Interview mit UN-Mitarbeiterin in der Türkei: "Die meisten Flüchtlinge haben nicht genug zu essen"
Die Mitarbeiterin des Welternährungsprogramms Nesrin Semen über die Lage der Flüchtlinge in der Türkei, die Angela Merkel am Samstag besucht.
Was versprechen sich Syrer und Türken von Angela Merkels Besuch?
Dazu kann ich Ihnen als Vertreterin des Welternährungsprogramms nichts sagen. Wir begrüßen aber jeden Schritt, der dazu beiträgt, Aufmerksamkeit auf die harte Lebensrealität von Syrern zu lenken, die in der Türkei lebenden - und auf das, was türkische Gemeinden leisten, die die Menschen aufnehmen.
Wie ist die Lage der Syrer in Gaziantep?
In der Türkei leben momentan rund 2,7 Millionen Flüchtlinge – viele von ihnen im Südosten des Landes. Und 90 Prozent sind nicht in Camps untergekommen, sondern in armen Gemeinden wie zum Beispiel der Stadt Gaziantep. Der Alltag der Syrer in der Türkei ist schwierig, und die Situation verschärft sich immer weiter.
Inwiefern?
Es ist mühsam für die Flüchtlinge Arbeit zu finden. Einige Familien müssen in verlassenen Gebäuden oder fensterlosen Verschlägen oder leeren Geschäften leben. WFP und Partnerorganisationen wie die Türkische Rote Halbmondbewegung tun, was sie können, um den Ärmsten zu helfen. Zum Beispiel werden sie für das WFP-Gutscheinprogramm registriert, im Rahmen dessen sie elektronische Karten erhalten, um gesunde Nahrung für ihre Familien zu kaufen. Fakt ist jedoch, dass die meisten syrischen Flüchtlinge in der Türkei nicht ausreichend zu Essen haben. Ihre Zukunft ist ungewiss und auch arme Gemeinden, in denen die Flüchtlinge leben, spüren die Belastung deutlich.
Reicht die bisherige Hilfe aus, um die Menschen von einer weiteren Flucht Richtung Europa abzuhalten?
Je länger die Krise andauert, desto mehr Flüchtlinge kommen in die Türkei, die am Rande des Existenzminimums leben. Das sechste Jahr des Konflikts hat gerade begonnen, und die Lebensumstände der Syrer werden immer prekärer. Es ist schwer für sie, Arbeit in einen neuen Kulturkreis zu finden, dessen Sprache sie nicht beherrschen. Viele Flüchtlinge haben ihr Erspartes aufgebraucht und sehen sich dazu gezwungen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen, damit diese ein wenig dazuverdienen können.
Was brauchen die Flüchtlinge am meisten?
So banal es klingt, aber die Syrer benötigen am dringendsten eine langfristige, friedliche Lösung des Konflikts, damit sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Die Nachbarländer in der Region, dazu zählt auch die Türkei, schultern durch die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge eine immense Last, die wohl noch Jahre andauern wird. Für viele Schutzsuchende ist das Leben mittlerweile zu einer großen Herausforderung geworden, da sie größtenteils nur am Rande der aufnehmenden Gesellschaften leben. Eine politische Lösung des Konflikts muss daher oberste Priorität sein. In der Zwischenzeit können Hilfsorganisationen wie WFP den Menschen Stabilität und Zuversicht geben. Unsere Ernährungshilfe, mit der wir in der Türkei momentan etwa 250.000 Menschen unterstützen, ermöglicht den Menschen zum Beispiel nicht nur Zugang zu nahrhaftem Essen, sie gibt ihnen darüber hinaus auch einen gewissen Grad an Normalität und Würde. Deshalb ist gerade auch die große Unterstützung der Bundesregierung für die Menschen von ganz entscheidender Bedeutung.
Kümmern sich die Behörden an Ort und Stelle in ausreichendem Maße um die Bedürftigen?
Seit mehr als fünf Jahren gewährt die Regierung in Ankara Syrern Schutz. Mittlerweile lebt fast die Hälfte aller syrischen Flüchtlinge in der Türkei. Als registrierte Flüchtlinge erhalten sie kostenlosen Zugang zu Gesundheit und Bildung. Neue Gesetze sollen es ihnen ermöglichen, leichter Arbeit zu finden. Dennoch ist die hohe Zahl Schutzsuchender eine große Herausforderung, sowohl für die Regierung als auch für ihre Partner wie WFP. Deshalb muss dringend mehr getan werden.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit ihrer Organisation mit der Türkei?
WFP arbeitet ausgezeichnet mit der Regierung zusammen. Und wir sind stolz auf die Beziehungen, die wir mit wichtigen türkischen Akteuren aufgebaut haben. Unsere enge Kooperation mit dem Ministerium für Notfall- und Katastrophenmanagement (AFAD) in elf Flüchtlingscamps macht es möglich, dass wir mehr als 150.000 Menschen mit Ernährungshilfe erreichen können.
Und außerhalb der Camps?
Dort setzen wir stark auf die Zusammenarbeit mit Migrationsdiensten, dem Ministerium für Familie und Sozialpolitik, lokalen Vertretern und den Büros des Gouverneurs. So können wir besonders gefährdete Syrer ausfindig machen, um ihnen zu helfen. Diese Beziehungen werden auch eine sehr zentrale Rolle für unser Vorhaben spielen, in den kommenden Monaten 585.000 Menschen zu unterstützen, die nicht in Flüchtlingscamps leben.