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Laia Costa, Frederick Lau und Filmemacher Sebastian Schipper freuen sich über die Lolas für "Victoria".
© dpa

Lola: Das Beben von Berlin

Jung, sportlich, geschichtsvergessen: Wofür die Sieger – und die Verlierer – des 65. Deutschen Filmpreises stehen.

Der Star des Abends ist nicht der strahlende Sieger Sebastian Schipper, auch nicht der schon früh gutgestimmt abgefeierte Massenunterhalter Til Schweiger, sondern Michael Gwisdek. In bester „Ein älterer, aber leicht besoffener Herr“-Manier des legendären Kurt Tucholsky tänzelt der 73-Jährige, der eigentlich den Hauptdarstellerpreis anmoderieren soll, auf die Bühne – und legt dann in schönstem Berlinerisch zehn Minuten lang eine perfekt improvisiert scheinende Performance hin, die sich gewaschen hat: Getarnt als brüllkomische Inszenierung eigener Schauspielereitelkeit, schraubt sich sein Solo in eine verzweifelt verächtliche Neidtirade auf die jungen Nominierten hinein, die er in wohlgesetzten Worten in den Himmel heben soll – wobei die Lola und überhaupt jede Lola doch einzig und allein ihm, dem großen Gwisdek, gebührt.

Mit dem Reizthema Generationenkonflikt trifft der geniale Komödiant bei dieser denkwürdigen 65. Gala zum Deutschen Filmpreis einen Nerv, auch über den Abend im Berliner Palais am Funkturm hinaus. Wobei er seinen Trumpf in karikaturesker Zuspitzung ausspielen kann: Die Kandidaten Christian Friedel („Elser“), Hanno Koffler („Härte“) und der spätere Sieger Frederick Lau („Victoria“) sind 36, 35 und erst 25 Jahre alt und könnten folglich fast seine Enkel sein. Nicht auszudenken, welch explosiv geriatrisches Trauma Gwisdek hätte hinzuerfinden müssen, wenn auch noch Ivo Pietzcker, der inzwischen 13-jährige Held von Edward Bergers „Jack“, nominiert gewesen wäre!

Die feinere, umso schneidendere Generationengrenze im deutschen Kino aber verläuft entlang der 50, und die Wahl der 1600 Mitglieder der Deutschen Filmakademie, die die insgesamt 18 Lolas oscarlike vergeben, macht das schlagend offenkundig. Keiner aus dem tragenden Trio der gereiften deutschen Qualitätsregisseure schaffte es diesmal zur lukrativen Nominierung um den besten Film: Dominik Graf (62) – er verlässt den Saal kurz vor der Vergabe der Goldenen Lola – muss sich für seine „Geliebten Schwestern“ mit fünf Nominierungen in Nebenkategorien begnügen, der 54-jährige Christian Petzold – „Phoenix“-Hauptdarstellerin Nina Hoss fehlt bei der Gala – wurde mit nur zwei Nominierungen abgespeist, und „Als wir träumten“ von Andreas Dresen (51) ist nur in Sachen Schnitt mit im Spiel.

Was dann aber an jenem denkwürdigen Freitag kurz nach 22 Uhr geschieht, darf man getrost ein Beben nennen – nicht nur, weil Sebastian Schipper (47) mit ein paar kräftigen Schlusssprüngen die Bühne erobert, als seine schon fünfmal siegreiche „Victoria“ Gold und damit 500 000 Euro holt. Bereits Frederick Lau hatte seinen Regisseur „meinen Trainer, meinen Klopp“ genannt, und beim Fototermin nach dem offiziellen Ende schreit das „Victoria“-Team sein Glück nur so heraus, als hätte es mal eben die Champions League gewonnen. Keine Frage, dieser ohne Schnitt gedrehte 140-Minuten-Film über pure Jugend in der Berliner Nacht fegt nahezu alles beiseite. Immerhin können sich in dessen übergroßem Schatten der 45-jährige Edward Berger über Silber (425 000 Euro) für sein Heimkinderdrama „Jack“ und Johannes Naber (44) über Bronze (375000 Euro) für „Zeit der Kannibalen“ freuen.

Berliner Feiernächte - in "Victoria" und "Jack"

So geradezu kannibalistisch diese drei nun die Altvorderen abgefrühstückt haben, so krass tritt zutage, worin sie sich thematisch unterscheiden: Wäre da nicht Nabers coole, sehr theaterhaft spielsüchtige Versuchsanordnung um drei böse Abwickler in Globalisierungsgeschäften, ließe sich diese Wahl glatt politikfern, zumindest aber entschieden geschichtsfern nennen. Spaß vor allem haben die Jungs, die da mit der Spanierin Victoria durch die Nacht ziehen – zumindest in der ersten Filmhälfte; Spaß hat, in „Jack“, die junge Mutter mit jungen Männern – auf Kosten ihrer beiden kleinen Söhne. Und seinen Spaß an den Reglern des Kapitalismus will sich auch das „Kannibalen“-Trio kaum verderben lassen.

Das Juryvotum ist ein Bekenntnis zur totalen Gegenwart

Laia Costa, Frederick Lau und Filmemacher Sebastian Schipper freuen sich über die Lolas für "Victoria".
Laia Costa, Frederick Lau und Filmemacher Sebastian Schipper freuen sich über die Lolas für "Victoria".
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„Alles easy“ ist die Devise, zumindest in Teilzeit und für einen Teil der Belegschaft: Das ist der gebrochene Wohlfühlbefund des Akademievotums, der sich auch gesamtgesellschaftlich hochrechnen lässt. Man guckt, dass man sich in oberwackligen Zeiten wie diesen irgendwie auf der Sonnenseite hält, mehr ist sowieso nicht drin – so etwa ließe sich das zeitgemäß untheoretische Manifest des kollektiv privatistischen Vergnügens lesen. Wie eklatant, ja, unvermutet radikal es diesmal im filmindustriellen Akademielabor zutage tritt, zeigt die mathematische Probe. Alle Filme, die sich mit deutscher (Zeit-)Geschichte beschäftigen, sind mit Pauken und Trompeten, oder besser: mit Hagel und Granaten durchgefallen.

Der historischen Reihe nach. Oliver Hirschbiegels „Elser“, die Hymne auf den Widerstandseinzelkämpfer Georg Elser und sein Attentat auf Hitler im November 1939; Christian Petzolds Nachkriegsdrama „Phoenix“ über das Schicksal einer Jüdin, die Auschwitz überlebt hat; Giulio Ricciarellis „Im Labyrinth des Schweigens“ über das deutsche Totschweigen von Auschwitz in den fünfziger Jahren, bevor es durch den Mut und die Zähigkeit von Einzelnen doch zum ersten großen Prozess kommt; dazu die beiden Nachwendepanoramen mit ostdeutschem Neonazihintergrund, Burhan Qurbanis „Wir sind jung, wir sind stark“ und Andreas Dresens „Als wir träumten“: Mit insgesamt 17 Nominierungen gingen diese fünf Filme ins Rennen – und die Ausbeute? Zwei Nebendarsteller-Lolas, für Nina Kunzendorf in „Phoenix“ und Joel Basman, den brillant verschlagen-verbogen-verlorenen Nazijungen in „Wir sind jung, wir sind stark“.

Die Dokumentarfilm-Lola ging an "Citizenfour"

Sicher lässt sich dieses Fastnullsummenspiel nicht linear als cineastisch unterfüttertes Votum in der ewigen deutschen Schlussstrichdebatte deuten. Ebenso wenig damit, dass auch in diesem Themenminenfeld bezeichnenderweise nur die Regisseursgeneration 50 plus vertreten sei – schließlich gehört in diese Reihe auch der 34-jährige Burhan Qurbani, der als hier geborener Sohn afghanischer Flüchtlinge ein besonders aufmerksames Verhältnis zu seinem Deutschland hat. Ganz bestimmt haben alle diese Filme spezifische ästhetische oder narrative Schwächen, was sich allerdings ebenso von den Siegerfilmen sagen lässt. Gleichviel fällt auf, welch glasklar voneinander trennbare Schlüsse das geheim votierende Plenum der Deutschen Filmakademie aus dem durchwachsenen Jahrgang gezogen hat, mit seinem Bekenntnis zur totalen – und einigermaßen unpolitischen – Gegenwart. „Na ja jut, kann man machen“, würde wohl der tückisch weise Michael Gwisdek dazu sagen.

Da versöhnt es durchaus, dass der mit 200 000 Euro dotierte Dokumentarfilmpreis – nach dem Oscar, dem britischen Bafta und vielen anderen Auszeichnungen – an den deutsch mitproduzierten und -geförderten „Citizenfour“ geht. Laudatorin Maybrit Illner nennt Edward Snowden, der in dem Film Mut und Sensibilität gleichermaßen unter Beweis stellt, einen „echten Helden“, und Regisseurin Laura Poitras dankt sehr bewegt und nennt ihr Land, die USA, „auf der falschen Seite der Geschichte“. Längst sind da ein paar Leute im Publikum aufgestanden – eine spontane Geste des Respekts, die bei solchen Veranstaltungen eher rituell geschieht und etwa den Lebenswerk-Hommagen vorbehalten bleibt. So wird diese 65. Filmpreisgala für einen Moment zur Demo, und das tut gut so.

Jan Schulz-Ojala

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