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Drei Drehtage im Jahr begleitete Linklater den siebenjährigen Ellar Coltrane beim Heranwachsen - seit 2002
© Berlinale

Filmkritik: "Boyhood": Das Leben, nichts anderes

Der muss den Bären holen: Richard Linklaters grandioser Langzeitspielfilm „Boyhood“ ist das Ereignis des Festivals. Zwölf Jahre lang drehte der Regisseur mit Schauspielern ein Coming-of-Age nach. Da werden aus iMac bald iPhones - und aus Jungs werden Männer.

Es gibt Filme, die knipsen mit einem Mal alles andere aus. Das können Festivals sein, deren Wettbewerb sie ihren Stempel derart aufdrücken, dass sie locker an allen möglichen Favoriten für die Palmenlöwenbären oder sonstige Glitzerreliquien vorbeiziehen. Das ist die noch relativ häufige Variante.

Weitaus seltener kommt es vor, dass, kaum ist der Film auf der Welt, das bisherige Gesamtwerk eines Regisseurs nur mehr wie die Summe notwendig inspirierender Vorarbeiten wirkt. Auch das hat Richard Linklater, wie es so seine Art zu sein scheint, soeben mit links geschafft. Diese präparierenden Stilübungen heißen, seit die Berlinale seinen „Boyhood“ feiert: „Before Sunrise“, „Before Sunset“ und „Before Midnight“ – die über 18 Jahre sich erstreckende, in Wien, Paris und Griechenland spielende Liebestrilogie mit Julie Delpy und Ethan Hawke. Schon hier war Linklater mit sanft alternden Schauspielern und deren erfundener gemeinsamer Geschichte dem Leben selbst hinreißend präzis auf der Spur.

"Boyhood" fügt der Filmgeschichte noch nie Gesehenes hinzu

Manchmal aber knipsen Filme vielleicht nicht gleich die mittlerweile 120 Jahre alte Filmgeschichte aus, fügen ihr aber so noch nie Gesehenes hinzu. Von 2002 bis 2013 drehte Richard Linklater an insgesamt sensationell wenigen 39 Drehtagen mit den immerselben Hauptdarstellern Szenen aus der Geschichte zweier Kindheiten und Jugenden sowie mehrerer Ehen und Patchworkfamilien. Langzeitdokumentationen gibt es bereits – von Winfried und Barbara Junges Reihe „Die Kinder von Golzow“ bis zu Michael Apteds britischer TV-Doku-Serie „Up“. Wie aber muss man nun Linklaters Genregründung und Chronik eines imaginierten Alltagslebens nennen: Langzeitfiction?

Das Ergebnis ist 164 Minuten kurz und, gelinde gesagt, fantastisch. Ohne hyperpräzise Dateninserts erzählt sich die Geschichte von Mason (Ellar Coltrane) geschmeidig von den Anfängen der Schulzeit bis zum College voran; neben dessen titelgebender „Boyhood“ aber bildet Linklater auch die Girlhood seiner wenige Jahre älteren, von Linklaters Tochter Lorelei dargestellten Filmschwester ab. Und die frühe bis ziemlich mittlere Adulthood beider Eltern (Ethan Hawke und Patricia Arquette) sowie deren zeitweiliger Lebens- und Ehegefährten. Hinzu kommen (Stief-)Großeltern, Freunde – und, für die Jugendlichen, die ersten bis anderthalbten großen Lieben.

So leicht könnte sich, auch bei knapp drei Stunden Laufzeit, ein Regisseur verzetteln, der mal eben das Leben und nichts anderes erfinden und ins Bild setzen will. Doch fügt sich „Boyhood“ zu so etwas wie der ultimativen Version aller Coming-of-Age- und Coming-of-Elder-Age-Filme: wunderbar komisch immer wieder und oft zum Heulen schön. Moment mal, haben wir da eben, nur zart beschleunigt und noch zarter fiktionalisiert, ein Jahrdutzend aus unser aller Realzeit verstreichen sehen?

Vom Gameboy zur Wii, vom Pontiac zum Minivan

Am einfachsten noch lässt sich das anhand der Gegenstände erzählen: vom grün schimmernden iMac zum iPhone, von den Lingerieseiten in Versandhauskatalogen zum Internetporno, vom coolen schwarzen Pontiac GTO, den der Vater dem Sohn zum 16. Geburtstag verspricht und dessen Erlös dann doch für den Erwerb eines Neufamilienminivans benötigt wird; vom Gameboy zur Wii, zu Facebook und Facetime – nur das Facelift ist auch bei sachte dahinalternden Papa und Mama noch nicht so recht dran.

(Noch-)Kind-Darsteller Ellar Coltrane in der zwölf Jahre langen Beobachtung "Boyhood"
(Noch-)Kind-Darsteller Ellar Coltrane in der zwölf Jahre langen Beobachtung "Boyhood"
© Berlinale

Und schon verfilzt sich die Story der Dinge großartig unentfilzbar mit der Geschichte ihrer Besitzer und Wegwerfer und Vergesser – so wie Lebensabschnittspartner ausgetauscht werden und auch die erste heftige Passion einer vorsichtigeren und vielleicht nachhaltigeren Annäherung Platz machen muss. Eindrücklicher noch erzählt „Boyhood“ davon, wie Trennungen überhaupt das Menschwerden prägen: von der definitiven Trennung der Eltern bis zur – zumindest räumlichen – Trennung von den Eltern. Und am schmerzhaftesten und beiläufigsten davon, wie man sich von eigenen Lebensentwürfen trennt: So wandelt sich der lose Vogel von Songwriter-Jungvater zum angepassten Versicherungsangestellten. Nur bleibt er sich der eigenen Veränderung(en) selbstironisch bewusst – und solange Mason und Samantha auch hier nur genau genug hinschauen, ist für den sogenannten Ernst des Lebens die halbe Miete.

Manches spricht dafür, dass der inzwischen 53-jährige Richard Linklater, geboren in Houston, Texas, und mit Mitte zwanzig umgezogen nach Austin, wo er auch heute lebt, seine eigene Boyhood mitverfilmt: das Heranwachsen eines Jungen, der vorm Highschool-Abschluss erste Erfolge als Kunstfotograf feiert – bei einem Auftrag knipst er nicht das Footballspiel, sondern hinauf in die Ränge. Und der seinen fernen, nahen Versicherungsvertretervater nie aus dem liebenden Blick verliert. Was niemanden hindern sollte, jeweils eigenen Zugang zu diesem konkreten Familienmikrokosmos zu finden, der nichts Geringeres ist als der Makrokosmos modernen Zusammenlebens überhaupt. Labyrinthisch zahllos sind diese Zugänge; darf man so weit gehen, zu sagen: Wer sich darin nicht verfängt, der hat noch nicht gelebt?

Nebenbei: Vielleicht verschafft der sensationelle Auftritt des Berlinale-Stammgasts Richard Linklater auch dem Festival selbst ein Happy End. Jetzt muss nur noch der Bär her.

14.2., 10 Uhr, (HdBF), 12.30 & 16.30 sowie 16.2., 21 Uhr (Friedrichstadt-Palast) 

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