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Demonstranten tragen in Berlin ein Transparent mit der Aufschrift "Gegen jeden Antisemitismus" auf einer Gegendemonstration gegen den jährlich stattfindenden Al-Kuds-Tag.
© Gregor Fischer/dpa

Antisemitismus in Deutschland: Wie lange soll „Du Jude!“ noch zu hören sein?

Der Antisemitismus ist verdammt lebendig - der rechte, der linke, der muslimische. Es braucht eine neue Offensive, um ihn zu bekämpfen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

An den Schulen gebe es „starken Antisemitismus“, berichtete ein nach Deutschland gezogener Brite. „Der Ausdruck ,Du Jude!‘ wird mit einer Vehemenz ausgespuckt, die mir nicht begreiflich ist.“ Das schrieb Alexander Neill, Gründer der weltberühmten Schule Summerhill, im Jahr 1923. Neill hatte 1921, was kaum bekannt ist, in Dresden-Hellerau eine freie Schule eröffnet. Auf Reisen durch Deutschland war er zum ersten Mal im Leben Antisemitismus im Alltag begegnet.

Juli 2017, fast hundert Jahre später. Das American Jewish Committee (AJC) in Berlin veröffentlich die Ergebnisse einer Umfrage unter 27 Lehrern an 21 Schulen zu Antisemitismus in Berlin und Brandenburg. Danach ist „Du Jude“ ein gängiges Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen, besonders unter muslimischen Jugendlichen. Schüler, vor ihrem Schulgebäude befragt vom Sender N24, erklären unbefangen in die Kamera, „Du Jude!“ gehöre zum Alltag. Das werde „von Freunden so aus Spaß so gesagt, so ,Du Jude‘, so, so was wie ,Du Bastard‘, wenn man irgendwas Negatives gemacht hat.“ Ein anderer ergänzt, man höre das „tausendmal, das ist quasi normal, das ist so’n Jugendslang hier“.

Der rechte, der linke, der muslimische Antisemitismus sind in Deutschland quicklebendig

Es handelte sich nicht um eine repräsentative Umfrage. Obwohl es eine solche geben sollte, wäre sie vermutlich gar nicht nötig. Antisemitismus mäandert spürbar, hörbar weiter durch sämtliche Milieus. Belegt hatte das die Langzeitstudie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ der Universität Bielefeld – die bislang beste –, die Daten von 2001 bis 2010 erfasst. Rund 40 Prozent der Befragten fanden 2010: „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.“ Fast genauso viele hatten Verständnis dafür, wenn jemand wegen der Politik Israels „etwas gegen Juden hat“.

Vor wenigen Wochen sorgte eine Fernsehdokumentation von Arte und WDR über aktuellen Antisemitismus in rechten, linken und muslimischen Milieus für Schlagzeilen. Nicht etwa, weil die Materie diskutiert wurde. Sondern vor allem, weil der Sender den handwerklich bemängelten Film mit eingeblendeten Korrekturen der Redaktion ausstrahlte. Als beispielloser Fall war das Debakel ein weiteres Symptom für den öffentlichen Umgang mit Antisemitismus, für fehlende Diskussion, fehlendes Problembewusstsein.

Gestern, am Sonntag, warnte Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, in einem Interview mit „Bild" vor dem Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland. Für einige Bezirke von Großstädten würde er „empfehlen, sich nicht als Jude zu erkennen zu geben.“ Schuster erinnert auch an die offene Forderung des EU-Parlaments, das Amt eines Antisemitismus-Beauftragten auf Bundesebene einzurichten. „Wenn ausgerechnet Deutschland keinen Beauftragten zur Bekämpfung von Antisemitismus benennen würde“, sagte er, „wäre das ausgesprochen merkwürdig.“

Warum werden nicht alle Schulen bundesweit in Programme gegen Antisemitismus aufgenommen?

Ja. Das wäre ausgesprochen merkwürdig. Genauer: Es wäre ausgesprochen fahrlässig und verantwortungslos. Josef Schuster fordert darüber hinaus mehr Aufklärung an Schulen, besseren Schulunterricht über das Judentum. Unterricht zu Themen wie dem Nahostkonflikt sei an Schulen nahezu unmöglich, hatten die vom AJC befragten Lehrer angegeben. Dem vom AJC initiierten Programm „Demokratie stärken – aktiv gegen Antisemitismus und Salafismus“ hat Berlins Schulsenatorin zugesichert, es würden noch ein paar Schulen darin aufgenommen. Warum nicht alle Schulen, bundesweit? Und warum nicht sofort?

Öffentlich-rechtliche Sender könnten in Kooperation mit privaten wie Printmedien einen Themenmonat zum Antisemitismus schaffen, vielleicht sogar einmal ohne relativierende „Israelkritik“ im Beiboot. 1979 wurde die US-Serie „Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiß“ im deutschen Fernsehen gesendet und im ganzen Land diskutiert. Sie ist nicht veraltet, so wenig wie Claude Lanzmanns epochale Dokumentation „Shoah“. Wann wurden diese Werke zuletzt zu Hauptsendezeiten gezeigt? Hunderte guter Dokumentationen und Spielfilme zu Antisemitismus wie zum jüdischen Leben existieren, die sich für so einen Themenmonat eignen. Unterrichtsstoff würde dabei zugleich mitgeliefert.

An Alexander Neills Schule Summerhill in England kamen ein paar Jahre nach seiner Publikation über die Zeit in Dresden jüdische Schüler an, Flüchtlinge aus Deutschland, Frankreich, Ungarn. Dort war der Antisemitismus der Schulhöfe und Sportplätze an die Staatsspitze gelangt. Der Zivilisationsbruch hatte begonnen.

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