Berlinale-Bilanz: Die Rückkehr des Genre
Triumph für China, Trost für die Deutschen - doch Favorit „Boyhood“ geht leer aus: Die 64. Berlinale war ein solides - und ein globales - Festival. Nur eine Jury-Entscheidung war ärgerlich: Der Preis für das "innovativste" Werk.
Jurys machen ihr eigenes Ding, sie scheren sich nicht um das – seltene – Glück der stets kritischen Kritikermasse und ebenso wenig um das Publikum. Das war vor zwei Jahren in Berlin so, als der spröde Gefängnistheaterfilm „Cesare deve morire“ der betagten Brüder Taviani zum weiträumigen Erstaunen der Cineasten den Goldenen Bären gewann. Nun, gestern Abend im Berlinale-Palast, war die Verwunderung zeitweise noch größer. Ausgerechnet der 91-jährige Alain Resnais holte für seine fraglos feine Boulevard-Petitesse „Aimer, boire et chanter“ den ausdrücklich für „neue Perspektiven“ der Filmkunst reservierten Alfred-Bauer-Preis. Dabei gehören karg ausgestattete theatrale Filme seit jeher zu seinen Markenzeichen – schon „Smoking/No Smoking“ lief 1994 im Wettbewerb der Berlinale.
Doch wozu lachen oder schimpfen, zumal der Goldene Bär für „Black Coal, Thin Ice“ des Chinesen Diao Yinan als zumindest respektable Entscheidung gelten darf. Sein vertrackter und zugleich eleganter Film Noir um die Passion, die einen Ex-Polizisten an die so schöne wie mysteriöse Angestellte einer Reinigung bindet, ist blutiges Genre-Stück, Sozialporträt der chinesischen Provinz und leidenschaftliches Drama in einem. Und er steht für ein ästhetisch erstarktes chinesisches Kino, das zwischen kleinen, unterm Radar der Zensur entstehenden Filmen und bombastischen Helden-Epen in einem boomenden Heimatmarkt erfolgreich neue Wege sucht. Allein drei der acht Bären gingen nach China, den Rest mussten sich die USA, Japan, Frankreich und Deutschland teilen. Wobei der schlichte Regiepreis für Richard Linklater und seinen „Boyhood“, den herausragenden Film dieser 64. Berlinale, ganz besonders verwundert. Aber davon später.
Auf der 64. Berlinale bevölkerten Kinder und Jugendliche die Leinwände
Immerhin hob die Jury mit „Black Coal, Thin Ice“ den mit Abstand besten einer ganzen Reihe von Genrefilmen aufs Podest, die das Gros des Wettbewerbs ausmachten. Zahlreiche eher schwächere Thriller bewarben sich um die Preise – etwa „No Man’s Land“, ebenfalls aus China, der es sich bei aller formaler Rasanz bald in einem epigonal öden Leone-Tarantino-Setting bequem machte. Oder der norwegische „Kraftidioten“: als „Fargo 2“ gestartet, als Flokati gelandet. Oder „Stratos“ aus Griechenland, der sich 137 Minuten lang in quälenden Manierismen verfing.
Derlei Filme, die im vorgegebenen Genre-Rahmen nur bewährte Knöpfe zu drücken suchen, haben im, Wettbewerb eines A-Festivals nichts verloren. Da beeindruckten, die Konventionen eines anderen beliebten Genres variierend, die Coming-of-Age-Filme weitaus stärker. Statt in den imposanten Weiten von Sand- und Schneewüsten, in denen die bedrängten Helden der Blut-Opern zu überleben trachten, siedeln diese klaustrophobischen Studien an Stadträndern oder unter bleigrau gottfernem Himmel – als rettete nichts und niemand die Menschheit aus immer bedrängenderer Seelen-Enge: die Natur, also auch ihre eigene Natur, am allerwenigsten.
Ob „Jack“ oder „Kreuzweg“ (Dietrich Brüggemanns starker Film wurde als einziger der vier deutschen Konkurrenten überhaupt ausgezeichnet, mit dem Drehbuchpreis), ob „La tercera orilla“ aus Argentinien oder das sensible Flüchtlings-Porträt „Macondo“ aus Österreich: Kinder und Jugendliche bevölkerten die Festival-Leinwände, auch in Hauptrollen, souverän wie selten zuvor. Meist tasten sie mit stoischer Energie die Wände ihrer unheiligen Familien, ihrer Doppel- und Rumpffamilien ab, bis sich denn doch eine Tür auftut – und sei es, wie im schlimmen „Kreuzweg“-Fall, hinaus in den Tod.
Gerade an den chinesischen Teilnehmern sieht man die neue Lust auf's Genre
Der Rückzug ins Genre: Für die Berlinale bedeutet er, auch strukturell, eine Notlösung. Er brachte eine Reihe erneut eher absonderlich anmutender Wettbewerbseinladungen mit sich, was durch einen glanzvollen Beginn (Wes Andersons Eröffnungsfilm „The Grand Budapest Hotel“ wurde von der Jury großzügig mit dem Großen Preis der Jury belohnt) und ein feines Finale ausgeglichen wurde. Dennoch täuscht der insgesamt solide Gesamteindruck nicht darüber hinweg, dass der Berlinale schon seit längerem jene Regiekünstler abhanden kommen, die sich mit ihren Werken immer wieder neu in die Filmgeschichte einschreiben. Da mag sie als Publikumsfestival – mit 330 000 verkauften Karten wurde wieder ein Rekord aufgestellt – von Jahr zu Jahr schöner reüssieren.
Es gibt allerlei Stimmen, die sie ausschließlich deshalb unermüdlich loben. Und mancher wollte wohl am liebsten den Wettbewerb abschaffen – und den von Jahr zu Jahr schmerzhafteren Vergleich mit Cannes gleich mit. Nur würde die Berlinale, derzeit noch mit gewaltiger internationaler Medienaufmerksamkeit verwöhnt, dann schnurstracks in die Bedeutungslosigkeit stürzen. Denn das eindrucksvollste Publikumsfestival der Welt gibt es bereits – im kanadischen Toronto, einer Berlin durchaus ähnlichen multikulturellen Millionen-Metropole. Die Festivalmacher dort können sich, weil ihnen die big names aus Hollywood die Bude einrennen, sogar entspannt den Verzicht auf einen Wettbewerb leisten.
Seltsam ist, dass die Jury die innovative Wucht von "Boyhood" übersah
Vor diesem Hintergrund ist es umso schwerer verständlich, dass die Jury „Boyhood“, gemessen an der innovativen Wucht des Films, nahezu übersah. Zumindest formal ist auch er insofern ein Genrefilm, als er das Heranwachsen eines Geschwisterpaars über zwölf Jahre verfolgt; nur weitet sich hier der Blick schon deshalb, weil die Nöte der an ihren Biografien herumbastelnden Erwachsenen nirgendwo wegharmonisiert werden. Von der unerhörten Wirkung dieses homogenen Langzeit-Fiction-Experiments mit immerselbem Schauspiel-Team zu schweigen.
Dieses Ausnahme-Werk verwandelte schlagartig die Wahrnehmung des gesamten Berlinale-Jahrgangs. Plötzlich entsprachen sogar die für dieses Festival so ungewöhnlich frühlingsnahen Temperaturen einer geradezu frisch verliebt verzauberten Stimmung. Selbst die Tatsache, dass „Boyhood“ unlängst bereits auf dem Sundance-Festival Kritiker und Publikum begeistert hatte und mithin nur mehr eine internationale Premiere zu beklatschen war, tat dem Jubel keinen Abbruch. Schon möglich aber, dass exakt diese Vorgeschichte seitens der Jury zum Punktabzug führte.
Was bleibt sonst von der 64. Berlinale? Ein Hauch von Kosslick-Dämmerung, ganz normal nach 13 Jahrgängen, dem Eintritt ins Rentenalter und angesichts eines Vertrags, der 2016 ausläuft. Längst hat sich der umtriebige Impresario spürbar von der allzu offensiven Spaßmacherrolle gelöst, mit der er anfangs nur zu gerne identifiziert wurde. Nur hat er es versäumt, sie durch substanziell anderes zu ersetzen – und auch einen Nachfolger – oder eine Nachfolgerin? – baut er nicht sichtbar auf. Auf Chef-Ebene ist der Filmfestzirkus, ob in Cannes, Venedig oder Toronto, eine reine Männerbastion. Dabei hat die Berlinale starke Frauen, einstweilen in den Nebensektionen Perspektive Deutsches Kino und für den Kurz- und Kinderfilm. Und kluge Fachfrauen gibt es in der Branche ohnehin überall.