Nachfolger von Ivan Fischer: Christoph Eschenbach wird neuer Chefdirigent des Konzerthauses
Seit 55 Jahren steht er auf den Bühnen dieser Welt. Mit Christoph Eschenbach übernimmt ab 2019 ein erfahrener Maestro den Taktstock am Konzerthaus. Er wird den Orchesterwettbewerb auffrischen.
Berlins Klassikszene befindet sich in einem radikalen Umbauprozess. Drei neue Chefdirigenten haben gerade ihre Jobs angetreten, der 34-jährige Robin Ticciati beim Deutschen Symphonie-Orchester, der 41-jährige Justin Doyle beim Rias-Kammerchor und der 45-jährige Vladimir Jurowski beim Rundfunk-Sinfonieorchester. Zwei weitere Stabwechsel stehen fest, im kommenden Herbst kommt der 1978 geborene Este Lette Ainars Rubikis an die Komische Oper, 2019 beginnt endlich die Ära von Kirill Petrenko bei den Berliner Philharmonikern. Ziemlich neu dabei ist auch der 39-jährige Gijs Leenaars, der seit zwei Jahren den Rundfunkchor Berlin leitet. Eine Konstante in der Kulturlandschaft ist Donald Runnicles, seit 2008 Generalmusikdirektor der Deutschen Oper. Unantastbar an der Spitze bleibt Daniel Barenboim, seit einem Vierteljahrhundert Chef der Staatsoper.
Nirgendwo auf der Welt gibt es ein vergleichbar dichtes Netz von klassischen Spitzeninstitutionen wie in Berlin, nirgendwo stehen die Institutionen und ihre musikalischen Leiter aber auch unter einem so hohen Druck, sich durch ein klares künstlerisches Profil von den innerstädtischen Mitbewerbern abzusetzen. Darum durfte man doppelt gespannt sein, wen sich Sebastian Nordmann, der Intendant des Konzerthauses am Gendarmenmarkt, wohl an seine Seite holen würde. Als Nachfolger für Publikumsliebling Ivan Fischer, der im kommenden Sommer seine Amtszeit beenden wird, einerseits, weil er die Existenz seines Budapest Festival Orchestra im politisch prekären Ungarn sichern muss, andererseits, weil er sich künftig intensiver dem Komponieren widmen will.
Mit ihm hatte niemand gerechnet
Wen, fragte man sich, konnte Nordmann nach all den spektakulären Neubesetzungen bei der letzten wichtigen Berliner Maestro-Personalie noch aus dem Hut zaubern? Eine Dirigentin womöglich? Einen Newcomer, der selbst die professionellen Beobachter überrascht? Oder gar einen Spezialisten aus der Alten Musik, der Lust hat, seine Erkenntnisse der authentischen Aufführungspraxis jetzt auf die Sinfonik des 19. Jahrhunderts zu übertragen?
Mit der Wahl von Christoph Eschenbach ist Sebastian Nordmann ein Coup gelungen. Auf die Idee, dass ein 79-Jähriger das Konzerthausorchester in die Zukunft führen soll, ist nun wirklich niemand gekommen. So alt wird Eschenbach nämlich sein, wenn er 2019 den Taktstock am Gendarmenmarkt übernimmt.
Als der Dirigent vor ein paar Jahren Beatrix Schnippenkötters Fragebogen in der Tagesspiegel-Sonntagsbeilage ausfüllte, antwortete er auf die Frage „Was mögen Sie am Alter?“ selbstbewusst: „Die Neugier.“ Seit 55 Jahren steht Christoph Eschenbach auf den Bühnen der Welt, unzählige Male hat er die Werke des Kernrepertoires schon interpretiert. Doch er weiß: Musik lebt immer aus dem Augenblick, jede Aufführung ist anders, weil hier lebendige Menschen agieren, als Gruppe von Individuen.
Karajan und Szell förderten ihn
Wie Musik Seele und Geist verändern kann, hat Christoph Eschenbach am eigenen Leib erfahren. Bei seiner Geburt 1940 stirbt die Mutter, der Vater, ein Widerstandskämpfer, kommt wenig später in einem Strafbataillon ums Leben. Der Knabe muss in ein Waisenhaus, erkrankt an Typhus, wird in allerletzter Sekunde von einer Verwandten gefunden – und gerettet. Die Cousine seiner Mutter ist nämlich Sängerin und Pianistin, der traumatisierte Junge, der das Sprechen verweigert, liegt im Nebenzimmer, während sie Abend für Abend musiziert. Und gewinnt durch die Töne neuen Mut, entscheidet sich schließlich, sein neu gewonnenes Leben ganz der Musik zu widmen.
Seine Profikarriere startet er als Pianist, mit Justus Frantz und dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt entsteht 1981 die legendäre Einspielung von Mozarts Konzert für drei Klaviere. Daneben lässt sich Eschenbach auch zum Dirigenten ausbilden, wird von zwei Pultgiganten gefördert, Karajan und George Szell. Die erste Chefstelle bekommt er 1978 in Ludwigshafen, weitere folgen, in Zürich, Houston, beim NDR-Sinfonieorchester, beim Orchestre de Paris, beim Schleswig Holstein Musikfestival, in Philadelphia und zuletzt in Washington. Er engagiert sich als Pädagoge, arbeitet viel mit Jugendorchestern, fördert junge Solisten wie den Klaviervirtuosen Christopher Park.
Eschenbach muss sich nicht mehr beweisen
Mit dem Klavierspielen hat Eschenbach mittlerweile aufgehört. „Ich finde das Kommunizieren mit mir selber nicht interessant.“ Der Kontakt mit Kollektiven aber reizt ihn umso mehr. Darum hat er beim Konzerthausorchester zugesagt. Obwohl man ihm dort nur einen Drei-Jahres-Vertrag anbieten konnte. Und zwar in einer ungewöhnlichen Ménage-à-trois-Konstellation: Neben Eschenbach wird das Programmprofil nämlich noch von Juraj Valcuha mitbestimmt, dem frisch engagierten Ersten Gastdirigenten, sowie von Ivan Fischer. Der scheidende Chef will vor allem die zeitraubenden administrativen Verpflichtungen loswerden, künstlerisch aber am Gendarmenmarkt präsent bleiben, sogar mit einer eigenen Abo-Reihe.
So entpuppt sich der Coup des Intendanten als diplomatisch äußerst raffinierte Volte. Mit einem Maestro wie Eschenbach, der sich nichts mehr beweisen muss, kann die friedliche Koexistenz mit Ivan Fischer funktionieren, und Sebastian Nordmann hat gleichzeitig einen in allen Genres gestählten künstlerischen Leiter an der Hand, mit dem er das 2021 anstehende 200-jährige Gründungsjubiläum von Friedrich Schinkels Schauspielhaus planen kann, einschließlich der obligatorischen Aufführung des hier uraufgeführten „Freischütz“.
Ein weiser Werkdeuter zwischen jugendlichen Feuerköpfen
Nordmanns Vertrag läuft bis zum Sommer 2022, und man darf davon ausgehen, dass der smarte, innovationsfreudige Kulturmanager danach weiterziehen wird, auf einen der Top-Jobs der Branche. Mit dem ebenfalls bis zu diesem Datum terminierten Engagements Eschenbachs würde er seinem Nachfolger einen sauberen Neustart ermöglichen.
Vielleicht wird Christoph Eschenbach ja auch mehr als eine Interimslösung, vielleicht gelingt es ihm, den Ehrenposten des Grandseigneurs in der Berliner Klassikszene vom Ex-RSB-Chef Marek Janowski zu übernehmen. Vielleicht wird er als weiser Werkdeuter zwischen lauter jugendlichen Feuerköpfen Berliner Musikgeschichte schreiben. Das Geburtsdatum jedenfalls, das zeigen glanzvolle Alterskarrieren wie die von Günter Wand, Pierre Boulez oder Herbert Blomstedt, ist bei Dirigenten lediglich eine Fußnote.