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Galia (links) und ihr Chor. Ihre Tochter Polina ist die 2. von rechts.
© privat

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch, Teil 5: Haus zerbombt, Kind aus Keller gerettet

Der Autor Yuriy Gurzhy kam 1975 in Charkiw zur Welt und lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch. 

7. März 2022
Ich glaube, gestern bei der Demo am Bebelplatz in Berlin habe ich fast alle gesehen, die ich in dieser Stadt kenne. Jung, alt, Deutsche, Ukrainer, Amerikaner, Spanier, Russen, alle waren da. Der belarussische Volny Chor und ich waren für Musik zuständig. Ich musste dreimal spielen und habe mich, genauso wie am Abend davor im Schauspiel Hannover, für die Songs aus unserem gemeinsamen Album mit Serhij Zhadan entschieden.

Es ist ein sonderbares Gefühl, auf einer Bühne in Berlin zu stehen und diese Lieder zu singen – zusammen mit anderen Stimmen, die nicht mit dabei sein können, sondern vom Playback erklingen. Für meinen dritten Auftritt habe ich eine Nummer ausgesucht, die Serhij und ich bei der Premiere unseres Albums im November 2021 im Kiewer Mystetskyi Arsenal als Zugabe performten. Es war eine Improvisation – ich hatte ein halbfertiges HipHop-Stück aufgelegt, Serhij fand ein passendes Gedicht dazu.

Der Mut der Grenzsoldaten

Diesmal aber war ich alleine für den Textauswahl zuständig und entschied mich für die ganz einfachen Parolen, und zwar für „Flugverbotszone jetzt!“ sowie für den Spruch, mit dem die 13 Grenzsoldaten der ukrainischen Schlangeninsel vorletzte Woche dem russischen Kriegsschiff begrüßt haben, als sie aufgefordert wurden, sich zu ergeben – „Russisches Kriegsschiff, fick dich!“. Dieser, so kurzer, aber so ausdrucksstarker Satz ist schlagartig zu einem Meme geworden, man sieht und hört ihn in den letzten Tagen überall.

Früh am Morgen sehe ich als erstes ein kurzes Video von Zhadan, gefilmt in Charkiw in der Literaturstraße, die gerade bombardiert wurde. Nur 10 Sekunden, aber es ist herzzerbrechend. Das Haus Slovo, von dem ich vor ein Paar Tagen geschrieben habe, wurde auch getroffen. Ich denke an meine Zeit dort, an alle, die ich bei meiner Recherche und bei der Arbeit am Album letztes Jahr getroffen habe….es fühlt sich wie gestern an! Ich schreibe darüber bei Facebook und tagge unter anderen auch Galia, die bei den Albumaufnahmen mit ihrem fünfköpfigen Kinderchor dabei war. Ihre Tochter Polina machte auch mit. Ein Paar Minuten später schreibt sie mir. Ich frage:

– Galia, wie gehts Euch?!

– Wir sind inzwischen in Sicherheit, Gott sei Dank! Aber Mascha aus dem Chor, sie hat auch bei den Aufnahmen mitgemacht, erinnerst Du Dich, die Kleine? Ihr Haus wurde von einer Bombe getroffen, man musste ihre Mutter und sie aus dem Keller retten. Auch den Palast der Arbeit, wo das Aufnahmestudio war, haben sie richtig platt gemacht. Wir warteten eine Woche lang, aber nachdem eine Rakete das Haus gegenüber von uns getroffen hat, wusste ich, wir müssen jetzt ausreisen.

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Es war schrecklich, der Bahnhof war so mega voll, die Leute drehten durch, Polina ist runtergefallen und zwischen den Zug und das Gleis geraten. Mir hat man erzählt, dass die Eltern jetzt am Bahnhof ihren Kindern sagen „Du musst bitte meine Hand ganz fest halten, sonst fällst Du runter wie DAS MÄDCHEN!“ Im Zug haben die Kinder dann im Durchgang auf dem Boden geschlafen.

Lesen Sie hier die die anderen Teile von Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch:

Mehr und mehr ukrainische Freunde von mir, Musiker und Autoren, posten auf Social Media ihre Bilder, auf denen sie Gewehre in der Hand halten. Wenn ich lese, dass man in Deutschland sagt, an diesem Krieg sei Putin und nicht Puschkin schuld und man ganz klar differenzieren müsse und die russische Kultur hier nicht verurteilen dürfe, wird mir schlecht.

Während es in Deutschland Menschen gibt, die sich ernsthaft Sorgen um Tolstojewski machen, kämpfen lebende Schriftsteller der Ukraine auf ihren Straßen. Retten wir die Ukraine, und lasst uns über Puschkin nach dem Sieg sprechen, okay?

Yuriy Gurzhy

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