Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (15): Nacktfotos und Musik für die Ukraine
Der ukrainische Autor und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.
29. März 2022
Als mich die Nachricht erreichte, dass der Charkiwer Fernsehturm bei einer Bombardierung beschädigt wurde, musste ich an „X-Radio“ denken, den Rundfunksender, bei dem ich in den frühen neunizger Jahren arbeitete. Das war mein erster richtiger Job und wahrscheinlich die beste Zeit meines Lebens. Ich war 17 und ein leidenschaftlicher Musikfan, es gab für mich nichts wichtigeres als Musik – stundenlang täglich live im Radio aufzulegen klang nach einem wahrgewordenen Traum. Auch wenn man dafür nur 30 Dollar im Monat zahlte, war ich glücklich.
1992 stand unser kleines Häuschen direkt neben dem Fernsehturm, dort saßen wir, drei neue alternative Sender. Das war damals Exotik pur, jahrzehntelang gab es bei uns nur staatlichen Rundfunk. Plötzlich kam dieser Generationswechsel, Radio wurde von frechen jungen Menschen gemacht und die Bewohner Charkiws haben uns gefeiert. Unser Studio hatte das absolute Minimum an der Technik, die notwendig war, darunter auch zwei CD-Player.
Musikidee war schon da, fehlte nur noch der Text
CDs als Medium waren in der Ukraine noch nicht richtig angekommen, in der Stadt gab es nur einen Laden, der sie verkaufte. Beim Sender standen uns ganze 16 CDs zur Verfügung, das war ein kleiner Schatz, aber trotzdem viel zu wenig, da wir unser Programm ausschließlich mit der Musik von diesen CDs gestalten mussten.
Monatelang arbeitete ich jeden Tag und manchmal auch nachts – und so kann ich mich auch 30 Jahre später ziemlich genau an jeden Song erinnern, den wir damals spielten (weil es ja immer dieselben waren). Auch „This Garden“ von der Band The Levellers war dabei, ich mochte das Lied sehr und habe es täglich gespielt
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Letzte Woche rief mich ein alter Bekannte aus Großbritanien an. Vor vielen Jahren haben wir mit Phil Meadley eine Compilation mit osteuropäischem Funk aus den Siebzigern zusammengestellt. Phil macht Musik, sein aktuelles Projekt heißt Gaslight Troubadours. Wie so viele Musiker würde er so gern etwas tun, sagt er, am besten einen Song zur aktuellen Situation in der Ukraine aufnehmen und damit Spenden sammeln.
Eigentlich hat er schon eine ganz konkrete Idee, da fehlt nur noch der Text, er hat bereits was aufgenommen, und zwar mit dem legendären Tom Robinson sowie Jon Sevink, dem Geiger von The Levellers. Wenn mir dazu etwas einfallen würde, fände er das toll. Vor dreißig Jahren hätte ich es vielleicht nicht geglaubt, heute wundert mich gar nichts mehr.
Wenn Patti Smith auf den Konzerten in den letzten Wochen ihre englische Übersetzung der ukrainischen Nationalhymne singt, wenn der Sänger der ukrainischen Band BoomBox erwähnt, sie hätten gestern mit David Gilmour von Pink Floyd über einen gemeinsamen Song gesprochen ... alles ist möglich.
Wer zahlt für Anatolis Foto?
Mein Text für den Song von Phil, Tom und Jon ist in wenigen Stunden fertig. Ich rufe Katya Tasheva an, mit der wir oft zusammen musizieren, sie kommt vorbei und singt mit. Der Song ist fertig. Wir überlegen, wie wir unser Projekt nennen und entscheiden uns für The Anti-DicKtators.
Neulich habe ich einen amerikanischen Top-Manager kennengelernt, der in Kiew geboren wurde und heute neben seinem Job in Chicago die Lieferungen von Medikamenten und Lebensmittel sowie Evakuierung aus Städten wie Tschernihiw und Mariupol koordiniert. Unser Song soll Spenden für seine Organisation Ukraine TrustChain sammeln. Und das tut er, in drei Tagen spielte „Russian Warship (Go Fuck Yourself!)“ über 600 Euro ein.
Es fühlt sich gut und richtig an, zu spenden und Spenden generieren zu können. Als Musiker kann ich mir gerade nichts besseres vorstellen. Und ich sehe, dass viele Kollegen von mir genau dasselbe machen. Täglich finden Benefizkonzerte statt. DJs streamen ihre DJ-Sets und sammeln dabei Spenden. Bildende Künstler verkaufen ihre Werke - und spenden den Gewinn.
Gestern spät in der Nacht rief mich Anatoli an – er ist 52, kommt wie ich aus Charkiw und lebt in Erlangen. Er klingt aufgeregt – gerade hat er gelesen, dass ukrainische Erotik-Modelle eine Web-Kampagne starten: Sie schicken exklusive Nackfotos an diejenigen, die an die ukrainische Armee oder Territoriale Verteidigung spenden. „Eine brilliante Idee!“, sagt Anatoli, „ Ich überlege, auch sowas zu machen! Ich bin nicht mehr der Jüngste, vielleicht ein bisschen dick, aber es finden sich bestimmt Menschen, die bereit wären, auch für meine Fotos zu zahlen. Oder, was meinst Du?“
Lesen Sie hier die anderen Teile von Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch:
- Kateryna und die Klezmerband (Teil 14)
- Die Schlüssel der verlassenen Häuser (Teil 13)
- Unterwegs zum Konzert von Kobson (Teil 12)
- Friedensshow am Brandenburger Tor trifft Bunkerkonzert von Charkiw (Teil 11)
- Erinnerung an ein fantastisches Konzert in Mariuopl (Teil 10)
- Unsere Bar zu Schutt und Asche gebombt (Teil 9)
- Boris singt mit seiner Klasse einen Hit für den Frieden (Teil 8)
- Mein alter Kiez in Charkiw, menschenleer (Teil 7)
- Erzählt uns nichts von Kapitulation (Teil 6)
- Haus zerbombt, Kind aus Keller gerettet (Teil 5)
- Gitarre packen, sammeln, Kisten einladen (Teil 4)
- Georgiy geht in den Keller (Teil 3)
- Und dann rollen Panzer durch meine Straße (Teil 1)
Yuriy Gurzhy
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