One-Take-Film "Victoria" von Sebastian Schipper: Echtzeit Berlin
Der Film "Victoria" reißt seine Zuschauer in ein unverwechselbares Abenteuer: Ohne einen einzigen Schnitt sausen ein paar mittelschwere Jungs und eine junge Spanierin durch die Berliner Nacht.
Kann schon sein, dass jetzt überall die „Victoria“-Mottopartys steigen. Rein also in die Blinker-Motorradjacke oder in die Sonne-Joggingkombi oder in Victorias Parka plus Pulloverchen. Dann, ein möglichst später Filmbeginn vorausgesetzt, zusammen zwei Stunden zwanzig „Victoria“ gucken und anschließend feiern gehen wie Victorias Helden in der Berliner Nacht. Ohne Banküberfall, klar, ein Fitzelchen Unterschied zwischen Kino und Leben sollte bleiben.
Oder ist das nur so’ne Koksidee von mir, sind die Leute viel zu fertig fürs Feiern nach zwei Stunden zwanzig „Victoria“ in Realzeit – echt ohne Schnitt, ein einziger Take, „ohne billige Tricks oder auch teure“, wie der Regisseur Sebastian Schipper beschwört? Schon möglich, dass sie sich, umgehauen von diesem Film, lieber nach Hause in die Sommernacht verziehen, und vielleicht auch besser so. Fenster weit auf, Vogelgezwitscher im Hof, und in der Ferne irgendein Tatütata.
Vier Monate ist es her, da hat Sturla Brandth Grøvlen, das ist der norwegische Kameramann von „Victoria“, den Technikpreis gekriegt auf der Berlinale, ein Trostpreis für so einen Film, aber schon mal für die Kamera total verdient. Zwei Stunden zwanzig ist der Mann an allen 22 Schauplätzen dabei, ohne zu stören, in Kellern, auf Hausdächern, in engen Fahrstühlen, Autos, Wohnungen und dazwischen immer wieder auf der Straße und immer notwendig unsichtbares Auge. Drei Durchlauf-Takes im drei Wochen hat das Team gedreht, macht brutto sieben Stunden, ein irrer Marathon. Der letzte passte dann perfekt.
Was für eine Choreografie!
Was für eine Organisation, was für eine Choreografie, damit das alles klappt mit oberwachen Schauspielern ab nachts vier Uhr dreißig nur für die eine kleine Kamera! Auf der Berlinale war gleich viel „Boah ey!“-Bohei um das bloß Sportliche des Films – ja, da kann man als Kritiker doch nicht einfach den „Mach dich mal locker, Alter!“-Schalter umlegen, ja, da will man kalt und herzlos sein. Jetzt aber, Monate später und nicht ungeduldig von Festivalfilm zu Festivalfilm hetzend, habe ich „Victoria“ bei einer Preview inmitten von atemlosen Zuguckern wiedergesehen. Und bin gefangen wie sie.
Hau weg also die Vorbehalte. Dass das niedliche spanische Mädchen namens Victoria in drei Monaten Berlin so gar keine Freunde gefunden haben will, weshalb sie in der Clubnacht mit vier Typen loszieht, denen die Malavita nur so aus den Poren trieft – geschenkt. Geschenkt auch, dass sie auf dem Kneipenklavier ganz bestimmt nicht Franz Liszts nahezu unspielbaren Mephistowalzer spielt und folglich die Tonspur, die sonst das Unperfekte des Direkttons als Authentizitätsmerkmal zelebriert, zumindest einmal schummelt. Oder dass im sogenannten echten Leben, um das es hier doch im Ansatz gehen soll, eine wie Victoria kaum lammbrav mal eben zur Komplizin eines lebensgefährlichen Überfalls würde.
Große Klappe, geklaute Autos und: Victoria
Jetzt aber, spätestens, her mit dem Plot. Also: Victoria (Laia Costa) verlässt nach ihrem letzten doppelten Wodka auf ex einen Berliner Kellerclub und gerät dabei an den lustigen, bodenständigen, etwas schwergängig angloberlinernden Sonne (Frederick Lau). Plus seine drei Kumpels: Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff). Dass die Jungs, die da so scheinbar einverständig umeinander rumtänzeln, keine Kids von Traurigkeit sind, ist von Anfang an klar: große Klappe, geklaute Autos, und Boxer saß schon mal im Knast, jloob’ick sofort. Seele allerdings haben sie, sogar rauen Charme, zumindest gilt das für Sonne, weshalb das vielleicht was werden könnte mit ihm und Victoria. Aber dann haben sie plötzlich auch einen Plan.
Nein, nix Böses gegen das süße Mädchen, so’n Glück immerhin. Aber weil Boxer einem Böseren – André Hennicke spaziert salbadernd in den Film rein wie ein grotesker Botschafter deutscher Fernsehware – noch was schuldet, ist ein Überfall fällig, jetzt und sofort. Und weil Fuß leider total besoffen ist, muss Victoria das Fluchtauto fahren. Und weil Banküberfälle im Kino grundsätzlich weniger gut ausgehen, geht auch dieser Banküberfall den Weg allen Genres und gar nicht gut aus.
Sollte es nun nicht dringend „Achtung, Spoiler!“ heißen, ey, verrat jetzt nicht das ganze Abenteuer, Alter? Andererseits: „Victoria“ wurde auf der Berlinale schon tausendfach gesehen, auch der Trailer ist explizit – und der Film selber sogar beim Wiedersehen mindestens so spannend wie beim ersten Mal, wenn auch anders. Im Laberleerlauf der ersten halben Stunde lässt sich nun dem leisen Verliebtwerden fein der Puls messen, erst recht im Café, in dem Victoria, da kann sie ja gleich aufbleiben, schon morgens wieder für vier Euro die Stunde schuften soll. Und die letzte schlimme Viertelstunde – der luftige Postpartyfilm dieser Berliner Nachtgestalten des 21. Jahrhunderts hat sich längst in einen sehr schallgedämpften „Bonnie & Clyde“ verwandelt – ist schlicht großartig. Bleiche schöne Zielgerade, blasser Berliner Morgen.
Sebastian Schipper hat ein einzigartiges Abenteuer geschaffen
Vor dem Festival hat Sebastian Schipper, seit seinem Hamburger Fast-Echtzeit-Nachtstück „Absolute Giganten“ (1999) ein ausgewiesener Experte für Paar-Jungs-treffen-ein-Mädchen-und-machen-was-Verrücktes-Filme, sein viertes Werk „Victoria“ einen „verflohten, verfilzten Straßenköter“ genannt. Aus dem Fremdkörper auf dem roten Berlinale-Teppich ist zum Deutschen Filmpreis am 19. Juni in Berlin ein Favorit geworden. Und es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn er nicht mindestens die Hälfte seiner sieben Nominierungen in Preise verwandelt, neben der Kamera und einer der Lolas für den besten Film je einen für den immer wieder famosen Frederick Lau und die umwerfende Neuentdeckung Laia Costa.
Sie alle stehen für das einzigartige Abenteuer eines Films, der der Berliner Nachtwelt dieser Jahre so nahe kommt wie keiner zuvor, Genre hin oder her. Und für ein tatsächlich atemloses: durchdringender noch als Gaspar Noés „Enter the Void“ oder zuletzt Alejandro González Iñarritus „Birdman“, die ihr Realzeitexperiment bei genauerem Hinsehen nur simulierten.
Auszuhalten ist der Ritt durch „Victoria“ durch ein paar retardierende Intermezzi, jeweils Neunzigsekünder, nicht mehr, in denen Nils Oliver Frahms dezente Filmmusik die Führung übernimmt. Die Augen bleiben bei den Figuren, aber ihr Weiterreden wird stummgestellt, das pure Mitgerissensein hat für einen Moment Pause. Um vor dem letzten Intermezzo, Victorias Gesicht geht in die Unschärfe und zurück, noch einmal umso heftiger zu werden.
In Berlin im Cinemaxx, Delphi, Hackesche Höfe, International, Kant, Kulturbrauerei, Moviemento, Neues Off,, Passage, Union und Yorck
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