Eigentlich müssten alle Berliner Masken in der Öffentlichkeit tragen. „Es ist doch völlig irre, dass Kassierer ungeschützt tausendfachen Kontakt mit den Kunden haben.“

Auch für die schweren Infektionen, die medizinisch behandelt werden müssen, sieht er Berlins Krankenhäuser nur bedingt vorbereitet. Derzeit gibt es in Berlin 1045 Beatmungsgeräte an Intensivbetten, die sind bereits im Normalbetrieb zu 80 Prozent belegt. Die Charité soll deshalb demnächst 100 zusätzliche Beatmungsgeräte erhalten. Zudem will der Senat in den kommenden drei Wochen ein Corona-Krankenhaus auf dem Messegelände errichten mit Platz für 1000 Patienten. „Das ist gut und richtig, wird aber nicht reichen“, sagt der Experte.

Doch für die Notklinik lag bis Donnerstagnachmittag noch nicht einmal ein Antrag Berlins auf Amtshilfe bei der Bundeswehr vor. Dabei soll die Klinik schon im April genutzt werden können. Auch nach einem Gespräch am Dienstagabend blieben viele Details unklar. „Wir wissen noch nicht, welche konkrete Unterstützung der Senat haben möchte“, sagte ein Bundeswehr-Sprecher. Aus Sicht des Militärs kann die Ad-hoc-Klinik auch mit mobilen Beatmungsgeräten keine intensivmedizinische Betreuung leisten.

Besonders Menschen zwischen 25 und 59 Jahren infizieren sich.
Besonders Menschen zwischen 25 und 59 Jahren infizieren sich.
© Gesundheitsverwaltung

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte am Donnerstag: „Wir können möglicherweise beim Aufbau helfen.“ Auch an Feldbetten und anderes Material könne man denken. „Aber wir können ein solches Krankenhaus nicht mit eigenen Kräften betreiben.“ Bundeswehr-Ärzte und Pflegekräfte würden in den eigenen Krankenhäusern und Sanitätsbereichen gebraucht. Das Berliner Bundeswehrkrankenhaus wird wie die vier weiteren in Deutschland derzeit mit zusätzlichen Soldaten und Reservisten „durchhaltefähig“ gemacht, sagte ein Sprecher.

"Personalbestände müssen aufgestockt werden"

Für die Notklinik will Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) Ehrenamtliche, pensionierte Ärzte und Pflegekräfte sowie Medizinstudenten mobilisieren. Berliner Kliniken, Gesundheitsämter und Praxen stehen unter enormem Druck – insbesondere die Krankenhäuser suchen dringend Personal. Schon vor der Coronakrise waren in Berlin Tausende Stellen im Gesundheitswesen unbesetzt. Die Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG), der staatliche, private, konfessionelle sowie frei-gemeinnützige Kliniken angehören, sucht nun mit einem öffentlichen Aufruf nach Personal: Um den hohen Bedarf an Fachkräften für die Versorgung von Covid-19-Patienten zu gewährleisten, sei man auf „die Unterstützung aus der Bevölkerung angewiesen“. Man rufe alle Berliner mit medizinischer Ausbildung auf, sich an Einrichtungen zu wenden, die zum jeweiligen Qualifikationsprofil passen.

„Um für die zu erwartenden Patientenzahlen ausreichend Personal in den Krankenhäusern vorzuhalten, müssen die Personalbestände aufgestockt werden“, sagte BKG-Geschäftsführer Marc Schreiner. „Auch in den Pflegeeinrichtungen muss die pflegerische Versorgung sichergestellt sein, um Einweisungen von Bewohnern in Krankenhäuser zu vermeiden.“ Die BKG hofft, dass sich frühere Ärzte und Pflegekräfte an die Personalabteilung der Kliniken wenden.

Experte fordert weitere separate Corona-Krankenhäuser

Die Kassenärzte aus den Praxen wiederum fordern Berliner auf, Schutzmaterial abzugeben. Die für circa 9000 niedergelassene Mediziner zuständige Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin bittet Betriebe nachdrücklich, dabei zu helfen: „Wir benötigen ganz dringend Schutzmasken, Schutzbrillen, Einmalhandschuhe und Desinfektionsmittel und würden uns freuen, wenn Unternehmen, die noch Lagerbestände haben, diese kostenfrei bei uns abgeben.“

Wegen der Ansteckungsgefahr und dem hygienischen Aufwand von Isolierstationen plädiert der Experte für eine Separierung von Covid-19-Erkrankten. Einige Kliniken sollten nur noch Covid-19 behandeln, andere gar nicht. In den Corona-Krankenhäusern sollte Personal zum Einsatz kommen, dass bereits infiziert war und immun sei. „Makaber, aber so können wir das Personal schützen und die Kurve drücken.“

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