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„Mann ist Mann“ von 1931
© Bertolt-Brecht-Erben

Bertolt Brechts Erbe: Stelzen, die die Welt bedeuten

Bertolt Brechts Filmnachlass ist gewaltig. Aber die Schätze sind vom Zerfall bedroht. Ein Besuch in der Restaurierwerkstatt.

Das also ist das Ende von Berlin, wie es in Marienfelde aussieht: Gewerbegebiet, Pferdeweide, verkrautete Brache. Die Sackgasse rechts führt auf einen mit gesichtslosen Funktionsbauten bestückten Hof zu einer Außenstelle der am Potsdamer Platz residierenden Stiftung Deutsche Kinemathek. Hier lagert in einem fensterlosen, mit immer gleichen 18 Grad klimatisierten Magazin ein 70 000 Meter langer kulturhistorischer Schatz: der aus 44 Titeln bestehende Filmnachlass von Bertolt Brecht aus dem Archiv der Akademie der Künste.

Vorbei an einer dollen Sammlung von voluminösen alten Filmkameras, Projektoren und Scheinwerfern, die aussehen, als hätte Fritz Lang mit ihnen schon „Metropolis“ ausleuchten lassen, geht es zu langen Regalen, in denen sich silberne Filmrollen bis hoch unter die Decke stapeln. Ein Teil davon beherbergt, was der 1898 in Augsburg geborene und 1956 in Ost-Berlin gestorbene Dramatiker selbst filmen ließ, der frühzeitig auf die Dokumentation seines Werkes und Lebens bedacht war. Anderes ist nach seinem Tod dazugekommen.

Die Zeit drängt: Viele der Filme haben ihr Verfallsdatum schon erreicht

Die Rollen sind mit Titeln wie „Mutter Courage“, „Katzgraben“ oder „Die Mutter“ beschriftet. Neben Brecht-Verfilmungen, Probeaufnahmen und den teils seltenen und bisher unveröffentlichten Dokumentationen von Theaterinszenierungen – samt großen Mengen niemals gesichteter Outtakes –, sind hier auch Filme zu finden, die private Szenen aus seinem Leben zeigen. Eine Sammlung, die nach seinem Tod Ehefrau Helene Weigel und andere Brecht-Erben weiterpflegten und 1992 an das Land Berlin verkauften.

Restauratorin Maxi Zimmermann
Restauratorin Maxi Zimmermann
© Georg Moritz

Ergänzt wird sie von Filmdokumenten aus den Nachlässen von Theo Lingen und Ruth Berlau. Die Schauspielerin, Regisseurin und Brecht-Freundin hat beispielsweise 1947 im Coronet Theatre in Beverly Hills eine „Galileo“-Aufführung mit Charles Laughton in der Hauptrolle auf 16mm-Filmmaterial aufgenommen. Es ist die einzige filmische Dokumentation einer Inszenierung von Bertolt Brecht im amerikanischen Exil.

Seit 2008 lagern die analogen Negative, Kopien und Umkehroriginale in verschiedenen Filmformaten nicht mehr im Brecht-Archiv, sondern in der technisch besser dafür ausgestatteten Stiftung Deutsche Kinemathek. Das im Frühjahr angelaufene Projekt der Rettung des bedrohten Brecht’schen Filmerbes ist eine Gemeinschaftsaktion der Institutionen.

Zwei Jahre lang werden die zwischen den 20er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstandenen Filme gesichtet, aussortiert, restauriert, auf stabiles Polyester-Material umkopiert und digitalisiert. Anschließend, also 2018, stehen sie dann an den elektronischen Leseplätzen im Archiv der Akademie der Künste für die Öffentlichkeit zur Verfügung. Lotto-Stiftung Berlin und Kulturstaatsministerin Monika Grütters fördern das mit einem Budget von einer halben Million Euro ausgestattete Vorhaben.

B.B. im Automobil
B.B. im Automobil
© Bertolt-Brecht-Erben

Dass die Zeit drängt, ist leicht zu riechen, wenn Filmrestauratorin Maxi Zimmermann im normal temperierten Arbeitsraum, der ein paar Etagen über dem Magazin liegt, eine Dose öffnet. Oha, ein stechender Geruch steigt in die Nase. Der Essig und die braunen Krümel, die neben dem Filmstreifen liegen, zeigen die chemische Zersetzung des alten Nitrat- und Azetatfilmmaterials an. Die nächste Rolle ist in einem weiteren Verfallsstadium angelangt: verbacken zu einer festen Masse und damit nicht mehr abspielbar. Um die darauf enthaltenen Teile des „Brecht-Dialogs“, einer an politischen Diskussionen reichen Theater-Tagung im Jahr 1968, trotzdem zu sichern, fügt sie dem Filmmaterial Weichmacher hinzu. Einmal noch lässt sich die Rolle dann abspielen und kopieren, bevor sie endgültig hinüber ist.

Bertolt Brecht hatte ein gesundes Bewusstsein für die eigene Bedeutung

Eindrucksvoll sind auch die auf dem Abziehtisch übereinander eingespannten Filmstreifen. Es sind verschiedene Kopien von Berlaus Aufzeichnung des „Galileo“ in Beverly Hills. Angetan mit weißen Handschuhen sichtet Zimmermann jede einzelne, legt die Szenen übereinander und kann durch den Vergleich der teils einkopierten Klebestellen, Flecken und Risse Fehlstellen im Material feststellen. Ein „Galileo“ misst 347 Meter Filmmeter, der andere nur 328, aufgemerkt – hier fehlt eine Filmminute! Azetatfilm schrumpft, wenn er altert.

Zimmermann ist als freie Filmrestauration, die in der Kinemathek wie im Bauhaus-Archiv häufig historisches Material für die anschließende Digitalisierung vorbereitet hat, mit vergleichenden Analysen dieser Art vertraut. Sie und die Projektleiterin Anja-Christin Remmert, die zuvor beim Kamera- und Filmhersteller Arri für Restaurierung zuständig war, sind auch schon das komplette Personal der Brecht-Rettungsaktion. Wenn die beiden von ihrer eigentlich einem technischen Vorgang gewidmeten Arbeit erzählen, wird diese zum faszinierenden Puzzlespiel. Welche Version, welche Aufführung, was für Menschen sind das?

Als Abgesandter des federführenden Brecht-Archivs hat sich an diesem Tag auch dessen Leiter Erdmut Wizisla eingefunden, der einige der hauseigenen filmischen Trouvaillen zum ersten Mal sieht und von deren kulturellem Wert selbstredend ebenso überzeugt ist wie vom Pilotcharakter des Projekts. Besonders Ersteres dürfte ganz in Bertolt Brechts Sinne sein. Der sei ein Pionier in dem Bemühen gewesen, seine Arbeitsprozesse fotografisch und filmisch zu dokumentieren, sagt Wizisla. „Er hatte ein gesundes Bewusstsein für die eigene Bedeutung.“

Brecht, Lotte Lenya und Kurt Weill
Brecht, Lotte Lenya und Kurt Weill
© Bertolt-Brecht-Erben

Und einen flotten Schritt drauf, wenn er durch den Garten läuft oder mit sichtlichem Spaß am schicken Automobil in ein davonbrausendes Cabrio springt. Das Betrachten des Dichters beim Leben hat 80 Jahre später einen eigentümlich rührend-nostalgischen Zauber. Auch wenn oder gerade weil bei den Kopien, die Zimmermann am Schneidetisch abspielt, häufig der Ton fehlt.

Brecht und Film, das ist eine unglückliche Liebe

Körner, Streifen, ein wackeliges Kamerabild, schwupps, da kommt der Brecht um die Ecke. Und das ist ja Peter Lorre! Ach, der hatte einen Bernhardiner? Das ist jetzt wieder Brecht. Einen Gast begrüßend. Wer ist denn das? Aha, Lion Feuchtwanger. Dichter unter sich. Auch in der Verunsicherung des Exils ist Brecht ganz leutseliger Hausherr, sich selbst wie der Kamera in jeder Sekunde bewusst. Was mögen er und Feuchtwanger sprechen, wie mag das Verhältnis gewesen sein? Das überlieferte Bild gibt Hinweise und kann es doch nicht sagen. Sie zu deuten, bleibt hingebungsvollen Brecht-Forschern vorbehalten, die durch die Restaurierung neue Grundlagen dafür haben.

Ein tolles, heute ausgesprochen kurios wirkendes Dokument ist der einzige Clip des Projekts, der sich jetzt schon auf der Internetseite des Akademie-Archivs anschauen lässt. Es sind 1931 in Berlin gedrehte Ausschnitte des an Dada-Aufführungen erinnernden Theaterstücks „Mann ist Mann“ mit Theo Lingen, Peter Lorre und Helene Weigel. Das erste Filmzeugnis eines Brecht-Inszenierung überhaupt und weiland als Studienmaterial in Einzelbildschaltung – eine Bild pro Sekunde – hergestellt. Die Schauspieler staksen in dieser Blaupause des epischen Theaters auf Stelzen herum und krabbeln aus einem mit abstrakten Schriftzeichen bedeckten Hohlkörper. Die 73 Filmmeter sind in drei Minuten vorbei, die damals als unerhört empfundene Modernität des Geschehens ist immer noch spürbar.

Brecht und Film, das sei eine unglückliche Liebe, weiß Erdmut Wizisla. 40, wenn nicht gar 50 Filmgeschichten habe er geschrieben, doch der Sprung ins Kino sei nicht gelungen, zu oft habe er sich mit Produktionsfirmen verkracht. Immerhin findet wenigstens Brechts filmischer Nachlass ein Happy End.

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