Hauptstadt des IS: Raqqa: Die gekidnappte Stadt
Raqqa galt in Syrien als multikulturell und liberal. Dann wurde es zur Kapitale des „Islamischen Staats“ – der Terror ist heute Alltag. Angesichts der aktuellen Lage publizieren wir hier unser Stück, in dem Menschen aus Raqqa zu Wort kommen, aus dem vergangenen November erneut.
Raqqa, auf das die französische Luftwaffe jetzt verstärkt Angriffe fliegt, galt lange als multikulturell und liberal. Im vergangenen November sprach unser Autor mit Menschen aus Raqqa. Angesichts der aktuellen Lage veröffentlichen wir seinen Text hier erneut.
Kurz nach Beginn der syrischen Revolution im März 2011 war es in Raqqa ruhig. Dabei wurde der Widerstand gegen das Assad-Regime im weit entfernten Hama, im Südwesten Syriens, immer intensiver. Zum ersten Mal erschoss die Polizei demonstrierende Kinder. Und die ganze Welt fragte sich, wohin dieser staatliche Terror gegen den wütenden, aber friedlichen Protest führen würde.
Am Euphratbogen hatten sie damals andere Probleme: Raqqa rätselte über das Mysterium einer Uhr. Der zentrale Platz der Stadt ist ein Kreisverkehr, und auf der Verkehrsinsel in der Mitte steht Raqqas Wahrzeichen: Zeitanzeige, Kriegsdenkmal und Versammlungsort in einem. Wenn sich ein Raqqawi, wie die Bewohner der Stadt heißen, verabreden will, heißt der naheliegende Vorschlag: „Sehen wir uns an der Uhr?“ Der Obelisk mit dem Ziffernblatt ist nicht zu übersehen oder zu überhören; zu jeder Stunde läutet es.
Doch mit Beginn der noch fernen Revolution blieb die Uhr stehen. Über Nacht wechselte das Ziffernblatt die Farben. Niemand wusste, warum. Eines Tages war die Uhr blau wie der Euphrat, am nächsten Morgen gelb, dann pechschwarz. War es vielleicht ein Künstler, der eine zeitlose Botschaft sandte?
Eine funktionierende Stadtverwaltung, die eine Reparatur hätte veranlassen können, gab es nie in Raqqa. Und die normalerweise übereifrige Staatssicherheit hatte gerade anderes zu tun. „Wenn die Uhr von Raqqa sich nicht mehr dreht, hat die Stunde von Syrien geschlagen“, schrieb eine Lokalpatriotin in einem Internetforum am 8. Juni 2011 um 18.16. Die Uhr war da immer noch kaputt.
Raqqa liegt im Zentrum Syriens. Gegründet wurde die Stadt etwa im Jahr 240 vor Christus von den alten Griechen – als Kallinikos. Unter den byzantinischen Eroberern bekam sie später den Namen „Stadt des Löwen“, Kaiser Leo I. wollte sich damit ein Denkmal setzen. Die muslimischen Abbasiden nannten den Ort dann al-Raqqa. Übersetzt bedeutet das „platter Stein“. Ein Symbol dafür, dass an den Ufern des Euphrat alle Kulturen des Nahen Ostens zusammenkommen. Die verschiedenen Einflüsse haben sich in der Architektur niedergeschlagen.
Der Kreisverkehr dient den Dschihadisten als Bühne für ihre blutigen Inszenierungen
Im Stadtkern, unweit der Uhr, schlängeln sich Gassen durch die Altstadt, die von teils noch erhaltenen alten Mauern eingegrenzt wird. Die Häuser, dicht an dicht, schützen im Sommer vor Hitze – und vor dem Lärm in den nachträglich gezogenen Verkehrsachsen. Eine Volkszählung im Jahr 2010 ergab, dass 200.000 Menschen in Raqqa leben. Wie viele es heute sind, wissen nur die Bürokraten des „Islamischen Staates“.
Abu Mohammed ist gebürtiger Raqqawi und dokumentiert unter Lebensgefahr die Verbrechen der Miliz. Der Aktivist wohnt immer noch in Raqqa. Per Skype meldet er sich aber aus einer Stadt in Nordsyrien. Abu Mohammed schreibt für die Internetseite „Raqqa wird lautlos geschlachtet“ – im Arabischen klingt dieser Name poetisch, er hat eine an die Leser appellierende, mahnende Wucht. Ein gutes Dutzend Bürgerjournalisten zählt die ehrenamtliche Redaktion, die nur außerhalb der Hauptstadt des IS ihre Texte verfasst und bearbeitet. Abu Mohammeds Pseudonym steht auf der Todesliste der Terroristen.
„Der Kreisverkehr an der Uhr dient den Dschihadisten als Theaterbühne“, erzählt Abu Mohammed. Immer wenn er zu seiner Familie in Raqqa reist, wenn er die Identitätskontrollen an den Eingängen zur Stadt überstanden hat, kommt er am Obelisken vorbei. Via Skype schickt er den Link zu einem Video. Darin sieht man drei Leichen am Fuße des Obelisken. Ein bärtiger Mann posiert mit seinem Kleinkind vor den toten Feinden. Alltag unter der Herrschaft des IS. „Ein Tagelöhner erhält mittlerweile ein festes Einkommen, fast täglich muss der alte Mann die Leichen der IS-Gegner nach der ,Show’ wegräumen.“ Danach säuberte er den Platz mit Chemikalien und Wasser.
Neulich gab es wieder eine Parade der Dschihadisten mit Panzern und schwarzen Fahnen. Sie ketteten Leichen hinten an ihre Fahrzeuge und schleiften sie durch die Straßen. „Die Panzerketten hinterlassen schwarze Spuren auf dem Asphalt.“ Alle Raqqawis würden so an die ihnen auferlegten Pflichten erinnert.
Der Kulturpalast ist zum Zuchthaus geworden
Aus dem Kulturpalast hätten die Fanatiker ein Zuchthaus gemacht. Das ehemalige Gerichtsgebäude sei nun das „islamische Gericht“. Auch unter Assad habe es dort keine gerechten Urteile gegeben. Neulich wurde Abu Mohammed in den Zeugenstand berufen. Die bärtigen, selbst ernannten Richter hätten sich in den Büros eingerichtet, als wären sie schon immer dort gewesen. Im Gefängnis, in dem früher die Staatssicherheit folterte, täten dies nun die Dschihadisten. „Es hat sich nicht viel im Antlitz der Stadt verändert.“
Eine anonyme Frau hat mit einer versteckten Kamera Aufnahmen in Raqqa gemacht, die man im Internet finden kann. Auf einem Video ist ein Park zu sehen: Eine Familie sitzt auf der Bank, Mutter und Vater tragen eine Kalaschnikow – eine privat organisierte Sittenpolizei. Die bewaffnete Frau kommt der Kamera immer näher, irgendwann sieht man nur noch ihre schwarze Robe im Bild. „Bedecke deine Nase“, sagt sie zu der anonymen Filmemacherin.
Selbst rund um den Obelisken herrscht zeitweise Treiben wie eh und je. Dort verkaufen die Händler Obst, Gemüse und Fleisch. Der IS legt die Preise fest. Regelmäßig begutachten die Dschihadisten die Preisschilder und befragen die Kunden, ob jemand zu viel verlange. Enge Jeans gibt es auf dem Markt nicht mehr zu kaufen, auch keine DVDs mit Filmen aus Holly- oder Bollywood. Aphrodisiaka aus Pflanzen und Wurzeln, wie sie eigentlich zu jedem arabischen Souk gehören, schon gar nicht. „Irgendwie geht das Leben weiter“, sagt Abu Mohammed. Die Raqqawis seien Weltmeister darin, sich mit einer höheren Gewalt zu arrangieren, sie hätten jahrzehntelange Erfahrung mit Unterdrückung gesammelt.
Ein Ort, an den sich viele gläubige Raqqawis regelmäßig zurückzogen, war der Schrein des Amar Ben Jasser. Das Grab befindet sich in einem Moscheekomplex mit einer blauen Kuppel und türkisen Mosaiken. Im Marmorboden und in der Fontäne im Hof spiegelt sich das Gebäude. Im Sommer kamen hier auch weniger gläubige Raqqawis zu Besuch, der Abkühlung wegen.
Die Kinder besuchen nun alle Koranschulen
Ben Jasser war ein früher Gefährte des Propheten Mohammed, einer der Ersten, die zum Islam übertraten. Nach dem Tod Mohammeds ließ er sich in Raqqa nieder und schwor dem Imam Ali seine Treue. Deswegen verehren ihn Sunniten und Schiiten gleichermaßen. Der Stadtheilige, so der Glaube vieler Raqqawis, beschütze sie vor dem Bösen und erleichtere das Leben unter der Unterdrückung. Seine „Baraka“, also Segenskraft, gilt als fester Bestandteil von Raqqas Seele.
Doch die spirituelle Verbindung zum Heiligen liegt in Trümmern. Die IS-Terroristen haben den Schrein und alle Wallfahrtsorte in der Nähe wegen angeblicher „Gotteslästerung“ zerbombt. Die Videos der Sprengungen haben sie ins Internet gestellt.
Suaad Nawfel ist eine strenggläubige Muslima aus Raqqa. Vor einem Jahr hat die ehemalige Lehrerin Schutz in den Niederlanden gefunden. Schon damals, erzählt sie, hätten die Dschihadisten versucht, die Stadt einzunehmen. Da gab es den IS in seiner heutigen Form noch gar nicht. „Raqqa liegt strategisch günstig, unweit vom Irak, verfügt über wichtige Wasserressourcen und ergiebige Ölfelder“, erklärt sie. „Es eignet sich sehr gut als logistische Drehscheibe des Terrors.“
Suaad schreibt lieber, als dass sie sich am Telefon oder per Skype unterhält. Sie schickt E-Mails, Nachrichten – und lange Essays über die Sünden der Dschihadisten. Über zwangsverschleierte Mädchen, Menschenhandel mit geraubten Frauen, gekreuzigte Männer, die in der Sonne verdursten. Der IS habe ihren Schwager seit mehr als einem Jahr verschleppt. „Diese Schergen repräsentieren mitnichten den Islam.“ Das seien Verbrecher, so schlimm wie das Regime des „blutigen Baschar al Assad“.
Dann schickt Suaad noch ein Bild von sich. Darauf hält die Frau mit dem violetten Kopftuch ein selbst gemaltes Schild in die Höhe. „In anderen Ländern fallen Regentropfen vom Himmel, in meinem Land Fassbomben“, steht in arabischen Schriftzeichen darauf. Die Luftwaffe Assads flog zu diesem Zeitpunkt gerade wieder „Anti-Terrormissionen“ in Aleppo und um Damaskus, ließ den IS in Raqqa aber gewähren.
Suaad vermisst ihre ehemalige Schule. Die Kinder besuchen nun alle Koranschulen. Dort würden sie als Kämpfer ausgebildet, durchliefen eine Gehirnwäsche – man erzähle ihnen Gruselgeschichten. Vor allem aber sehnt sie sich nach der Gasse, in der sie einst daheim war.
Suaad wohnte in der Altstadt, unter einem Dach mit dem Vater, gleich neben einem traditionellen Ofen. Die Nachbarinnen brachten Brot zum Backen dorthin – obwohl sie längst alle Elektro- und Gasöfen besaßen, aus der Türkei importiert. Jeden Nachmittag hockten die Frauen um den Steinofen herum, Suaad stieß am Wochenende dazu. Bei frischem Brot, selbst gemachten Falafel mit Zataar und frischem Minztee lästerten sie über die Nachbarin, die beim Fegen immer die unter dem Orangenbaum spielenden Kinder verscheuchte.
Unter der Woche, wenn Suaad um halb acht zu ihrer Schulklasse aufbrach, kümmerte sich ihr Vater um das warme Brot. „Gott hab ihn selig“, schreibt sie. Er sei vor ihrer Flucht verstorben. „Gut, dass er nun an einem besseren Ort ist.“
Fünf Mal am Tag bringt der „Islamische Staat“ Raqqa zum Stillstand. Immer dann, wenn der Muezzin zum Gebet ruft. Alle Händler schließen ihre Garagenläden und eilen zur Moschee oder zu den öffentlichen Gebetsorten, die es in fast jeder Straße gibt.
Hörte er den Muezzin, versteckte sich Mohammed Saleh immer in Hinterhöfen oder bei Freunden, manchmal blieb er zur Gebetszeit von vornherein zu Hause. Ein Akt des leisen Widerstands. „Ich kann nicht so gut beten, das wäre den Terroristen schnell aufgefallen“, sagt er.
Als der IS die Stadt übernahm, floss Blut den Euphrat hinunter
Saleh bezeichnet sich als Laizist, ja als Atheist. Er stehe für die Philosophie seiner Geburtstadt: Jeder darf so sein, wie er will. „Nicht so wie in Deir ez-Zor“, sagt er. Die beiden mittelsyrischen Städte pflegen von jeher eine Feindschaft. Auf der einen Seite das konservative Deir ez-Zor, auf der anderen das liberale Raqqa, in dem alle ihren Platz hatten, Sunniten ebenso wie Alawiten und Kurden. In der Innenstadt betrieb früher die christliche Gemeinde eines der größten Kulturzentren Syriens.
Mohammed Saleh hat zehn Jahre Stadtentwicklung in Raqqa verpasst. In den 90er Jahren opponierte er gegen das Assad-Regime. Die Staatssicherheit sorgte für einen Schauprozess. Das Verfahren dauerte nicht lange, da saß er hinter Gittern – in jenem Gefängnis, wo heute die Gefangenen der Islamisten auf ihren Tod warten. „Ich kann nicht anders, ich sage, was ich denke.“
Welcher Ort ist typisch für Raqqa? Saleh überlegt ein wenig. Dann entscheidet er sich für die Uferpromenade am Euphrat. Der Fluss sei schon seit jeher die Lebensader der Stadt. Ohne das Wasser gebe es kein Raqqa. Und ohne die Uferpromenade kein Nachtleben. Grelle, flackernde Neonlichter, in Blau, in Rosa, in Gelb, führten die Feierwilligen früher zu den örtlichen Bars und Diskotheken. Salehs Lieblingsbar hieß „Karnak“, aber er ging auch gern ins „Taj“. Das bedeutet Krone, und dort kam auch er sich wie ein König vor. „An der Corniche, entlang des rechten Euphratufers, hat es so viele Etablissements gegeben wie in der Millionenstadt Damaskus“, erinnert er sich.
Im April 2014, kurz nachdem die IS-Miliz die Macht in der Stadt komplett übernahm, floss Blut den Euphrat hinunter. Am Steg, an dem üblicherweise die Kinder ins Wasser springen, töteten die Terroristen hunderte Rebellen, die gegen die Assad-Truppen gekämpft hatten und sich nun dem Kalifat geschlagen geben mussten. Mit Kopfschüssen im Sekundentakt wurden die „Ungläubigen“ niedergestreckt. Ein Stoß beförderte die zuckenden Körper in den Strom des Flusses. Saleh war da noch in Raqqa.
Seit einigen Wochen ist auch er Flüchtling. Mit seiner Familie sitzt er im südtürkischen Gaziantep fest und wartet auf das Ende des Kriegs. Atheist, der er ist, glaubt er noch immer nicht an den Himmel. Doch die Hölle, sagt Saleh, habe er schon gesehen: die Hauptstadt des „Islamischen Staats“.