Kampf gegen den Islamischen Staat: Wie zwei Brüder die Welt über Syrien informieren
Immer, wenn das Handy vibriert, zittern sie: Zwei syrische Brüder filtern in einer deutschen Kleinstadt Nachrichten aus dem IS-Gebiet. Und riskieren damit ihr Leben.
Zum Glück hat Mohammad al Kheder den schönsten Tag seines Lebens mit der Handykamera aufgenommen. Sonst würde er heute selbst nicht glauben, dass es ihn je gegeben hat. Den 11. Juni 2011.
Die desertierten Soldaten, die mit den Fingern ein Peace-Zeichen formen. Die feiernden Menschen, die Arm in Arm auf den Panzern stehen, die Assad in die syrische Kleinstadt Al Bokamal an der irakischen Grenze geschickt hatte, um die Demonstration niederzuschießen. Die tanzen, weinen, „Selmiyyeh, selmiyyeh“ rufen. Friedlich, friedlich! Mohammad, damals 25 Jahre alt, schreit mit heiserer Stimme wieder und wieder in sein Telefon: „Die Armee und das Volk sind eins!“
Es sind die Bilder aus Mohammads Handykamera, die zwei Tage später in Nachrichtensendungen auf der ganzen Welt laufen werden. Für viele steht damals fest: Die Geschichte des Arabischen Frühlings wird in Syrien weitergeschrieben!
Mohammad ist heute 31, er wird traurig, als die verwackelten Bilder des Youtube-Videos über den Bildschirm seines Laptops laufen. „Wir waren uns so sicher: Bald würde Assad fallen, die Revolution siegen. Bald würde alles gut“, sagt er bitter und zündet sich eine Zigarette an.
Die Menschen, die demonstriert haben, sind tot oder auf der Flucht
Seit dem 11. Juni 2011 sind fünfeinhalb Jahre vergangen. Assad gibt es noch immer, die Revolution hat nicht gesiegt und wäre alles gut geworden, würde Mohammad heute noch immer in Syrien leben und müsste sich nicht in einer deutschen Kleinstadt verstecken, deren Namen er kaum aussprechen kann. Die Menschen, die damals demonstriert haben, wären heute nicht tot oder geflohen, würden nicht lange schwarze Rauschebärte oder Ganzkörperschleier tragen, die der IS ihnen aufzwingt. Mohammad würde dann vielleicht weiter als Werbedesigner arbeiten und nicht als Journalist.
An diesem Morgen im Frühling sitzt Mohammad rauchend und mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Aghiad an dem Metalltisch mit der Blümchentischdecke in seiner Zweizimmerwohnung. Mit von einem Reif zurückgehaltenen Haaren und dem Träumerblick sieht er ein bisschen aus wie der inhaftierte saudische Blogger Raif Badawi, Aghiad mit zerzaustem Hipster-Vollbart und knochigen Wangen eher wie aus einem Outdoor-Werbekatalog. Vor den beiden auf dem Tisch stehen zwei aufgeklappte Laptops mit abgeklebten Webcams, eine Ein-Liter-Thermoskanne Kaffee und drei Packungen Marlboro Gold, die großen. Daneben liegen zwei schwarze Samsung Galaxy.
Wenn eines der Handys vibriert, ist das so, als würde der Piepser bei der freiwilligen Feuerwehr losgehen. Die beiden zucken kurz zusammen, Mohammad ist das ein bisschen peinlich. „Sorry“, sagt er jedes Mal, „das ist grade wirklich wichtig, können wir später weiterreden?“, und normalerweise kommt dann etwas wie: „In Raqqa hat der IS gerade einen 18-Jährigen exekutiert“.
"Wir sind keine richtigen Journalisten, wir sind Bürgerjournalisten"
An diesem Morgen fragt Mohammad nur: „Aghiad? Der Typ von der BBC hat geschrieben. Die brauchen bis morgen früh einen Bericht aus West-Mossul. Kriegen wir das hin?“ Vier Tage zuvor hat die irakische Armee mit ihren internationalen Verbündeten eine Offensive gestartet, um den Westteil der Stadt vom IS zu befreien.
Man solle das jetzt bloß nicht missverstehen. „Wir sind keine richtigen Journalisten, wir sind Bürgerjournalisten“, erklärt Mohammad. Der Unterschied ist ihm wichtig, er ist auch ein wenig stolz drauf. „Wir sind Aktivisten, erst der Krieg hat uns zu Journalisten gemacht. Wir arbeiten nicht für Ruhm, Geld oder sonst was. Sondern nur wegen der Wahrheit, den Menschen in Syrien und damit die Revolution weitergeht.“
Vor allem erledigen Mohammad und Aghiad einen Job, den westliche Medienkorrespondenten nicht erfüllen können, weil ihnen dazu Know-how und vor allem die Kontakte fehlen: Sie berichten direkt aus den Gebieten in Syrien und dem Irak, die der sogenannte Islamische Staat zum Kalifat erklärt hat. Sie dokumentieren die Verbrechen, die der IS, die Anti-IS-Koalition, die Russen und das Assad-Regime an der Bevölkerung begehen. Vor zwei Jahren haben die beiden hierfür das englisch-arabisch-sprachige Newsportal sound-and-picture.com gegründet. Heute leiten sie das „Sound-and-Picture-Headoffice“, wie sie den Metalltisch und die zwei Laptops in Mohammads Wohnzimmer im Scherz nennen. Mit ihren Gesichtern stehen sie für die Organisation.
Kaum eine Stunde, in der sein Telefon, also Syrien, stillsteht
Auf dem Twitter-Account von „Sound and Picture“ ploppen im Minutentakt Nachrichten auf, wie beim Live-Ticker eines Fußballmatchs: „#Deir-ez-Zor: ISIS bestraft Fußballteam und Schiedsrichter mit Peitschenhieben“, „#Raqqa: ISIS tötet Mann und hängt Leichnam ans Kreuz. Wird beschuldigt, westlicher Spion zu sein“, oder „#Raqqa: Koalition zerstört Brücken über dem Euphrat. Strafe für ISIS oder für Zivilisten?“ Zusammenfassung eines weiteren Tages im IS-Land.
Aghiad, der jüngere der beiden, sieht müde aus. Unter seinen Augen Ringe, als hätte sie jemand mit Edding nachgezogen. Er hat zwei Stunden geschlafen, vorgestern war es nur eine. „Ich kann nicht mit gutem Gewissen ins Bett gehen, wenn ich mein Handy ausschalte“, sagt der 26-Jährige. Kaum eine Stunde, in der sein Telefon, also Syrien, stillsteht. „Die Russen bombardieren meist tagsüber, die Drohnen und Flieger der Anti-IS-Koalition bomben meist nachts, der IS köpft manchmal zehn Menschen am Tag, dann wieder eine Woche niemanden.“
Die wichtigsten Neuigkeiten posten die beiden sofort auf Twitter. Exklusives und Hintergrundberichte folgen auf der Website. „Wir schaffen es nicht, alles zu veröffentlichen“, sagt Mohammad, der Ältere, „dazu haben wir schlicht nicht die Kapazitäten.“ Allein das Videomaterial aus Syrien, das auf den Festplatten der beiden lagert, umfasse über 800 Stunden. Einen Teil davon publizieren sie selbst, den Rest geben sie weiter an Menschenrechtsorganisationen und die UN sowie an renommierte internationale Medien, denen die beiden als inoffizielle Korrespondenten aus dem Kalifat dienen.
Wer Informationen aus dem IS-Gebiet beschafft, riskiert den Tod
„CNN“, „The Independent“, „Deutsche Welle“, „Le Monde“ …, zählt Mohammad einige Medien auf. Sorgfältig sortiert und mit Datum versehen hat er die einzelnen Artikel auf seinem PC abgespeichert. Es sind Artikel über IS-Kämpfer, die sich bei Sexsklavinnen mit HIV infiziert haben, eine Grafik, die ermordete IS-Anführer auflistet, ein Fernsehinterview mit Mohammad vom Oktober über die aktuelle Situation in Mossul. Geht alles gut, wird er hier morgen auch den neuen BBC-Bericht verlinken. „Die Menschen wissen weltweit, wie gewissenhaft wir arbeiten. Deshalb vertrauen sie uns“, sagt Mohammad.
Vielleicht vertrauen die westlichen Journalisten Mohammad und Aghiad auch deshalb, weil ihnen kaum etwas anderes übrig bleibt: Selten war die Herausforderung, glaubwürdige Informationen zu beschaffen, für die Medien größer als jetzt aus dem IS-Gebiet. Wie die Terroristen mit westlichen Journalisten umgehen, weiß man spätestens seit der öffentlich inszenierten Enthauptung des US-Amerikaners James Foley im Jahr 2014.
„Die Nutzung von Internet außerhalb der vom IS überwachten Cafés steht unter Todesstrafe, der Funk ist in weiten Teilen zusammengebrochen“, zählt Mohammad weiter auf. Dann zuckt er mit den Schultern. Er schafft es schließlich, mit den Reportern vor Ort zu korrespondieren. Wie? Darüber will er nicht sprechen. Aus Sicherheitsgründen. Mehr als einmal hätten IS-Hacker versucht, ihr Netzwerk zu kapern. Nur so viel: „Whatsapp und Facebook nutzen wir nicht, wir sind ja nicht lebensmüde.“
Je weniger man weiß, desto sicherer lebt man in Syrien
Mohammad öffnet eine separat abgespeicherte Telefonliste auf seinem Smartphone. Darin die Kontaktdaten von 60 Menschen. Die Namen aller 60 Reporter, die derzeit für Sound and Picture aus den IS-Gebieten in Syrien und dem West-Irak berichten. Da ist ein junger Mann, der sich das Pseudonym Tim Ramadan zugelegt hat und der zwischen den IS-Hochburgen Raqqa und Deir-ez-Zor hin- und herreist. Da ist Rita, die von der IS-Frauenpolizei berichtet. Da ist Mossul-Mohammed, den die Brüder damit beauftragt haben, bis morgen früh den Bericht für die BBC zu recherchieren.
Untereinander kennen sich die Reporter nicht. Aber das ist unwichtig – sie alle kennen Mohammad und Aghiad al Kheder. „Erste Regel“, sagt Mohammad, „je weniger du weißt, desto sicherer lebst du in Syrien.“ Deshalb wüssten nicht mal die Familien der Kollegen Bescheid, was sie da eigentlich tun.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht lieber in Syrien wäre als in Deutschland“, sagt Aghiad und schiebt sich noch eine Zigarette in den Mundwinkel. Er meint das ernst. Wohl fühlen sich die Brüder hier nicht. Nein, nicht weil die Deutschen nicht nett zu ihm seien. Oder weil der Vermieter keinen ADSL-Anschluss verlegen will und sie deshalb im Monat 700 Euro für ihre 500 Gigabyte Internet berappen müssen. Auch mit den Papierstapeln von der AOK und dem Arbeitsamt kommt er irgendwie zurecht. Und die Deutschlehrerin hat er inzwischen davon überzeugt, dass Bomben in Syrien auf seiner Prioritätenliste über „der, die, das“ stehen.
Es ist die Verantwortung, die ihm zu schaffen macht. „Ich bin wie ein Vater mit 60 Kindern, um deren Leben ich jeden Tag fürchte – wenn einer stirbt, tragen wir die Schuld.“
Die Reporter sind Freunde von früher, oder Freunde von Freunden
Wer aber sind die Reporter, deren Namen niemand kennt? Und wie können Mohammad und Aghiad sicherstellen, dass ihre Berichte auch stimmen?
Mohammad nickt verständnisvoll, so, als hätte er die Frage erwartet. „Wir kennen jeden einzelnen Lebenslauf bis ins Detail“, versichert er. Die einen seien Freunde von früher, mit denen sie gemeinsam auf der Straße waren. Demonstrieren gegen Assad und für Demokratie. Alle anderen seien Freunde von Freunden oder Bekannte, „die haben wir über Monate hinweg observiert“, erklärt er und klingt dabei eher wie ein Geheimdienstchef als nach dem Leiter eines Newsportals. Nur ein einziger Fehlgriff, ein Infiltrant, könnte das Aus für Soundand Picture und den Tod für die beiden Brüder bedeuten.
„Zweite Regel“, sagt Mohammad ernst: „Im Krieg gewinnst du keine neuen Freunde.“ Über seinem Handknöchel baumelt ein Gummiarmband, auf dem FREE SYRIA steht.
Wenn er nachts neben seiner Frau im Bett liege, könne er oft nicht schlafen, erzählt Mohammad. Weil das Handy vibriert oder der Kopf. Dann sehe er in der Dunkelheit oft die syrische Revolution wie einen alten Schwarz-Weiß-Film vor sich ablaufen. Die Erinnerungen an 2011 sind dann wieder ganz frisch: als seine Freunde und er auf Facebook und Twitter das erste Mal die Bilder von Demonstranten aus Tunesien, Ägypten und dem südsyrischen Deraa gesehen und deren Parolen gehört hatten.
"Wisst ihr eigentlich, was ihr da tut?"
Damals, als Mohammad noch Business und Management studierte und sein jüngerer Bruder Aghiad zum Literaturstudium ins 120 Kilometer entfernte Deir-ez-Zor gezogen war. Als sie sich freitags im Zimmer im Elternhaus eingeschlossen hatten und für die Demos Plakate malten, auf denen „Freiheit für immer!“ und „Deraa, wir stehen dir bei!“ stand. Und wie dann die Tür aufflog und der Vater sie anstarrte und ihnen beiden eine Ohrfeige verpasste.
„Wisst ihr eigentlich, was ihr da tut? Seid ihr verrückt geworden?“, schrie er. Dabei war es doch er gewesen, der ihnen von den Massakern von Baschars Vater Hafez al Assad in Homs und Hama erzählt hatte und von den Foltergefängnissen in Palmyra und Sednaya, der ihnen immer englischsprachige Bücher aus seiner Arztpraxis mit nach Hause brachte. „Damit die Staatspropaganda euch nicht das Hirn weichspült“, hatte er gesagt. Agatha Christie haben sie gelesen und Charles Dickens, am liebsten mochte Mohammad Ernest Hemingway. Weil der mal geschrieben hatte: „Die Welt ist schön und wert, dass man um sie kämpft.“ Und Mohammad wollte für diese schöne Welt kämpfen.
Deshalb ende sein Schwarz-Weiß-Film stets am 11. Juni 2011, erzählt er. Danach sei alles nur immer schrecklicher geworden.
Wie schrecklich? Mohammad öffnet einen Ordner mit Videos, scrollt durch die angezeigten Clips. „Eine Exekution? Oder wie sie einen Gemüseverkäufer auspeitschen? Wir hätten auch gute Bilder von den letzten Luftangriffen der Koalition, bei der Zivilisten gestorben sind ...?“, fragt Mohammad, als würde er Eiswaffeln verkaufen.
Als IS-Kämpfer Al Bokamal einnehmen, druckt Aghiad Flugblätter
Er entscheidet sich spontan für das Video einer Militärparade: schwarz gekleidete Männer mit vermummten Gesichtern, die auf Geländewagen posieren, die Fäuste geballt. Einer schießt mit einer Maschinenpistole in die Luft, einer ruft „Allahu akbar“. Die Menschen, die am Straßenrand zusammengetrieben wurden, klatschen brav. „Alltag in unserer Heimat“, sagt Mohammad.
Drei Jahre nach Mohammads schönstem Tag im Leben, am 11. Juli 2014, nehmen die Kämpfer des IS Mohammads Heimatstadt Al Bokamal ein. Vier Tage später auch Deir-ez-Zor, wo Aghiad zu der Zeit lebt. „Das war die Transformation vom Schlips- zum Langbart-Faschismus“, erinnert er sich. Exekutiert wird von da an auf dem Marktplatz und nicht länger in den Folterkellern. „Wir als Aktivisten waren deshalb gezwungen, in den Untergrund zu gehen.“
Aghiad beginnt allein, nur mit seinem Computer und einem alten Drucker ausgestattet, Flugblätter zu produzieren und sie nachts auf den Straßen zu verteilen. Auf seinem Rechner in Deutschland hat er noch ein Video aus dieser Zeit: Die Straße ist dunkel, die Beleuchtung schlecht, in Umrissen erkennt man ihn, wie er mit einer Sprühdose in der Hand „Nieder mit dem IS!“ an eine Hauswand schreibt. 120 Kilometer östlich sitzt Mohammad zusammen mit Kollegen in einer Werbeagentur vor dem Computer, zeichnet Karikaturen, druckt Plakate. Ein paar hat er auf seinem Computer in Deutschland gesichert: Da sieht man eine Greifzange, die Syrien gefangen hält, der eine Arm symbolisiert Assad, der andere den IS, darunter steht: „Assad und IS – zwei Seiten derselben Medaille“.
„Es gibt keine kleineren und größeren Übel in Syrien, wie ihr im Westen euch das oft zurechtlegt“, sagt Mohammad. „Der Feind ist der Totalitarismus.“ Und dann sagt er noch, dass sie damals natürlich Schiss gehabt hätten, aber der Freiheitsdrang sei nun mal stärker gewesen. „Wir waren bereit, unser Leben zu riskieren, damit die Menschen von diesem Wahnsinn verschont bleiben!“ Damals hatten sie niemandem erzählt, was sie tun. Nicht mal den Eltern – die sollten weiterhin denken, dass Mohammad in der Agentur und Aghiad in einem Internetcafé arbeiteten.
Mohammad entwarf für sie ein Logo, dafür boten sie ihm einen Job
Es ist schon dunkel, als die vermummten IS-Kämpfer Mohammad im Februar 2015 aus seiner Wohnung zerren und verschleppen. Wahrscheinlich habe er nie solche Angst gehabt, sich dem Tod nie so nahe gefühlt wie in dieser Nacht, sagt Mohammad heute. „Ich hatte bestimmt in 100 Fällen gegen ihre kruden Gesetze verstoßen – jeder einzelne wäre ein Grund gewesen, mich zu exekutieren.“
Doch statt vor den Henker führen sie Mohammad vor einen PC. Er soll nicht sterben, er soll designen. Und zwar jetzt und hier ein Logo für die neu gegründete IS-Nachrichtenagentur „Euphrat-News-Agency“. Bitte, sagt der IS.
„Ich weiß, das klingt wie ausgedacht“, sagt Mohammad. „Ich hatte damals ja selbst gedacht, die verarschen mich. Dann habe ich ihnen das schönste Logo aller Zeiten entworfen, sie haben es geliebt.“ Die Linse einer Kamera, umrandet von einem blauen Schweif, einer Welle, die den Fluss Euphrat symbolisieren soll. Dafür boten sie ihm beim IS einen Job an und ein Haus, ein Auto, ein Gehalt in Dollar. Sie gaben ihm drei Tage Zeit, das Angebot zu überdenken. Er braucht nur einen, um sich zur Flucht zu entschließen. In die Türkei, wohin ihm sein kleiner Bruder im November folgte.
Durch ein Leak im IS hatte der erfahren, dass er auf der Todesliste steht. Einen Monat später, am 4. Dezember 2015, wird der Deutsche Bundestag beschließen, Aufklärungsflugzeuge nach Syrien zu schicken, die der Koalition im Kampf gegen den IS helfen sollen. Da erstreckt sich das IS-Gebiet schon längst gleich einer vielgliedrigen schwarzen Krake über die Landkarte.
Sie wollen zu Ende, was sie selbst begonnen haben
Wie das Bildnis einer Ikone hängt das Poster mit dem Gesicht von Naji Jerf an der Wand in Mohammads Wohnzimmer. „R.I.P. Onkel“ steht daruntergeschrieben. „Unser Schutzpatron“, sagt Mohammad fast andächtig, wenn man ihn nach dem Bild fragt. „Quasi der Erfinder des Ziviljournalismus“, erzählt er über den bekannten syrischen Journalistentrainer, der die Al-Kheder-Brüder in der Türkei bei sich aufnimmt. In Gaziantep, in Südostanatolien, direkt an der syrischen Grenze, wo heute mehr als 350 000 geflüchtete Syrer leben. Ein friedliches Fleckchen Erde, nah genug an Syrien, um die Revolution weiter zu unterstützen, weit genug weg, um dem Terror zu entkommen. Denken sie.
Mit Hilfe Naji Jerfs produzieren die Bürgerjournalisten das Satiremagazin „Dabaa“, eine Parodie auf die IS-Propagandazeitung „Dabiq“. Statt Propaganda drucken sie Aufrufe zum Widerstand und Karikaturen. Auf einer steht ein Professor mit Zottelbart und bluttriefender Machete und erklärt: „Wenn jemand Kopfschmerzen hat, köpft ihn. Wenn jemand Leishmaniose hat, verbrennt ihn.“ Der IS ist nicht die Medizin, sondern der Virus! Die PDF-Dateien haben die Brüder heute auf der Website von Sound and Picture verlinkt. Naji Jerf war es auch, der die jungen Journalisten dazu motivierte, die Online-Portale „Raqqa Being Slaughtered Silently“ (RBSS) und „Sound and Picture“ zu gründen, die von nun an live aus dem IS-Gebiet berichten sollten. Mit dem Ziel, den Menschen in Syrien die Stimme zurückzugeben, die der IS ihnen genommen hat! Zu Ende bringen, was sie selbst begonnen haben: eine demokratische Revolution!
Eine, deren Ende Naji Jerf nicht mehr miterleben wird. Am 27. Dezember 2015 wird er in Gaziantep auf offener Straße erschossen. Bei Tageslicht, 200 Meter entfernt von der Polizeistation. Frankreich hatte ihm bereits Asyl zugesagt.
Er ist der Nächste, so stand es in der SMS und auf der Hauswand
Für Mohammad und Aghiad al Kheder ist das ein Schock und die endgültige Gewissheit, nachdem der IS bereits im November zwei Kollegen in Gaziantep die Köpfe abgeschnitten hatte: Die Mörder lauern uns auf, auch in der Türkei. „Das war der Moment, in dem ich wusste, ich bin der Nächste“, sagt Mohammad. So hatten sie es ihm per SMS geschrieben und auf die Hauswand.
Grund genug für das deutsche Konsulat in Istanbul, den beiden Brüdern und 20 Mitstreitern Schengen-Visa auszustellen, mit denen sie im Januar 2016 die Türkei in Richtung Deutschland verlassen konnten. Das Auswärtige Amt bestätigte dem Tagesspiegel, dass in Notfällen „nach gründlicher Abwägung aller Gesichtspunkte des jeweiligen Einzelfalls“ Visaentscheidungen getroffen werden können, die „über die internationalen Verpflichtungen Deutschlands hinausgehen“.
Wie sicher sind die beiden Brüder heute? Wortlos öffnet Mohammad einen weiteren Ordner auf seinem Laptop, den er etwas zynisch „Leserbriefe“ genannt hat. Es erscheint eine Screenshot-Sammlung. Facebook, Twitter, E-Mail. Eine Art Todesdrohungen-Best-of. „Unsere Schwerter sind gewetzt, unsere Wölfe sind euch näher, als ihr glaubt!“, oder „Ihr Ungläubigen könnt der Strafe Allahs nicht entkommen, wir finden euch, wo immer ihr seid!“ steht da in 20 Ausführungen. Und das sind nur die Nachrichten des letzten Monats.
Früher ging er gerne feiern, heute ist er ein Stimmungskiller
Mohammad zündet sich die nächste Marlboro an. „Man gewöhnt sich dran. Wir wussten ja, auf was wir uns einließen, als wir dem IS den Kampf erklärt haben.“ Er wirkt abwesend, ein bisschen wie ausgesetzt, als er an diesem windigen Abend auf die Straße der Stadt tritt, deren Name zum Schutz der Brüder nicht genannt werden soll. Die Stadt, in der ihn niemand kennt. Er läuft über Kopfsteinpflaster, vorbei an einem Intimissimi-Werbeplakat, von dem eine leicht bekleidete Adriana Lima lächelt, vorbei an Bars, in denen junge Leute sitzen. Gern würde er sich dazusetzen, reden, feiern. Früher, sagt Mohammad, sei er viel auf Partys gegangen, habe auch mal getrunken. „Heute“, sagt er, „bin ich wahrscheinlich ein Stimmungskiller.“ Wer will schon beim Biertrinken über von Bomben zerfetzte Menschen und Enthauptungen reden.
Dann vibriert sein Samsung Galaxy. Mohammad zuckt kurz zusammen. „Sorry“, entschuldigt er sich wieder und schiebt dann hinterher: „Ist Mossul-Mohammad, er hat die Protokolle fertig, die morgen bei der BBC erscheinen sollen.“ Mohammad muss heim, übersetzen: vom Arabischen ins Englische.
Die Welt soll die Wahrheit erfahren - über den IS, Assad, die Russen
Am nächsten Morgen wird die BBC auf ihrer Homepage Gesprächsprotokolle aus dem vom IS besetzten West-Teil Mossuls publizieren. „Mossul-Offensive: Eingeschlossene Zivilisten fürchten sich vor dem, was als Nächstes kommt“ lautet der Titel über dem Artikel. Der Autor heißt Faisal Irsahid. Nicht Mohammad oder Aghiad al Kheder. Aber das ist den beiden egal. „Würde es mir um Ruhm und Geld gehen, hätte ich 2011 nicht gegen Assad demonstriert oder hätte das Angebot des IS angenommen“, sagt Mohammad und grinst vielleicht zum ersten Mal an diesem Tag. Ihm geht es noch immer darum, dass die Welt die Wahrheit erfährt über die Verbrechen des IS, die von Assad, den Russen und der Koalition. „Ich will, dass die Menschen hinsehen, wenn diese Verbrecher unsere Heimat zerstören“, sagt er.
So, wie sie damals hingesehen haben. Am 11. Juni 2011. Dem schönsten Tag seines Lebens.
Die Brüder gefährden ihr Leben, damit die Welt die Wahrheit erfährt IS-Kämpfer führten Mohammad vor einen PC – er entwarf ihnen ein schönes Logo