Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (14): Kateryna und die Klezmerband
Der ukrainische Autor und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.
27. März 2022
Im Januar ist mein Buch über die Suche nach dem aktuellen jüdischen Sound Deutschlands erschienen, „Richard Wagner und die Klezmerband“. Heute fühlt es sich an, als sei es schon Jahre her. Seitdem ist so viel geschehen. Ich kann gerade keine Musik mehr hören und es fällt mir schwer, über Musik zu sprechen. Das passiert mir zum ersten Mal im Leben.
Gerade läuft meine Lesereise im Rahmen der Jüdisch-Israelischen Kulturtage Thüringen. Am Samstag steige ich in Berlin in den Zug und fahre nach Weimar, dort findet die erste der fünf Buchpräsentationen statt. Bei der Fahrt überlege ich panisch, wie ich den Abend gestalten soll – ich kann mir nämlich gerade schwer vorstellen, über den jüdischen Sound in Deutschland zu erzählen, aber genau das wird dem Publikum in den schon längst erschienenen Programmheften versprochen. Ich entscheide, dass ich trotzdem auch aus meinen aktuellen Texten über den Krieg vorlesen werde. Es geht einfach nicht anders. Egal, was man von mir erwarten mag, ich kann nicht so tun, als ob sich nichts verändert hätte.
In der Other Music Academy von Weimar sind Geflüchtete untergekommen
In Weimar war ich zum letzten Mal im Sommer 2021 und habe dort ein paar Stunden mit Andrea Pancur verbracht, einer Sängerin aus München, die bayerische und jiddische Lieder in ihrem Repertoire hat, ich habe sie für mein Buch interviewt. Die Stadt war an dem Tag voll mit Polizei – es stellte sich heraus, dass eine rechte Demo angekündigt war, aber auch eine Gegendemo, die viel viel größer wirkte. Ich war beeindruckt von der Open-Air-Ausstellung „Die Zeugen“, die im Weimarer Stadtraum Großporträts von 16 Buchenwald-Überlebenden zeigte. Einer von ihnen ist mein Landsmann Boris Romantschenko. Vor ein paar Tagen wurde der 96-jährige Romantschenko bei einem Bombenangriff der russischen Armee in Charkiw getötet.
Meine Buchpräsentation findet im OMA statt. OMA steht für Other Music Academy, es ist ein Verein, der unter anderem das großartige Festival Yiddish Summer Weimar veranstaltet. Als ich letztes Jahr hier war, wurde dieses ehemalige Schulgebäude noch renoviert. Seit einigen Wochen nimmt das OMA Geflüchtete aus der Ukraine auf, bis zu 100 Menschen haben hier inzwischen eine Unterkunft gefunden.
Während im kleinen Saal die Technik für die Lesung aufgebaut wird, gehe ich kurz rüber ins OMA Café, dort wird gerade Abendessen für alle gekocht, die im Haus sind, im Moment etwa 30 Erwachsene und zehn Kinder. Manche von ihnen spielen auf dem Spielplatz, der sich direkt hinter dem OMA-Gebäude befindet, ich höre, wie sie sich laut auf Ukrainisch unterhalten.
Als ich meinen Rechner anschließe, um die Lautstärke der Boxen zu prüfen, lasse ich ein ukrainisches Lied laufen. Sofort tauchen ein paar Kinder und ein Polizist auf. Der freundliche Polizist ist da, um unsere Veranstaltung zu sichern, teilt er mit. Die Kinder wollen wissen, ob noch mehr ukrainische Musik gespielt wird. Ich rede mit einem neugierigen Fünfjährigen, erzähle ihm, dass ich aus der Ukraine komme.
„Ich auch,“ sagt er, „aber dort ist gerade Krieg“. Ein Mädchen, das nicht viel älter ist als er, fragt, warum die Polizei hier ist, ob sie vielleicht nach einer Bombe suchen. Ihre Mutter kommt rein, um sie abzuholen. Wir kommen ins Gespräch, sie heißt Kateryna, ist Kulturmanagerin aus Tschernihiw – eine Stadt, die seit Wochen heftig bombardiert wird. Ich kenne jemanden in Tschernihiw, Dmytro Kurovsky von der Band FoaHoka, er hat in den Neunzigern in Charkiw studiert und in Bands gespielt.
Lustig, Kateryna kennt ihn auch, sagt sie, auch seine Frau und Tochter, die die Stadt verlassen konnten. Katerynas Tochter möchte gehen. „Mama, ich habe Angst. Mach’, ich habe Angst“, wiederholt sie. Kateryna und ich finden einander auf Facebook, wir bleiben in Kontakt.
Von den Kapiteln aus „Richard Wagner & Die Klezmerband“ zu den Texten aus meinem Kriegstagebuch überzugehen fühlt sich an diesem Abend in Weimar ganz natürlich und richtig an. Und daraus vorzulesen tut mir gut, stelle ich fest.
Lesen Sie hier die anderen Teile von Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch:
- Die Schlüssel der verlassenen Häuser (Teil 13)
- Unterwegs zum Konzert von Kobson (Teil 12)
- Friedensshow am Brandenburger Tor trifft Bunkerkonzert von Charkiw (Teil 11)
- Erinnerung an ein fantastisches Konzert in Mariuopl (Teil 10)
- Unsere Bar zu Schutt und Asche gebombt (Teil 9)
- Boris singt mit seiner Klasse einen Hit für den Frieden (Teil 8)
- Mein alter Kiez in Charkiw, menschenleer (Teil 7)
- Erzählt uns nichts von Kapitulation (Teil 6)
- Haus zerbombt, Kind aus Keller gerettet (Teil 5)
- Gitarre packen, sammeln, Kisten einladen (Teil 4)
- Georgiy geht in den Keller (Teil 3)
- Und dann rollen Panzer durch meine Straße (Teil 1)
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
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