Die Dercon-Kontroverse und der globale Populismus: Volk und Bühne
In westlichen Demokratien tobt ein Kulturkampf. Es geht um Vorrechte, das Verständnis von Identität. Der Berliner Volksbühnen-Streit bündelt die globalen Konfliktebenen. Ein Gastbeitrag.
Für den amerikanischen Beobachter hat „Dem deutschen Volke“, die Inschrift am Giebel des Reichstagsgebäudes, etwas fundamental Unbehagliches. Sie geht zurück auf einen Vorschlag von Paul Wallot, den Architekten des Gebäudes, aus dem Jahr 1894. Damals wurde sie vom „Berliner Lokal-Anzeiger“ als „naiv, beinahe komisch“ abgetan, weil sie dem Prinzip widersprach, wonach das „Volk“ ja eigentlich von vornherein der Herr des Hauses sein müsste. Die Inschrift aber weckt implizit die Vorstellung, eine höhere Gewalt habe den Menschen die Autorität über das Haus verliehen.
Diese Rhetorik unterscheidet sich stark von „We the people“. Die einleitenden Worte der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika beanspruchen auch Souveränität für sich, kommen jedoch im gleichen Atemzug der Autorität jeder höheren Gewalt zuvor – König, Kaiser, oder Gott.
Die Widersprüchlichkeit des Volksbegriffs
„Dem deutschen Volke“: Als 1916 die drei Worte schließlich auf einer Woge kriegerischen Nationalismus angebracht wurden, hatte sich ihre Bedeutung verschoben. Sie markierten nicht mehr eine horizontale Souveränität – das Volk, das von einer höheren Gewalt befreit wurde –, sondern ein vertikales Vorrecht: das deutsche Volk vor allen anderen. Eine soziale oder klassenbezogene Kategorie war durch eine nationale ersetzt worden.
Wie der Nationalismus selbst ist diese Haltung in sich widersprüchlich. Obgleich sie vorgibt, Menschen einzubeziehen, ist ihre Funktion in Wahrheit, andere auszuschließen. Es ist bekannt, dass die völkische Tradition in der deutschen Politik ihre Feindseligkeit gegen Außenstehende richtete – hauptsächlich gegen die Franzosen, aber bald darauf auch gegen Gruppen im Land, hauptsächlich gegen die Juden.
Der neue Populismus tobt auf beiden Seiten des Atlantiks
Als sie in den späten 90er Jahren in das Reichstagsgebäude einzogen, waren sich die Mitglieder des Deutschen Bundestages dieses Problems bewusst. Nicht ohne Kontroverse entschieden sie, dass im Lichthof des Gebäudes als Korrektur der Botschaft „Dem deutschen Volke“ ein Kunstwerk von Hans Haacke platziert wird. Es ist ein mit Schotter und Erde gefüllter Schriftzug „Der Bevölkerung“. Diese Auswechslung der Begriffe geht zurück auf Bertolt Brecht, der 1935 vorschlug, besser von „Bevölkerung“ statt von „Volk“ zu sprechen, genauso wie von „Landbesitz“ anstelle von „Boden“.
Populismus, der politische Aufstand, der momentan auf beiden Seiten des Atlantiks tobt, scheint ebenfalls dem horizontalen, sozial- und klassenbasierten Verständnis des Begriffs „Volk“ abgeschworen zu haben. Er trennt die Zugehörigen (Insider) von Außenstehenden (Outsider); selbst wenn – oder eher, insbesondere wenn – die Outsider gleichzeitig auch Insider sind. Der neue amerikanische Populismus zeigt sich vielleicht am treffendsten und am deutlichsten in den Parolen „Wir lassen uns nicht ersetzen“ und „Juden werden uns nicht ersetzen“.
Solche Parolen wurden im August von den Verfechtern der weißen Vorherrschaft bei den schlussendlich mörderisch endenden Ausschreitungen in den Straßen und auf dem Universitätscampus von Charlottesville, Virginia, skandiert. Diese Mischung aus Panik und Gewalt kennt man in Europa, ob in Form von Geert Wilders jüngstem Tweet „Unsere Bevölkerung wird ersetzt. Nicht länger“ oder der noch nicht lange zurückliegenden erfolgreichen Kampagne der AfD.
In Europa ist Islamfeindlichkeit die treibende xenophobe Stimmung, unterstützt durch die allzeit signifikanten Mittel des Antisemitismus. Islamfeindlichkeit ist in den Vereinigten Staaten von relativ geringer Bedeutung, wie die Soziologin und Stipendiatin an der American Academy in Berlin Nancy Foner erklärt. Trotz der politischen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus nach dem 11. September und dem Vorstoß der Regierung Trump, Einwanderung aus Ländern mit einer muslimischen Mehrheit zu verbieten. In den USA bleibt der auf Hautfarbe basierende Rassismus das dominante gesellschaftliche Trauma. Die völkische Tradition in der amerikanischen Politik ist der Rassismus, der auf die Hautfarbe schaut.
Die Panik des Populismus zielt auf die kulturelle Identität. In der zweigeteilten USA dreht sich die Kultur auf der einen Seite um Gott und Waffen. 40 Prozent der Amerikaner sagen von sich, dass sie jede Woche in die Kirche gehen. Amerikanische Populisten tragen Waffen oder bestehen zumindest auf ihrem Recht, welche zu tragen. Einschließlich Waffen, die zu Massenmorden befähigen, wie wir es immer wieder mit beinahe routineartiger Regelmäßigkeit erleben, zuletzt in Las Vegas.
Auf der anderen Seite steht die amerikanische Kultur als führende Kraft der Globalisierung, geprägt vom Konsumdenken sowie der Idee, dass Kultur und Bildung Waren seien, die man kaufen und verkaufen kann. In dieser Hinsicht ist die einzige Möglichkeit, wie sich „rote“ (republikanische) und „blaue“ (demokratische) Kultur in den Vereinigten Staaten miteinander versöhnen können, ein subtiles Programm der Säkularisierung. Wobei Säkularisierung hier definiert ist als die Akzeptanz eines sozialen Vertrags, der einer vielfältigen und in der Tat gespaltenen Bevölkerung Raum für Verhandlungen eröffnet.
Dercons Theater spiegelt die globale Stadt
In Deutschland hat sich die Säkularisierung für die Demokratisierung nach 1945 als erstaunlich erfolgreich erwiesen. Das Land bleibt religiös geteilt zwischen Protestanten und Katholiken. Zuvor fungierte der Aufstieg des politischen Antisemitismus seit den 1870er Jahren bis zum „Dritten Reich“ zum Teil als Kompensation für die innerchristlichen Differenzen, die zugunsten der nationalen Einheit unterdrückt werden mussten. Die Säkularisierung brachte später nicht nur Religionsfreiheit mit sich, sondern auch die Garantie für eine öffentliche Sphäre, in der kulturelle Identitäten inklusive der religiösen Identitäten verhandelt werden können. So entstand die Angst vor dem Islam weniger als eine Angst davor, dass religiöse Räume untergraben würden, sondern als Angst vor der Bedrohung säkularer Räume.
Da die deutschen Bundesländer nach der Verfassung die kulturellen Institutionen finanzieren, kommt diesen eine große Bedeutung bei der Entwicklung von Identitäten und Differenzen zu. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts spielt keine Institution eine wichtigere Rolle im Aushandeln deutscher Identitäten als das Theater. G. E. Lessings Dramen und seine „Hamburgische Dramaturgie“ kombinierten das Revival der Tragödie nach Aristoteles – in einer modernisierten, bürgerlichen Variante – mit der säkularen Anwendung des Primats von Wort und Text. Dies ist eine grundlegende protestantische Vorstellung. Im katholischen Deutschland und in Österreich konzentrierte sich die Theaterpraxis viel stärker auf das Bild und auf das Spektakel, als irdische Repräsentation göttlicher Gnade.
Die Bayreuther Festspiele als säkularer Pilgerort deutscher Identität
Zwei Beispiele verdeutlichen, wie sich diese protestantisch-katholische Spaltung in der Welt des Theaters ihren Weg durch das 19. Jahrhundert bahnte und bis heute relevant bleibt. Als Richard Wagner im Jahr 1876 die Bayreuther Festspiele einweihte, schuf er eine säkulare Pilgerstätte als Quelle für die neue deutsche Nationalidentität. Indem sie sich allein der Aufführung von Wagners musikalischen Dramen widmete, griff die Bayreuther Idee auch auf die Aristotelische Vorstellung des Theaters zurück, des Theaters als Ort, an dem sich die Polis – umgestaltet zur Nation – versammelt, um sich selbst besser zu verstehen und sich dort auch erst zu gestalten.
Die Musik im musikalischen Drama, so Wagner, habe mit der Oper nichts zu tun (von der er meinte, sie sei genauso italienisch wie trivial). Sie sei vielmehr Ausdruck einer vollständigen Umsetzung des sinfonischen Erbes und der Bedeutung Beethovens – das Wort wird zur Musik, die Musik wird zum Wort. Bis zum heutigen Tage ist Beethovens Neunte Sinfonie das einzige vollständig im Bayreuther Festspielhaus aufgeführte Werk, das nicht von Wagner selbst stammt. Die Neunte, so wird es gemeinhin verstanden, vollziehe durch das Einfügen von Text im letzten Satz die Einheit von Musik und Wort.
Die Salzburger Festspiele repräsentieren die andere Seite. Eröffnet 1920 unter anderem von Hugo von Hofmannsthal, wollte Salzburg die „österreichische Idee“ zur Trägerin deutscher Kultur erheben – nach der Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg. Die Ästhetik sollte katholisch sein, barock, visuell. Um dies deutlich zu machen, überarbeitete Hofmannsthal sein früheres Stück „Jedermann“, das bis heute jedes Jahr auf dem Salzburger Domplatz aufgeführt wird, und fügte ihm „Das Salzburger große Welttheater“ hinzu, das inzwischen keine Berücksichtigung mehr findet.
Das Theater als Ort, an dem kulturelle Identität gestaltet und ausgefochten wird? Kein aktuelles Beispiel ist in diesem Zusammenhang interessanter als die Kontroverse um Chris Dercons Auftakt an der Berliner Volksbühne, wo all die beschriebenen kulturellen und politischen Belange zusammenkommen.
Dercon rückt das Theater in Richtung Happening
Das „Volk“ in der Volksbühne verweist sowohl auf eine gesellschaftliche Klasse, auf das Theater des Volkes, als auch auf eine Nation, auf das Theater des deutschen Volkes. Damit steht die Volksbühne in der Tradition des Theaters des Worts von Lessing bis Brecht. Berlins Loyalität gegenüber Frank Castorf speist sich aus einer Verpflichtung gegenüber seiner Fusion kanonischer Texte (von Goethes „Faust“ bis zu Wagners „Ring“) mit der avantgardistischen oder auch post-dramatischen Praxis, die Integrität des Textes infrage zu stellen.
Auch wenn die Behauptung, Chris Dercon würde von diesem Erbe völlig abrücken, wahrscheinlich übertrieben ist, hat er diese Reaktion dennoch aggressiv herausgefordert. Dercon bewegte sich weg von beiden deutschen Traditionen – Theater als Wort und Theater als Spektakel –, hin zu dem Experiment des Theaters als Ereignis.
Erleben wir ein neues Versprechen von Inklusion oder die Auflösung lokaler Kultur?
Noch wichtiger ist vielleicht, dass sich Chris Dercon und seine Pläne für die Volksbühne den Fokus wieder stärker auf die „Bevölkerung“ rücken, im Gegensatz zum „Volk“. Es wäre gewiss nicht unangemessen, die Institution Volksbühne in ihrer momentanen experimentellen Phase als Berlins „Bevölkerungstheater“ zu bezeichnen. Seine Bühnen auf dem Tempelhofer Feld und am Rosa-Luxemburg–Platz spiegeln die globale Stadt, zu der Berlin geworden ist.
Ist das ein neues Versprechen von Inklusion oder die Auflösung lokaler und nationaler Kultur? Wir können es die Dercon/Haacke-Frage nennen. Es ist die wahrscheinlich wichtigste Frage, mit der Europa und die Vereinigten Staaten derzeit konfrontiert sind.
Aus dem Amerikanischen von Tina Reis.