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Perfektes Laufwetter herrschte beim ersten New York Marathon am 24.10.1976.
© Mauritius Images

Vorbild für Berlin: Wie der New York Marathon erfunden wurde

Abgesperrt! Parken verboten! Letzten Sonntag waren Berlins Straßen wieder voller Langstreckenläufer. Das große Vorbild: der New York Marathon. Wie dort 1976 alles begann.

Sie waren verrückt. Sie mussten verrückt sein. New York stand am Rande des Bankrotts, der Tourismus war im Keller – wer wollte schon in einer so kriminellen, drogenverseuchten Stadt Urlaub machen. Selbst die Einheimischen setzten ja lieber keinen Fuß in die Bronx (zu gefährlich) oder nach Brooklyn (zu langweilig). Manhattan war das konkurrenzlose Zentrum der heruntergekommenen Stadt. „Die meisten Leute“, schrieb die „New York Daily News“ im Rückblick, „wollten damals aus New York weg- und nicht dort herumrennen.“

Und jetzt wollte dieses Trüppchen von Männern zu diesem Zwecke ganz New York lahmlegen? Straßen und Brücken in allen fünf Stadtteilen sperren, nur damit ein paar Meschuggene ihre 42,195 Kilometer laufen konnten? Sollten Polizisten, die weiß Gott Dringenderes zu tun hatten, sie schützen?

Es gab ja schon einen Marathon. Aber der führte nur durch den Central Park und fand praktisch unter Ausschluss einer interessierten Öffentlichkeit statt. 127 Läufer nahmen für ein Startgeld von einem Dollar beim ersten Mal 1970 teil; nicht mal die Hälfte von ihnen hielt bis zum Ziel durch, wo die Sieger eine Zehn-Dollar-Uhr erwartete. Die Strecke war fad: vier Mal im Kreis. Dabei flogen ihnen ständig Frisbees vor die Füße, kreuzten Spaziergänger und Radfahrer ihren Weg. Und niemand stand am Rand, um Aufmunterung, Wasser oder eine Banane zu reichen. Einmal war der Gründer dieses Marathons, Fred Lebow, so entkräftet, dass er einem kleinen Jungen einfach seinen Schokoriegel aus der Hand riss. Pech gehabt.

Das Kronjuwel

Im Büro der New York Road Runners hängt ein großes Foto von Lebow. Davor sitzt George Hirsch und strahlt. Der 82-Jährige, groß, schlank und fit wie ein Laufschuh, ist seit 2005 Chairman jenes Vereins, der neben dem New York City Marathon („unser Kronjuwel“) Dutzende von Läufen in der ganzen Stadt organisiert, mit Hilfe von 180 Festangestellten, etlichen Teilzeitkräften und Tausenden von Freiwilligen. Was sein Job genau umfasst? Mit charakteristischem Understatement antwortet Hirsch: „I just cheer on the people.“ Zum Anfeuern ist er die perfekte Besetzung. Hirsch, der letzte noch Lebende der Marathon-Väter (Mütter gab es keine), sprüht vor Freude. Warmherzig, entspannt und zugewandt, wirkt er so gar nicht wie der Sportfunktionär, der er ist. Vor ein paar Tagen erst ist er aus Europa zurückgekehrt, wo er sich mit den Vertretern der anderen World Marathon Majors (London, Boston, Chicago, Berlin und Tokio) getroffen hat. Ihr Hauptthema: Doping. Dagegen wirken die Anfänge wie der Garten Eden vor dem Sündenfall.

Man kann sich keine zwei unterschiedlicheren Männer vorstellen: Fischel Lebowitz, wie Fred Lebow hieß, bevor er sich umbenannte, Holocaustüberlebender aus orthodoxer Familie, Einwanderer aus Transsilvanien ohne Schulabschluss. Und Hirsch, der gebürtige New Yorker, Studium in Princeton und Harvard. Hier der Selfmademan aus der Textilbranche – dort der erfolgreiche Zeitschriftenverleger. Lebow, der mit seinem Anstreicherkäppi und Bart immer ein wenig struppig aussah, trug am liebsten Trainingsanzug. Hirsch dagegen trägt auch an diesem Morgen blauen Schlips zum weißen Kragen.

Der Showman und der Gentleman

Lebow, der Womanizer, wechselte seine Freundinnen fast häufiger als seine geliebten T-Shirts – „Anything for a T-Shirt“ heißt die Biografie des begnadeten PR-Manns, der T-Shirts als Grundwährung zur Motivation einsetzte. Lebow war mit dem Marathon verheiratet, Familienmensch Hirsch ist Vater von vier Söhnen. Hier der Asket, dessen Kühlschrank immer leer war, dort der Genießer. Der Showman und der Gentleman – sie ergänzten einander perfekt. Als Marathonläufer hatten sie zudem die gleichen Qualitäten: Ausdauer, Entschlossenheit, Disziplin, Organisationsfähigkeit. Und jede Menge Energie. Beide waren Machernaturen, geborene Optimisten. Und enge Freunde. Als solche kämpften sie für ihr Ziel, den New York City Marathon.

Er ist nicht der älteste im Land – in Boston rennt man schon seit 1897, allerdings nur die letzten Kilometer tatsächlich in der Stadt. Er ist nicht mal der schnellste. Für Rekorde geht es vor allem an den Brücken zu oft bergauf, sind die Straßen zu marode. Aber es ist der, von dem alle Läufer träumen. Die Mutter aller Stadt-Marathons.

König der Quälgeister

The Champions: Frank Shorter, George Hirsch, Bill Rodgers und Fred Lebow (v.l.n.r.) 1986.
The Champions: Frank Shorter, George Hirsch, Bill Rodgers und Fred Lebow (v.l.n.r.) 1986.
© George Hirsch

Die Idee dazu stammte nicht von den beiden. Lebow war erst dagegen, Hirsch skeptisch. Es ist Hirsch wichtig, dass das nicht vergessen wird: Der Erfinder war ein anderer, nicht weniger eigenwilliger Marathonläufer, George Spitz. „Eine echte New Yorker Gestalt“, der aus diversen Jobs als städtischer Angestellter rausgeschmissen wurde, weil er sich so hartnäckig wie vehement engagierte. Immer wieder kandidierte er für politische Posten wie das Bürgermeisteramt. Mit einem Sieg hat er wohl nicht gerechnet, er wollte einfach bestimmte Themen auf die Agenda setzen, etwa die Ablehnung eines U-Bahn-Neubaus auf der East Side, den er für Schwachsinn hielt.

Andere würden sagen: ein Querulant. Hirsch sagt: „Er war sehr liebenswert. Es fehlte ihm nur an sozialer Kompetenz.“ Wenn damals nachts um zwei das Telefon klingelte, wusste Hirsch gleich, das kann nur George sein. Ohne Hallo und Wie geht’s? kam er, direkt wie immer, zur Sache. Und die war jetzt: Ein Marathon, der die Stadt zur Bühne machte, alle fünf Bezirke durchquerte. „Der König der Quälgeister“, wie die „New York Times“ ihn nannte, ließ nicht locker. Wofür war er denn Langstreckenläufer.

Die Attraktion waren die Menschen

Erst hat George Spitz seine Freunde überzeugt, dann den Bezirksbürgermeister von Manhattan, Percy Sutton. Mit ihm zusammen bekamen sie einen Termin bei New Yorks Bürgermeister Abraham D. Beame, der zusagte. „Ich bin mir nicht sicher, ob er wusste, wozu er Ja sagte,“ so Hirsch. Aber die Idee war dann doch zu verlockend. 1976 wurde der 200. Geburtstag der Vereinigten Staaten gefeiert; der Five Borough Run, als einmaliges Ereignis geplant, sollte New Yorks Beitrag zum Bicentennial sein. Die Attraktion waren nicht Sehenswürdigkeiten wie der Eiffelturm, sondern die Menschen. Das lag Bezirksbürgermeister Sutton, einem schwarzen Bürgerrechtler, der als Anwalt Malcolm X vertreten hatte, besonders am Herzen, die Demonstration der ethnischen Vielfalt. Daran orientierte sich auch der Streckenverlauf. Die Läufer sollten durch möglichst unterschiedliche Viertel kommen.

Freilich reichte die Erlaubnis allein noch nicht aus. Die (ehrenamtlichen) Organisatoren brauchten dringend mediale Aufmerksamkeit – und Geld. Bei der Pressekonferenz im Central Park konnten sie nicht mal die üblichen Bagels und Kaffee servieren. Aber Lebow war ein Schlitzohr und Meister der Improvisation. Ohne die hätte er weder den Holocaust in Rumänien noch die Nachkriegszeit überlebt; als 15-Jähriger wurde er mit seinem Bruder in die Tschechoslowakei geschickt, von dort ging es weiter in den Westen, wo der Junge sich unter anderem mit Diamentenschmuggel durchschlug, 1962 kam er nach New York.

Nachdem Fred Lebow von der Idee des urbanen Rennens überzeugt war, schmiss er sich mit Verve ins Gefecht. Und konnte den größten amerikanischen Star des Marathonsports als Zugpferd gewinnen (wobei er für solche Zwecke gern mal Geld unterm Tisch rüberschob): Frank Shorter, der bei den Olympischen Spielen in München Gold und in Montreal Silber gewonnen hatte. Er habe nur zugesagt, erzählte Shorter später gern, weil er sehen wollte, wie New York stillgelegt wurde. Das hatte er nicht für möglich gehalten.

Kalt und trocken: der perfekte Tag

Bezirksbürgermeister Sutton brachte die Rudins, eine reiche New Yorker Immobilienfamilie, die bis heute engagiert ist, dazu, Geld zu spenden, Finnair und die New Yorker Bank Manufacturers Hanover Trust wurden als Sponsoren gewonnen. Hirsch stiftete über seine damalige investigative Zeitschrift „New Times“ 5000 Dollar. Er brachte auch das kleine Programmheft heraus, die Keimzelle seiner 1979 gestarteten Zeitschrift „The Runner“, die später mit „Runners World“ fusionierte, deren internationaler Verleger er wurde. Aber das war zu einer Zeit, als das Rennen boomte.

Der 24. Oktober 1976 war zum Laufen ein perfekter Tag, kalt, aber trocken. Gut 2000 Leute, darunter knapp 100 Frauen, rannten von Staten Island über die Verrazano-Narrows Bridge, ein spektakuläres Bild, nach Brooklyn, Queens, durch die Bronx und Harlem in den Central Park. Nach zwei Stunden, zehn Minuten und neun Sekunden sprintete Bill Rodgers als Erster durchs Ziel – er gewann den New York Marathon insgesamt vier Mal.

Es war die vielleicht größte Party, die die Stadt je erlebt hatte; die „New York Times“ schätzte die Zahl der Zuschauer auf eine halbe Million. „Chorknaben jubelten vor einer Kirche in Brooklyn. Auf der 59ten Straße verteilte eine Frau Orangen. Autofahrer und Taxen überließen den Läufern ohne zu grollen die Vorfahrt“, notierte die Zeitung erstaunt. Damit hatte niemand gerechnet, dass alles so glatt laufen würde. Der Volkslauf schweißte die New Yorker zusammen.

Verliebt beim Marathon

Straßen und Brücken wurden damals erstmals für die Läufer freigegeben.
Straßen und Brücken wurden damals erstmals für die Läufer freigegeben.
© Mauritius Images

Danach wurde gar nicht mehr darüber gesprochen, ob es weitergehen sollte. Das war völlig klar. Im nächsten Jahr liefen dann schon knapp 5000 Menschen mit, standen zwei Millionen am Straßenrand. Die Route wurde nur geringfügig verändert; ein zu schmaler Weg wurde gestrichen, die neue Strecke führte ein paar Schritte tiefer in die Bronx hinein als nur einmal um den Laternenpfahl herum. Es war nicht nur ein Startschuss für das Comeback New Yorks, sondern der Beginn urbaner Rennen mit Volksfestcharakter. Bald folgten andere Metropolen wie Berlin, das seinen 1974 gegründeten Marathon 1981 in die ganze (West-)Stadt verlegte.

Am 6. November 2016, zwei Tage vor der US-Präsidentschaftswahl, wird George Hirsch wie jedes Jahr mit seiner Familie im Central Park sitzen und die mehr als 60 000 Läufer, die es ins Ziel an der Tavern on the Green schaffen, beklatschen. Seine Frau wird fehlen: Sie starb vor zwei Jahren an Krebs. Kennengelernt hat er sie beim Marathon; verliebt auf den ersten Blick, lief er ihr einfach hinterher. Auch Fred Lebow wird an der Ziellinie stehen, mit strengem Blick auf die Uhr: An jedem ersten Novemberwochenende wird die Statue des 1994 Verstorbenen von der 90. Straße an die Ziellinie gebracht.

Der Missionar wollte alle auf Trab bringen

Der New York Marathon war Lebows Baby, ja seine Religion. Als echter Missionar wollte er alle auf Trab bringen. Laufen, so seine Botschaft, war was für jedermann, für Profis wie Amateure, Schwarze wie Weiße. Und für jede Frau. Lebow setzte sich dafür ein, dass sie gleichberechtigt mitlaufen konnten. Sein All-inclusive-Ansatz (von dem er allerdings Rollstuhlfahrer und Charity-Läufer zunächst ausschließen wollte) war nicht zuletzt eine Reaktion auf eigene Erfahrungen: In seinem ersten, von Arbeitern dominierten Verein, hatte er sich nicht willkommen gefühlt.

George Hirsch (links) und Frank Shorter auf dem Weg zum ersten New York Marathon.
George Hirsch (links) und Frank Shorter auf dem Weg zum ersten New York Marathon.
© Hirsch

Am Marathonsonntag war Lebow, so sein Biograf Ron Rubin, „King of New York“ für einen Tag. Selber mitlaufen konnte er den Five-Borough-Marathon nicht. Dafür hatte er als Race Director (mit autokratischem Führungsstil) gar keine Zeit, wollte sich um alles kümmern. Bei den Rennen fuhr er als Schrittmacher vorneweg, stand im weißen Mercedes Cabrio und brüllte ins Megafon, feuerte Läufer wie Zuschauer an. Und wehe, jemand machte etwas falsch, rannte etwa vor dem Startschuss los oder unterstützte die Sportler nicht enthusiastisch genug, ließ sie verdursten. Dann schrie er erst recht: „Let’s hear you, Harlem!“

Nur einmal ist er mitgelaufen

1994 dann, zwei Jahre, nachdem die Ärzte einen Hirntumor diagnostiziert hatten, lief Fred Lebow den New York Marathon – das einzige Mal. Zusammen mit Grete Waitz, die ihn zuvor sagenhafte neun Mal gewonnenen hatte. Für die Veteranin war das Rennen so schmerzhaft wie für den Kranken. Die Norwegerin (die selber 2011 an Krebs starb) war es nicht gewohnt, so langsam zu laufen. Die beiden Freunde haben es geschafft. Nach fünf Stunden, 32 Minuten und 34 Sekunden, zu den Klängen von Sinatras „New York, New York“ („If I can make it here, I’ll make it anywhere“) und dem Jubel der Fans hielten die beiden sich weinend in den Armen. Es war, sagt George Hirsch, der emotionalste Marathon.

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