Sechs Jahre Krieg: Findet Syriens Leid kein Ende?
Sechs Jahre Krieg haben Syrien zerstört. Hunderttausende sind ums Leben gekommen, Millionen auf der Flucht. Und Frieden ist nicht in Sicht. Wie erleben die Menschen den Konflikt, der nicht enden will?
Gewalt. Not. Flucht. Trümmer. Terror. Angst. Tod. Das Grauen in Syrien kennt viele Worte des Schreckens. Der Alltag für Millionen Menschen ist apokalyptisch. Erst am Samstag kostete wieder ein doppelter Selbstmordanschlag in Damaskus mindestens 46 Menschen das Leben.
Was als ein friedlicher Aufstand gegen Machthaber Baschar al Assad Mitte März 2011 begann, ist längst zu einem gnadenlosen Kampf vieler externer Mächte ausgeartet, die völlig gegensätzliche Interessen verfolgen. Sie haben ebenso wie die Terrormiliz „Islamischer Staat“, Al Qaida und andere Extremistengruppen das Land regelrecht gekapert. Das syrische Desaster hat damit eine Wucht und Dimension erreicht, die selbst Berufsoptimisten vom Glauben abfallen lässt.
Die Leidtragenden sind die Menschen. Frauen, Kinder und Männer müssen Unfassbares erdulden. Bombenhagel und Artilleriebeschuss, Anschläge und Scharfschützen – viele Syrer wissen nicht einmal, ob sie den nächsten Tag überhaupt erleben werden. Abertausende haben ihr Zuhause verloren. Wer es nicht über die Grenzen Richtung Jordanien, Libanon oder Türkei geschafft hat, irrt im Land umher, haust bestenfalls in behelfsmäßigen Notunterkünften und leidet häufig Hunger. Ohne die Unterstützung von Hilfsorganisationen kämen die meisten kaum über die Runden.
Aber bei Weitem nicht alle Bedürftigen können erreicht werden. Zwischen 700.000 und einer Million Menschen harren in belagerten Gebieten aus. Das heißt, die dort Gefangenen müssen ohne jede Unterstützung mit katastrophalen Zuständen fertig werden. Die Not ist mancherorts so groß, dass Kinder sich sogar wünschen, zu sterben und in den Himmel zu kommen, um endlich mehr essen und spielen zu können.
Wer heute sechs Jahre alt ist, kennt nichts anderes als Gewalt und Elend
Die Heranwachsenden sind ohnehin schon jetzt die großen Verlierer des Krieges. Wer heute sechs Jahre alt ist, kennt nichts anderes als Gewalt und Elend, hat Schlimmes wie den Tod von Angehörigen und Freunden erlebt und traumatische Erfahrungen gemacht, die dauerhaft zu erheblichen psychosomatischen Problemen führen können. Das birgt die große Gefahr, dass eine ganze Generation „verloren“ geht und sich radikalisiert.
Denn auf eine bessere Zukunft können die meisten Kinder nach wie vor nicht hoffen. Vor allem, weil ihnen der Zugang zu Bildung und Wissen verwehrt ist. Millionen Mädchen und Jungen gehen nicht mehr zur Schule. Und das bereits seit Jahren. Sei es, weil ihre Eltern aus Angst vor gezielten Angriffen sie nicht gehen lassen. Oder weil Kinder arbeiten müssen, um zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen. Denn auch das prägt Syrien nach sechs Jahren Krieg: große Armut. Die Menschen verelenden immer mehr. Es gibt keine Jobs, sogar Lebensnotwendiges ist für viele unerschwinglich. Laut Experten liegt die Armutsrate mittlerweile bei bedrückenden 85 Prozent.
Dass sich in Syrien bald etwas zum Besseren wendet, gilt als sehr unwahrscheinlich. Assad hat mehrfach bekundet, keinesfalls auf seine Macht verzichten und möglichst das ganze Land zurückerobern zu wollen. Gelingen dürfte ihm das zwar nicht, aber klar ist: Der Herrscher in Damaskus und seine Soldateska sind seit der Schlacht um Aleppo wieder auf dem militärischen Vormarsch – vor allem dank der russischen und iranischen Verbündeten. Assads Gegner, unterstützt von Ländern wie Saudi-Arabien und der Türkei, wiederum geraten ins Hintertreffen. Ihnen bleiben nur noch wenige Regionen als Rückzugsgebiet.
Frust und Zweifel sind mitunter so groß, dass sich viele Aufständische sunnitischen Islamisten anschließen. Die religiösen Fundamentalisten verfügen nicht nur über einige Schlagkraft, sondern besitzen durchaus Glaubwürdigkeit im Kampf gegen den verhassten Despoten Assad. Denn das gehört ebenfalls zu Syrien im Frühjahr 2017: Die Menschen fühlen sich von der Welt im Stich gelassen. Haben jede Hoffnung aufgegeben, dass ihr Leid und Dasein als Geiseln der Mächtigen bald endet.
Nicht zuletzt, weil alle bisherigen politischen Vermittlungsversuche sang- und klanglos scheiterten. Die Diplomatie findet einfach kein Beruhigungsmittel. Selbst die seit Ende 2016 geltende Waffenruhe wird immer wieder gebrochen. So bleibt Frieden für das geschundene Land ein unerfüllter Traum. Der Krieg geht ins siebente Jahr.
ALAA AUS ALEPPO, NEUN JAHRE ALT
Ich heiße Alaa und bin neun Jahre alt. Ich war noch zu jung, als wir unser Haus in Ost-Aleppo verlassen mussten, deshalb erinnere ich mich nicht mehr daran. Aber meine Mutter sagt, es war sehr schön und groß, ich hatte sogar mein eigenes Zimmer.
Als die Kämpfe immer näher kamen, mussten wir fliehen. Seitdem ist unsere Familie sechs Mal geflohen, jedes Mal nur mit der Kleidung, die wir gerade anhatten. Und jedes Mal, wenn wir wieder fliehen mussten, dachte ich: Das ist jetzt das letzte Mal.
Ich werde nie die Nacht vergessen, in der wir unser letztes Zuhause im Viertel 1070 von Aleppo verlassen haben. Tagsüber hatte ich mit meinen Brüdern gespielt. Dann hörten wir laute Explosionen, die immer näher kamen und immer lauter wurden. Wir haben alle im Badezimmer Schutz gesucht. Das Haus hat gebebt. Wir haben uns an unsere Mutter geklammert und geweint. Wir hatten schreckliche Angst. Meine Mutter sagte, dass wir weglaufen müssen. Ich hatte nicht einmal Zeit, um meine Puppe Judi zu holen.
Wir mussten uns beeilen und kletterten auf einen Lastwagen zusammen mit vielen anderen Leuten, wie Vieh. Wir sind zu Verwandten in einem anderen Viertel von Aleppo gefahren und zwei Wochen bei ihnen geblieben. Die Wohnung war sehr klein. Da sagte mein Vater, wir müssen noch einmal weiterziehen. Wir sind zu einer Stadt namens Bseireh bei Tartus gefahren. Es war eine sehr lange Fahrt. Ich war so müde, dass ich fast die ganze Zeit geschlafen habe. Als ich aufgewacht bin, musste ich dauernd an Judi denken. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich sie in Aleppo zurückgelassen habe.
Als wir hier angekommen sind, fanden wir eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern. Wir haben keine Möbel. Wir schlafen auf Matratzen auf dem Boden. Aber meine Mutter sagt: „Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf.“ Mein jüngerer Bruder Ahmad und ich kuscheln uns nachts auf unseren Matratzen aneinander, damit uns wärmer wird. Mein Vater hat zum Glück Arbeit auf einer Baustelle gefunden. Er wird bald etwas Geld verdienen, um uns Winterjacken zu kaufen.
Ich mag es, hier zu sein, weil es hier keinen Lärm gibt, keine Explosionen. Jetzt habe ich mehr Zeit zum Lernen, zum Spielen mit meinen Geschwistern.</SB>
Ich weiß, dass Deutschland sehr weit weg ist, hinter dem Meer. Ist Deutschland schön? Ich habe die Erwachsenen von Deutschland erzählen gehört. Sie sagen, dass viele Menschen aus Syrien dort hingegangen sind. Ich hoffe, dass ich irgendwann wieder in mein Zuhause in Aleppo zurückkehren kann und nie mehr weg muss. Ich hoffe auch, dass alle syrischen Kinder, die nach Deutschland gegangen sind, in der Schule und glücklich sind und liebe Freunde haben. (Dokumentiert mithilfe von Unicef)
ABDUSATTFAR SHARAF, APOTHEKER IN ERBIN
Mein Name ist Abdusattfar Sharaf. Ich bin 33 Jahre alt und habe eine Apotheke in Erbin. Die Stadt liegt nur fünf Kilometer außerhalb von Damaskus. Ich bin außerdem Geschäftsführer eines Bildungsprojekts, das von „Adopt a Revolution“, einer Initiative zur Stärkung der Zivilgesellschaft, und Medico International unterstützt wird. Die dort tätigen Aktivisten dokumentieren, wie viele Menschen verwundet werden und versuchen, sie zu versorgen. Darüber hinaus sind wir für fünf Schulen, ein Frauenzentrum, ein Kulturhaus und einen Kindergarten zuständig. All diese Einrichtungen haben den Namen „Alsalam Foundation“, was übersetzt „Friedensförderung“ bedeutet.
Vor einigen Tagen wurde ich angeschossen. Ich bin an der Brust verwundet worden, aber es ist zum Glück nicht schlimm. Der Schütze war ein Mitglied der Al-Nusra-Front. Doch die Islamisten behaupten, er sei nicht mehr ihr Kämpfer.
Die Situation in Erbin ist fürchterlich. Die Kampfjets bomben jeden Tag, allein in den vergangenen drei Tagen gab es 170 Luftangriffe, geflogen von russischen und syrischen Flugzeugen. Das Regime versucht, den östlichen Teil von Damaskus zu erobern und die Tunnel zwischen Erbin und der Hauptstadt zu zerstören. Durch diese Tunnel wird Lebensnotwendiges wie Wasser und Lebensmittel transportiert. Anders geht es nicht. Die Not ist groß. Heute leben in Erbin nur noch 50.000 Menschen, 2011 waren es mehr als 90.000.
Sechs Jahre nach Beginn des Aufstands ist die Hoffnung inzwischen gering, dass Assads Regime gestürzt wird. Die islamistischen Kräfte haben die Revolution und ihre Werte zerstört. Es ist wirklich sehr schwierig, auf diese Weise zu leben.
Aber wenn wir den Krieg verlieren, bekommen wir im ganzen Land Zustände wie im Militärgefängnis Saydnaya. In dessen Kerkern werden Menschen gefoltert und getötet.
NOUR ALNAASAN, ZAHNARZT AUS HOMS
Mein Name ist Nour Alnaasan. Ich bin 30 Jahre alt und Zahnarzt von Beruf. Von 2006 bis 2015 war ich als Freiwilliger für die Hilfsorganisation Syrischer Roter Halbmond tätig. Als im März 2011 die Revolution begann, koordinierte ich in Homs die Gesundheitspflege. Es war schon damals sehr schwierig und gefährlich, den Menschen zu helfen. Immer wieder und überall in der Stadt gab es Demonstrationen gegen die Regierung. Dabei wurden viele Leute verwundet, sodass wir uns um sie kümmern mussten.
Ich habe mit meinen Kollegen mehr als 30 Erste-Hilfe-Kurse geleitet, damit die Menschen notfalls eigenhändig Verletzte versorgen können. Später koordinierte ich die Katastrophenhilfe. Zu meinen Aufgaben gehörte es unter anderem, nach Absprache mit allen Seiten Hilfskonvois zu organisieren. Leider hat man uns mehrfach beschossen, viele freiwillige Helfer wurden verwundet, Dutzende sogar getötet.
Das liegt vor allem daran, dass die Aufgabe des Roten Halbmonds missverstanden wird. Die syrische Armee und ihre Milizen glauben einfach nicht, dass es freiwillige Helfer gibt, die einfach nur den Menschen helfen wollen – egal, welchem politischen Lager sie angehören. Das Regime ist überzeugt, dass wir mit unserer Arbeit nur die „Terroristen“ unterstützen wollen – so nennt die Regierung alle ihre Gegner. Deshalb wurden immer wieder Mitarbeiter des Roten Halbmonds verhaftet.
Und dann gibt es noch Daesch, den „Islamischen Staat“. Die Terrormiliz untersagt jede Hilfe in den von ihnen kontrollierten Gebieten in Syrien und bedroht die Helfer.
Durch den Krieg ist leider meine Zahnarztpraxis zerstört worden. Unter den extrem schwierigen Bedingungen war es unmöglich, eine neue aufzumachen. Außerdem musste ich um meine Sicherheit fürchten. Ganz abgesehen davon, dass es immer wieder die Anweisung gab, ich solle mich zum Wehrdienst melden. Aber das war für mich undenkbar. Ich kann nicht auf unschuldige Menschen schießen und sie womöglich sogar umbringen.
Deshalb haben meine Familie und ich entschieden, unsere Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu flüchten. Es war eine sehr tragische Fahrt. Sie führte uns vom Libanon über die Türkei und Griechenland bis nach Deutschland. 22 Tage waren wir insgesamt unterwegs.
Im Juli 2015 begann schließlich mein neues Leben hier in der Bundesrepublik. Das heißt zwar: Sprache lernen, sich integrieren, um eine Zulassung als Arzt kämpfen. Aber ich hoffe, dies alles zu schaffen. Und eine Chance zu bekommen, in Deutschland auch beruflich Fuß zu fassen.
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