Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch, Teil 6: Erzählt uns nichts von Kapitulation
Der Autor und Musiker Yuriy Gurzhy wurde 1975 in Charkiw geboren und lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.
9. März 2022
Wenn ich nachts nicht schlafen kann (und wie bei vielen Ukrainern bedeutet es gerade sehr oft), muss ich Nachrichten lesen. Einschläfernd ist es nicht, im Gegenteil – nach ein Paar Minuten ist die Wirkung stärker als eine Dose Red Bull, die Müdigkeit ist weg. Nicht immer, aber manchmal hilft mir dann Musik.
Ich liege im Bett und höre eine Playlist, manchmal kann ich dabei einschlafen. Heute spielt Spotify plötzlich meine eigene Musik, die „Neue Donbass Symphonie“, das Album, was vor eineinhalb Jahren in der Grauen Zone in der Ost-Ukraine entstand. „Wir haben nicht so viel Zeit/ Also gib mir mehr Bass/ Das ist die Neue Symphonie vom Donbass!“
"Das Haus ist einfach zusammengeklappt", schreibt Ania
Mit den Teenagern, die im Herbst 2020 diese Songs mitgeschrieben und eingesungen haben, versuche ich so gut es geht im Kontakt zu bleiben. Sie sind in ihren Städten und Dörfern im Donbass geblieben, in den letzten zwei Wochen gibt es dort oft keinen Empfang. Ich mache mir Sorgen.
Ania meldete sich gestern Abend, von ihr gab es ein paar Tage lang nichts zu hören. „Voll krass“, schrieb sie mir über Instagram, wo sie normalerweise, wie viele ihrer Zeitgenossinnen, Fotos davon postet, wie sie mit Make-Up experimentiert oder in einer Disko mit Freundinnen abgeht. „Stell Dir vor, eine Bombe hat direkt das Haus getroffen, wo die Frau meines Vaters mit Kindern lebte, das Haus ist einfach zusammengeklappt, sie ist tot! Meine zwei Halbbrüder haben es geschafft, rauszukommen, einer ist am Auge verletzt. Aber es ist ein Wunder, dass sie überhaupt leben!“ Ich frage sie, wo ihr Vater gerade ist. Er lebt in Russland, antwortet sie.
Als ich gegen fünf mit den Einschlafversuchen fertig bin und meinen Espressokocher auf den Herd stelle, rieche ich in meiner Küche etwas Fremdes, aber dann erinnere ich mich – das ist der Duft des deutschen Fernsehens, gestern hatte ich wieder ein Fernsehteam empfangen. Fünf Leute, zwei Kameras. Es stellte sich heraus, dass die Journalistin, dich mich interviewen sollte, um die Ecke wohnt. Mein Gesicht kam ihr bekannt vor. „Sind wir uns vielleicht schon bei der Elternversammlung in der Schule begegnet?“, fragte sie.
Nach dem Interview mit den Fragen, die gerade jeder mir und anderen in Deutschland lebenden Ukrainern stellt, sagt sie im Flur: „Mannomann, ich hoffe sehr, dass die Ukraine jetzt kapituliert“. Wenn es zur Zeit etwas gibt, was man den Ukrainern auf keinen Fall sagen darf, dann ist es genau dieser Satz.
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In den Nachrichten heute sieht man die Bilder vom zerbombten Geburtshaus in Mariupol. Seit zwei Wochen inzwischen sagen wir so oft wie noch nie – „unfassbar“, „unvorstellbar“, „herzzerbrechend“ und dann kommt etwas, was noch unfassbarer, unvorstellbarer ist. Etwas, was man nun gar nicht verarbeiten kann.
Denazifizierung?! Spezielle militärische Operation? Es ist höchste Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen, wir haben es hier mit einem Genozid zu tun! Putins Krieg?! Nein, das ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine! Ein brutaler, sinnloser Monsterkrieg! Tausende russische Soldaten haben in diesen zwei Wochen ihren Tod in der Ukraine gefunden. Putin war nicht dabei – leider!
Meine sechs Jahre alte CD stößt plötzlich auf Interesse
Vor sechs Jahren habe ich eine Compilation mit neuer ukrainischer Musik zusammengestellt. Es hat sich für mich richtig angefühlt. Achim Bergmann und Eva Mair-Holmes, die Chefs von Trikont, der ältesten unabhängigen Plattenfirma Deutschlands, waren damals die Einzigen, die diese CD veröffentlichen wollten. Sie waren von den Songs und vom Thema begeistert.
Wir haben damals mit großen Interesse der Presse gerechnet – schließlich präsentierten wir tolle, in unserem Land völlig unbekannte Musik aus einem Land, was ganz viel durchmachen musste– die Maidan-Proteste, die Okkupation der Krim, den Krieg im Donbass. Aber die Reaktion hielt sich in Grenzen. Viele Journalisten meinten, das Thema ist ihnen zu heiß. Sie waren sich nicht sicher, ob sie es hier nicht mit ukrainischen Nationalismus zu tun hätten.
Heute bekomme ich täglich vier bis fünf Anfragen, die deutschen Journalisten möchten mit mir gern über „Borsh Division – Future Sound Of Ukraine“, meine CD von 2016 reden.
Lesen Sie hier die anderen Teile von Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch:
Haus zerbombt, Kind aus Keller gerettet (Teil 5)
Gitarre packen, sammeln, Kisten einladen (Teil 4)
Georgiy geht in den Keller (Teil 3)
„Russischer Biomüll“ ist ein neuer Begriff in der Ukraine (Teil 2)
Und dann rollen Panzer durch meine Straße (Teil 1)
Yuriy Gurzhy
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