Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch, Teil 9: Unsere Bar zu Schutt und Asche gebombt
Der ukrainische Autor und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.
15. März 2022
Genau erklären kann ich es nicht, nur bestätigen – Ernest Hemingway war einer der populärsten Autoren in der Sowjetunion der 1970er. Es gab dieses Fotoporträt von ihm, es war überall, auch bei uns zu Hause hing es lange. Als ich ganz klein war, habe ich gedacht, es sei mein Opa väterlicherseits, den ich nie kennengelernt habe. Ich war verwirrt, als ich es dann in den Wohnungen von den Freunden meiner Eltern sah. „The Old Man And The Sea“ haben wir an der Charkiwer Uni im Original gelesen.
Als ich im Januar 2014 in meiner Heimatstadt war, hat mich Serhij Zhadan nach einem langen kalten Abend auf dem Maidan in eine neue Bar um die Ecke eingeladen. Sie hieß „Starik Hem“ – Der Alte Hem. In den letzten Jahren war ich immer wieder dort mit alten und neuen Freunden und musste jedes Mal lachen, als ich das bekannte Foto vom alten Hem sah.
Olga aus St. Petersburg wohnt in Berlin und ist sagt, sie sei unpolitisch
Gegenüber vom „Starik Hem“, auf der anderen Straßenseite steht das Haus, in dem mein Onkel Jan Garber lebte – ein Jude, der ukrainische Philologie studiert hat, wie ein französischer Schauspieler aussah und jahrzehntelang im Charkiwer Kunstmuseum arbeitete, wo seine Führungen auf Russisch und Ukrainisch sehr beliebt waren. Ich muss gerade an ihn denken – wenn er heute gelebt hätte, was hätte er dazu gesagt?
Ich weiß, was er von seinem Balkon im dritten Stock heute sehen würde – das Haus, in dem „Starik Hem“ war, gibt es nicht mehr. Auf den Bildern, die ich heute früh bekommen habe, wirkt diese Lücke in der ordentlichen Häuserreihe so unnatürlich. Wie ein gezogener Zahn. Absurd. Unfassbar. Unvorstellbar. Das Haus ist einfach weg. Nichts als Schutt und Asche. Mir fällt ein, dass in der Parallelstraße jemand lebt, den ich kenne. Als ich ihm eine Nachricht schreiben möchte, meldet sich mein Handy.
[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]
Es ist Olga. Kennengelernt haben wir uns 1996, bei meinem ersten Besuch im Prenzlauer Berg bin ich zufällig bei ihrem Konzert gelandet. Sie kommt aus St. Petersburg. Ich musste neulich an sie denken, genauer gesagt, an ihren Vater, einen Musikprofessor, den ich 2011 getroffen habe. Wir sind damals auf der Schönhauser Allee aneinander geraten – Olga, ihr Vater, ich.
Ich hatte eine Tragetasche in der Hand, die mir wenige Tage zuvor beim Konzert als Geschenk auf die Bühne geworfen wurde – von meinen Antifa-Fans, vermute ich, denn drauf war eine lustige Zeichnung, eine Variation auf die „Good night, white pride“-Motive, aber diesmal mit dem Wolf und dem Hasen aus der bekannten sowjetischen Zeichentrickserie, die das Hakenkreuz entsorgen. Die Aufschrift dazu war auf Ukrainisch und lautete „Gute Nacht, du Stück Nazi-Scheiße!“
Als Olgas Vater meine Tasche sah, wurde er plötzlich wütend. „Das geht gar nicht, das ist doch anti-russisch!“ – regte er sich auf und ich konnte gar nicht nachvollziehen, wie er das meinte, was es überhaupt mit Russland zu tun hatte. Erst Jahre später, nach dem Maidan und der Krim-Okkupation, ist mir klargeworden, dass der anti-ukrainische Propagandakrieg Russlands schon viel früher begonnen hat.
Lesen Sie hier die anderen Teile von Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch:
- Boris singt mit seiner Klasse einen Hit für den Frieden (Teil 8)
- Mein alter Kiez in Charkiw, menschenleer (Teil 7)
- Erzählt uns nichts von Kapitulation (Teil 6)
- Haus zerbombt, Kind aus Keller gerettet (Teil 5)
- Gitarre packen, sammeln, Kisten einladen (Teil 4)
- Georgiy geht in den Keller (Teil 3)
- Und dann rollen Panzer durch meine Straße (Teil 1)
Heute meldet sich Olga bei mir mit der Frage, wie man Geld in die Ukraine überweisen kann. „Es ist schlimm, ganz schlimm, schlimm für alle, Yura, dieser Krieg trifft jeden!“ – ich kann hören, dass sie sehr aufgeregt ist, sie schreit fast, ich muss die Lautstärke anpassen. „Ich wohne seit 1992 hier, habe aber nach wie vor einen russischen Pass, sie können meine Aufenthaltserlaubnis zurückziehen! Meine Eltern kommen aus Odessa und Mariupol, sie sitzen in Moskau und machen sich solche Sorgen um alle Verwandte dort, Du kannst es Dir nicht vorstellen! Ich möchte ihnen Geld schicken, aber wie schickt man Geld in die Ukraine? Du kennst mich, Yura, ich hielt mich immer fern von der Politik, ich bin apolitisch, ich spiele Klavier, ich singe, das mache ich! Ich bin nicht mal in die Botschaft wählen gegangen, weißt Du?“
Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll. Ich sage, ich frage meine ukrainischen Freunde, welche Geldtransfer-Dienste sie nutzen.
Yuriy Gurzhy
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