Literarische New-York-Anthologie: Das Maß aller Städte
Beatrice Faßbender hat eine zeitgemäße New-York-Anthologie zusammengestellt - und richtet ihren literarischen Blick nicht nur auf Manhattan, sondern auch auf die anderen vier Boroughs.
Gemessen an Megacitys wie Mexiko-Stadt, Schanghai, Karatschi oder Delhi ist New York City mit seinen gut acht Millionen Einwohnern inzwischen von geradezu provinzieller Größe. Und doch taugt es mehr als jede andere Metropole weiterhin für fast jeden Superlativ. In Queens, schreibt Eliot Weinberger in der „literarischen Einladung“, die der Wagenbach Verlag ausspricht, „gibt es eine Schule, an der Elternbriefe in 62 Sprachen verschickt werden müssen; offizielle Dokumente der Stadtverwaltung werden in 110 Sprachen veröffentlicht.“ Man kommt der Sache bereits ziemlich nah, wenn man mit Colson Whitehead behauptet: „Über New York zu reden ist eine Art und Weise, über die Welt zu reden.“ Nur wie wird man dem in einer Anthologie gerecht? Wie viele Stimmen braucht es, damit ein Chor entsteht?
Philip Lopates grandiose, in der Library of America herausgegebene Anthologie „Writing New York“ reicht bis tief ins 19. Jahrhundert zurück und geht in ihrer jüngsten Fassung von 2008 bei 1050 Seiten ins Ziel. Sie verpasst indes schon lebensweltlich einiges, was Beatrice Faßbender in ihrem Salto-Band auf 141 Seiten mit 43 Texten und Schnipseln (fast ausschließlich nach 1945) unterbringt. Auch ihre Auswahl wird altern, weil die topografische Wiedererkennbarkeit, auf die es ihr ankommt, mit jedem Jahr schwindet. Doch als Wort zur New Yorker Weltsekunde ist diese Sammlung prägnant und amüsant. Sie ist insofern vollständig, als sie, mit Schwerpunkt auf Manhattan und Brooklyn, alle fünf Boroughs berücksichtigt und sogar das Bewusstsein ihrer Unvollständigkeit ausgesprochen wie unausgesprochen in sich trägt. Zu ihren Vorzügen gehört, dass sie das Gedicht nicht scheut, mit Charles Simic nach Hell’s Kitchen geht und mit Robert Hershon über die Brooklyn Bridge.
Ihre Gegenwärtigkeit liegt auch darin, dass sie das Vielvölkergemisch nicht nur beschreibt, sondern ihm mit prominenten Vertretern einer inzwischen überall entstehenden hybriden Weltliteratur Gehör verschafft. Suketu Mehta begegnet seiner indischen Herkunft in Queens, der aus Äthiopien stammende Dinaw Mengestu durchwandert das Multikulti-Brooklyn, der in Nigeria aufgewachsene Teju Cole spaziert durch Chinatown, und mit dem Chinesen Ha Jin geht es nach Staten Island.
Beatrice Faßbender (Hrsg.): New York. Eine literarische Einladung. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.144 Seiten, 15,90 €
Gregor Dotzauer
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