USA: Komm doch mal rüber
Für viele Besucher von New York gibt es nur Manhattan. Dabei spielt die Musik längst auch jenseits des East River. Etwa in Queens.
Das soll New York sein?! Lange Gesichter im Flughafen-Shuttle. So hatten sie sich die legendäre Metropole, the city that never sleeps, aber nicht vorgestellt – so verschlafen, klein-klein. Reihenweise Holzhäuschen, wie sie in jedem Vorort in Minnesota stehen könnten, Schlaglöcher im Asphalt, ungepflegte Langeweile. Queens, so schrieb die „Börsenzeitung“ einmal, „hat das gewisse Nichts“.
Man könnte auch sagen: Queens hat ein Imageproblem. Man sieht dem größten Bezirk New Yorks nicht gleich an, wie angesagt er ist. Dabei hat der Reiseführer „Lonely Planet“ ihn zum „must see“-Ziel 2015 erklärt, zur Nummer Eins unter den Top Ten der USA. Nichts wie hin! Aber wer nur die Strecke vom John F. Kennedy Airport nach Manhattan kennt, kehrt vermutlich nicht zurück.
Auch die New Yorker selbst, die Manhattaner auf jeden Fall, verachteten den Bezirk lange als Inbegriff kleinbürgerlicher Spießigkeit, kamen nur rüber, um so schnell wie möglich wieder zu verschwinden: mit dem Flieger von JFK oder La Guardia, dem inneramerikanischen Flughafen. Ansonsten bequemten sie sich höchstens zum Baseballspiel der Mets herüber oder zum Tennismatch in Flushing Meadows.
Auch Patti Smith hat sich hier ein Häuschen gekauft
Heute kommen sie zum Einkaufen, Essen, Craft Bier trinken oder Museumsbesuch. Wenn sie sich nicht gleich ganz hier niederlassen. Gerade Künstler und junge Leute zieht es nach Queens, das schon als neues Brooklyn gefeiert wird. Das alte ist nämlich fast so unerschwinglich wie Manhattan.
Und der neu entdeckte Rockaway Beach zieht nicht nur Surfer, sondern auch Kulturschaffende an. Auch Patti Smith hat sich hier ein Häuschen gekauft. Queens ist eine Großstadt mit 2,3 Millionen Einwohnern im Wandel. Aus der Papierfabrik wird ein Boutique Hotel mit Loft-Charakter namens Paper Factory, aus der Schokoladenfabrik ein Theater, aus der alten Werkstatt ein spannendes Sculpture Center, aus einer Müllhalde ein Open Air Museum, und wo früher Fallschirmgurte produziert wurden, kann man heute, im Fisher Landau Center for Art Fotos von Matthew Barney bewundern.
Die einstige Schule P.S.1 beherbergt heute den Ableger des MoMA für zeitgenössische Kunst, das junge Besucher in Scharen anlockt. Und das ist noch längst nicht alles. Wo früher Brötchen gebacken wurden, werden inzwischen Filme und Serien gedreht: In den Silvercup Studios entstanden zum Beispiel „Sex and the City“ und „Mad Men“. In den Kaufman Astoria Studios haben schon die Marx Brothers ihre ersten Filme gedreht, später wurde hier die „Sesamstraße“ und heute „Orange is the new Black“ produziert.
In sanft geschwungenen Liegestühlen auf Manhattans Skyline schauen
Ja, Queens ist das Hollywood von New York. Und gleich neben den Kaufman Astoria Studio liegt das Museum of the Moving Image mit rasantem Entrée und originellen Ausstellungen, das vor ein paar Jahren für fast 70 Millionen Dollar erweitert wurde.
Mit 462 Quadratkilometern ist der Bezirk entschieden zu riesig, um ihn mit einem einzigen Besuch zu entdecken. Am besten fängt man mit Long Island City an, dem westlichsten Teil von Queens, mit der größten Museumsdichte, der Boomtown des Bezirks. Vor allem am Ufer des East River, in dem einst finsteren, gefährlichen Gewerbegebiet schießen die Hochhäuser in 1a-Lage – mit Luxusapartments und bezahlbaren Wohnungen – aus dem Boden.
Am Ufer des Flusses wurden zwei großartige urbane Parks angelegt, Gantry Plaza und Hunter’s Point South, und mit Gräsern bepflanzt. In sanft geschwungenen Liegestühlen kann man den spektakulären Blick auf Manhattans Skyline genießen. Und auf die Queensboro Bridge, ein imposantes Industriedenkmal, das F. Scott Fitzgerald im „Großen Gatsby“ besang: „The city seen from the Queensboro Bridge is always the city seen for the first time, in its first wild promise of all the mystery and the beauty in the world.“
Jack Eichenbaum findet Manhattan provinziell
An einem der Picknicktische macht gerade ein Bauarbeiter Zigarettenpause. In Long Island City, „LIC“, ist die nächste Baustelle nie weit weg. Eine junge Frau springt auf dem Pier unermüdlich in den Liegestütz und wieder hoch, eine Schulklasse dreht einen Film. Hier halten auch die Fähren von Brooklyn und Manhattan – die schönste Art, nach Queens zu reisen.
„I love LIC“ steht auf den Sonnenbrillen der Schaufensterpuppen am nahe gelegenen Vernon Boulevard mit seinen vielen coolen Cafés, Restaurants und Fahrradläden. Und das alles eine U-Bahn-Haltestelle von Manhattans Grand Central Station entfernt.
Vor 25 Jahren, erzählt Jack Eichenbaum, gab es in Long Island City kein einziges Hotel. Inzwischen sind es 25. Der muntere New Yorker ist der offizielle Historiker des Bezirks, ein Ehrenamt, das er mit Gusto ausfüllt. In Queens ist der Geograf 1943 geboren, lebt er nach einem Intermezzo seit 37 Jahren wieder, überglücklich. Manhattan findet er klar überschätzt, deren Bewohner nennt er provinziell– weil die dortigen Einwohner ihren Bezirk für den Nabel der Welt halten.
Chinesische Touristen, Geschäftsleute und Investoren kommen in Scharen
Seit den 80er Jahren führt der 72-Jährige durch den Bezirk. Zu einer Zeit, als das Magazin „Geo“ seine deutschen Leser noch vor einem Besuch in „dem langweiligsten Bezirk New Yorks“ mit den „gräßlichen Expressways“ warnte: „Ein zerfließender, monotoner Häuserbrei ohne Zentrum und Konturen.“
Handy weg, Augen auf, lautet Eichenbaums Kommando, wenn er mit Studenten durch sein Heimatviertel Flushing zieht. Sie sollen doch sehen lernen! Und zu gucken gibt es viel in diesem Kleinasien. Hier liegt Chinatown, gleich nebenan Koreatown, Eichenbaum lässt sich im tiefen Ledersessel eines Coffeeshops nieder, in dem chinesische Hipster die Bohnen aufbrühen. Mit Blick auf Baugruben.
Auch Flushing boomt. Chinesische Touristen, Geschäftsleute und Investoren kommen in Scharen. Der Flughafen liegt vor der Haustür, jeder spricht Chinesisch, und gekocht wird genau wie daheim. Von hier führt Eichenbaum weiter zum riesigen Asia-Supermarkt mit Food Court, der Golden Shopping Mall, wo man alles, aber wirklich alles bekommt.
Der Orientexpress führt durch die verschiedenen Viertel mit ihren kleinen Läden und Lokalen
Zur Demonstration hebt Eichenbaum einen Plastikdeckel hoch, unter dem fette Frösche strampeln, die noch nicht wissen, was ihnen blüht. Sein aktuelles Lieblingshotel in Flushing ist das Hyatt, mit Pool und Café auf dem Dach. Doch nach seinem Lieblingslokal in Flushing gefragt, muss Eichenbaum passen. Es sind zu viele: Er liebt die Dim Sums von Dong Yi Feng, die Flunder im New Imperial Palace, die Szechuan-Küche bei Spicy and Tasty, koscher-vegane Gerichte beim Happy Buddha, das Lamm von Fu Run, die Nudeln bei Biang...
Weiter geht’s, nach Jackson Heights, dem Viertel der Südamerikaner und Schwulen. Wie hätten Sie Ihr Hühnchen denn gern: kolumbianisch, peruanisch, koreanisch? Es gäbe auch Ziegencurry im Himalaya-Lokal. So vielfältig wie in Queens kann man vielleicht nirgends auf dem Globus essen.
Denn der Bezirk ist gerade nicht das mittelamerikanische Kleinstädtchen, für das man es auf den ersten Blick halten könnte, sondern der nach eigenen Angaben multikulturellste Ort der USA, mit Menschen aus 120 Ländern – und für viele von ihnen ist Englisch eine Fremdsprache. An jeder Ecke kann man es sehen, hören, riechen: dass hier die Welt zu Hause ist. Die U-Bahn Nummer 7, die als Hochbahn an der Roosevelt Avenue entlang rattert, auch Orientexpress genannt, führt durch die verschiedenen Viertel mit ihren kleinen Läden und Lokalen, Familienbetriebe der Einwanderer, nur wenige Ketten, unzählige Barbiere und Friseure, vollgestopfte Eisenwarenläden.
Im Badezimmer ließ es Louis Armstrong richtig krachen
An der 74. Straße liegt Little India, in Astoria wohnen die Griechen, hier die philippinische Nationalbank, dort das ecuadorianische Generalkonsulat, dazwischen riesige Waschsalons, Autowerkstätten, Kleinbürgeridyllen und an jeder Ecke ein Reisebüro. In den Supermärkten sind Chocolate Chip Cookies die Exoten.
Schon zweimal war Queens der Nabel der Welt: Als 1939 und 1964 hier die Weltausstellung stattfand, auf dem Gelände des heutigen Flushing Meadows Corona Park, mit dem vor einigen Jahren erweiterten Queens Museum. Mit der U-Bahn Nummer 7 kommt man auch nach Corona, wo Louis Armstrong einst lebte – wie andere schwarze Jazzmusiker fühlte er sich wohl in dem bunten Bezirk, in dem seine vierte Frau Lucille aufgewachsen war.
Hier lebten die beiden in einem kleinen roten Backsteinhaus, in dem alles noch so ist, wie es mal war, vollgestopft mit venezianischen Gondeln und Heiligenfigürchen, das glamouröse Bad, der einzige Raum, in dem der lebenslustige King of Jazz es in Sachen Luxus richtig krachen ließ. Das Armstrong-Museum ist so zauberhaft wie unbekannt.
Queens ist in manchem so, wie Manhattan mal war
Wer sich in Queens niederlässt, muss mit Enttäuschungen rechnen. Man hat, außer am East River, nicht das Instant-New York-Wow-Gefühl, wenn man aus dem Haus tritt. Keine Wolkenkratzer, keine Brownstones, nicht mal die Taxis sind so, wie man sie kennt, knallgelb, sondern blassgrün. Ansonsten viel architektonisches Kuddelmuddel. Aber gerade das macht auch den Charme von Queens aus: dass es noch nicht so glattgebügelt ist.
„Greater New York“ heißt die aktuelle Ausstellung im P.S.1, das sich mit der Sehnsucht nach dem alten New York auseinandersetzt, das so viel wilder, rauer, offener, schillernder war. Queens ist in manchem so, wie Manhattan mal war.
Auch wer sich nicht hier einquartiert, wo die Designhotelzimmer im Schnitt 150 Dollar günstiger sind als in Manhattan, für den lohnt sich ein Ausflug. Und sei es, um sich zu erholen von den Touristenmassen.
Mit allen Sinnen erholt, kann man sich wieder ins New Yorker Getümmel stürzen
Um sich mal nicht, wie durchs MoMA oder über die High Line wie zur Rush Hour schieben zu lassen. Hier hat man Luft: zu atmen, Weltklasse-Kunst ganz in Ruhe zu betrachten, wie in den hellen Räumen des Fisher Landau Centers – und das ohne zu zahlen, der Eintritt ist frei.
Oder um sich in den Garten des Isamu-Noguchi-Museums zu setzen, zwischen Bambus und Bäumen, die Skulpturen des japanisch-amerikanischen Bildhauers zu betrachten, vielleicht noch eine seiner zarten Papierleuchten zu kaufen. Mit allen Sinnen erholt, kann man sich wieder ins New Yorker Getümmel stürzen.
Tipps für Queens
ANREISE
Man glaubt es kaum, doch selbst von Berlin aus bestehen zwei Möglichkeiten, nonstop an den Hudson zu fliegen: Air Berlin landet auf dem JFK-Airport (stilecht: in Queens), United Airlines in Newark. Ab rund 550 Euro.
Von Manhattan aus geht es am besten klassisch mit der Fähre nach Queens.
UNTERKUNFT
Paper Factory, Long Island City; Telefon: 001 / 718 / 392 72 00, Doppelzimmer ab 149 Dollar.
SEHENSWERT
Louis Armstrong Museum, 34-56 107 Street, Corona, Queens; Telefon: 001 / 718 / 478 82 74.
Fisher Landau Center, 38-27 30th Street, Long Island City; Telefon: 001 / 718 / 937 07 27, Internet:
FÜHRUNGEN
Jack Eichenbaum bietet verschiedene Queens-Touren.
AUSKUNFT