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Yuriy Gurzhy bei der Solidaritätsveranstaltung im Schauspiel Hannover.
© Moritz Küstner

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch, Teil 4: Gitarre packen, sammeln, Kisten einladen

Der Autor und Musiker Yuriy Gurzhy kam 1975 in Charkiw zu Welt und lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.

5. März 2022

Sasha Marianna Salzmann war eine meiner ersten Freundinnen, die sich gleich in den ersten Tagen der russischen Invasion in die Ukraine bei mir mit einer konkreten Idee gemeldet hat. „Wir müssen unbedingt was machen! Schnell etwas organisieren! Spenden sammeln!!“

Kaum 24 Stunden später (ich habe das Gefühl, dass alles, wirklich alles gerade auf Fast Forward läuft) schrieb sie wieder, diesmal mit einem Terminvorschlag, Samstag, 5. März, eine Benefizveranstaltung, Schauspiel Hannover. Ich habe sofort zugesagt.

Heute, eine Woche später, packe ich meine Gitarre und überlege, was ich eigentlich spielen könnte. Ich habe kaum Songs über Krieg produziert. Eigentlich nur einen – vor anderthalb Jahren war ich im Donbass und habe im Rahmen eines deutsch-ukrainischen Projektes „Misto to Go“ ein Album zusammen mit den dort lebenden Kindern geschrieben und aufgenommen.

„Ich habe kaum Songs über den Krieg produziert“

Mein Plan war, dass wir Lieder über die fünf Orte schreiben, die unser kleines Team damals besucht hat, aber die 15-jährige Diana aus Popasna meinte, wir brauchen auch noch unbedingt einen Rap-Song über den Krieg. Diana und auch andere Kids, die bei unserem Album „Die neue Donbass Symphonie“ mitmachten, haben so vieles erlebt, was ich keinem Kind auf der Welt (und auch keinem Erwachsenen) wünschen würde.

Krieg, Du gemeine Schlampe, zu uns bist Du aus dem Bruderland gekommen Von dort haben wir Dich nicht erwartet

Yuriy Gurzhy im Schauspiel Hannover.
Yuriy Gurzhy im Schauspiel Hannover.
© Nadja Salzmann

Aus Popasna habe ich seit ein paar Tagen nichts gehört. In den Nachrichten stand gestern, dass es in der Stadt nach einem heftigen Beschuss Todesopfer und keinen Strom gibt

Medikamente für die Heimat

Am Morgen schreibt mir Alex, der aus Kiew kommt und schon seit vielen Jahren um die Ecke von mir wohnt, im Wedding. „Mein Lieber, gegen elf bräuchte ich Dich. Ein Auto kommt, hier gibt’s einige Kisten einzuladen, Medikamente für die Heimat, machst Du mit?” Ich kann leider nicht, mein Zug nach Hannover fährt 11:30 ab, aber ich rede mit meinem Sohn und er ist bereit, mich bei der Aktion zu ersetzen.

[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]

So wie mein Freund Alex ist die ganze ukrainische Diaspora gerade auf der Suche nach Medikamenten und allem anderen, was gerade in der Ukraine gebraucht wird – von Windeln über Insulin für die Diabetiker bis zu Schutzwesten für die Soldaten. In Social Media sehe ich seit Tagen nur noch Meldungen darüber, wer was hat, wer was braucht und wer was transportieren kann.

Lesen Sie hier die die anderen Teile von Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch:
Georgiy geht in den Keller (Teil 3)
„Russischer Biomüll“ ist ein neuer Begriff in der Ukraine (Teil 2)
Und dann rollen Panzer durch meine Straße (Teil 1)

„Ein Krankenhaus in Charkiw benötigt dringend eine Anästhesiestation!“, schreibt eine in Berlin lebende Landsfrau von mir. Zehn Minuten später antwortet darauf ein in Chicago lebender, aus Kiew kommender Künstler, der mich vor einem Monat fragte, wo er in Berlin seine Drag Show mit sowjetischen Liedern präsentieren könnte. Jetzt schreibt er, er werde sofort 10.000 Dollar überweisen, man solle ihm bitte die Kontonummer schicken.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus der Urkaine live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Den Berliner Hauptbahnhof habe ich noch nie so voll erlebt. Tausende Menschen auf allen Ebenen, oft koordiniert und geführt von Freiwilligen, die Ukrainisch oder Russisch sprechen.

Alle fünf Minuten werden Ansagen auf Ukrainisch gemacht. Die Züge sind überfüllt. In meinem fahren dutzende betrunkene Fußballfans mit. Ihre Welt scheint die gleiche geblieben zu sein. Sie trinken weiterhin ihr Bier und singen laut.

Der Sound von Charkiw

Abends ist der große Saal im Schauspiel Hannover voll. Viele tolle Künstler machen mit, Sasha Marianna Salzmann und Murat Dikenci, die das Ganze auf die Beine gestellt haben, moderieren. Als ich dran bin, erzähle ich von unserem Album, das wir mit Serhij Zhadan im Herbst letzten Jahres aufgenommen haben und spiele zwei Songs daraus.

[Hilfe für die Ukraine ist ein Schwerpunkt-Thema in den bezirklichen Newslettern vom Tagesspiegel, die Sie hier kostenlos bestellen können: leute.tagesspiegel.de]

Musikalisch ist es etwas ganz anderes als alles, was an diesem Abend hier erklingt. Aber das ist der Sound von Charkiw, und ich spüre, wie in dieser Musik das Herz meiner Heimatstadt schlägt. Das Haus, in dem wir das Album aufgenommen haben, wurde vor zwei Tagen von einer russischen Bombe getroffen.

Wenn ich spiele, denke ich an alle, die noch vor wenigen Monaten bei der Aufnahme mitgemacht haben. Ich weiß, eines Tages spielen wir diese Songs noch alle zusammen, auf einer großen Bühne! Ich muss es einfach glauben. Ich muss.

Yuriy Gurzhy

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