Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch, Teil 3: Georgiy geht nicht in den Keller
Der Autor und Musiker Yuriy Gurzhy kam 1975 in Charkiw zu Welt und lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.
2./3. März 2022
Aufwachen (wenn man überhaupt zum Schlafen kommt) bedeutet für mich seit inzwischen einer Woche, sofort mit den neuesten Nachrichten aus der Ukraine konfrontiert zu werden. Und eine gute Nachricht heutzutage bedeutet im besten Fall nur etwas weniger von den schlechten Nachrichten.
Kiew wurde bombardiert. Scheiße! Viele liebe Freunde von mir sind in der Stadt. Ich hoffe, alle haben diese Nacht überlebt. Auch in Charkiw war es turbulent. Kurz nach 22 Uhr gestern las ich, dass in der Straße des 23. Augusts, wo meine Familie im Haus 43 jahrzehntelang gelebt hat, das Haus 2 von einer russischen Bombe zerstört wurde.
Die Kinder haben sich schon an den Kriegssoundtrack gewöhnt
Ich kann mich gut dran erinnern, vor vielen Jahren dort Georgiy und seine Frau besucht zu haben. Wir haben gekifft, viel gelacht und Van Der Graaf Generator gehört. Sie sind irgendwann umgezogen, haben zwei Kinder bekommen und leben inzwischen direkt am U-Bahnhof Naukova, in einem alten grauen Haus mit fünf Stockwerken, das seit Jahren schon sanierungsbedürftig war – und hoffentlich weiterhin ist! Ich meine, ich hoffe, es steht immer noch.
Neulich musste ich an Georgiy denken, es ist schon ein paar Wochen her, ich habe eine rare Schallplatte gefunden, die ihn interessieren könnte.
Ich rufe ihn an. Obwohl wir uns das letzte Mal vor einigen Jahren gesprochen haben, scheint mein Anruf Georgiy nicht zu wundern. Er erzählt, dass er mit der Familie nicht in der U-Bahn oder im Keller übernachtet, das macht keinen Sinn, sagt er. Außerdem spielen Jugendliche in der U-Bahn oft Gitarre, er mag diese blöden Lieder nicht. Während wir uns unterhalten, kann ich im Hintergrund Geräusche hören. Seine Kinder wachen davon nicht auf, meint Georgiy, sie haben sich schnell daran gewöhnt.
Seine Kinder wachen davon nicht auf, meint Georgiy, sie haben sich schnell daran gewöhnt. Ihm fällt ein, dass er im Kinderzimmer den Fernseher ausmachen sollte, die Kids haben vorm Schlafengehen sich den Zeichentrickfilm „Phantasmagorie“ angeschaut.
[Lesen Sie hier Teil 1 und hier Teil 2 des Kriegstagebuchs.]
Ich hoffe sehr, dass Georgiys Haus stehen bleibt. Und auch das Slovo Haus 200 Meter weiter, wo ich in den letzten zwei Jahren immer wieder gewohnt habe, in der dort vor Kurzem eröffneten Residenz für Autoren und Künstler. Ende der 1920er lebten im Slovo Haus die coolsten Autoren des Landes. „Die Hingerichtete Renaissance“ – so nennt man sie heute, die Mehrheit der Bewohner wurde in den 1930ern erschossen.
In Stalins UdSSR gab es keinen Platz für innovative ukrainische Literatur.
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Im September 2021 saßen wir im ersten Stock des Slovo Hauses mit dem Autor und Musiker Serhij Zhadan und lasen Gedichte von den Menschen, die hier 90 Jahre vor uns gelebt haben. Neun davon haben wir ausgesucht und daraus das Popalbum „Foxtrotte“ gemacht. Serhij hat die Texte eingesungen, ich habe dazu Musik gemacht.
Tagelang habe ich unterschiedliche O-Töne dafür gesammelt – im Charkiwer Literaturmuseum nahm ich das Geräusch der Druckmaschinen auf, in der Literaturresidenz das Quietschen der Türen und des Fußbodens. Ich stand vor der Haustür mit einem Mikro und den Kopfhörern und versuchte, den Klang der Straße aufzunehmen.
Mehr zum Krieg in der Ukraine bei Tagesspiegel Plus:
- Hacker gegen Putin: „Das kann sehr schnell sehr gefährlich werden“
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Heute klingen Charkiwer Straßen anders. Explosionen, fliegende Raketen, Sirenen … seit ein paar Tagen sind sie Elemente des neuen Alltagssoundtracks von so vielen ukrainischen Städten. Am Tag und in der Nacht, 24/7. Ein neues Meme, das der ukrainische Musiker Yurko Yurchenko postet, besteht aus nur einem Satz, ein überraschendes Zitat aus dem alten Song „Soll ich …?“ der russischen Rockqueen Zemfira, die für ihre depressiven Liebesballaden bekannt ist.
In diesem Lied von 2001 zählt sie auf, was sie alles für ihre Liebe machen würde. „Magst du vielleicht Orangen? Sonne statt Lampe? Oder soll ich dir was Schönes erzählen?“ Und dann der Satz, den Yurchenko zitiert, der in der heutigen Ukraine eine ganz andere Bedeutung bekommt: „Soll ich die Nachbarn umbringen, die deinen Schalf stören?“ Auf den Bildern der letzten Tage sieht man Yurko Yurchenko in Militäruniform mit einem Gewehr in der Hand. Ähnliche Fotos gibt es auch von anderen ukrainischen Musikern, die ich kenne. Eigentlich von fast allen.
Ukrainer fühlen sich nicht wie ein Brudervolk der Russen.
Und wenn mich deutsche Musikjournalisten, die sich plötzlich für Musik aus der Ukraine interessieren, nach den neuesten Songs aus meiner Heimat fragen, muss ich sie leider enttäuschen, denn die Kulturschaffenden des Landes haben gerade etwas anderes zu tun. Im Gegensatz zu ihren Kollegen aus dem Reich der Entnazifikatoren, wie es aussieht: Heute erreicht mich die Botschaft einer Band aus St. Petersburg, die oft auch auf deutschen Bühnen auftritt. “Wir sind Musiker," schreiben sie. "Unsere Mission ist es, Musik zu machen. In unserem neuen Video spielen wir zwei Songs zusammen als Medley, und zwar den ukrainischen Hopak sowie den russischen Volkstanz Kamarinskaya - weil sie einfach cool zusammen klingen”.
Wenn ich das lese, fällt mir ein, dass diese eigentlich ganz netten Jungs, ohne es zu wissen, gerade kurz und knapp das zusammengefasst haben, was falsch ist am russischen Bild vom Verhältnis der beiden Länder: Ukrainer fühlen sich nicht wie ein Brudervolk der Russen. Umso weniger (noch weniger?!) in dem Moment, wo Tausende russische Soldaten in die Ukraine kommen und deren Bürger und Städte physisch vernichten.
Yuriy Gurzhy
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