Die erstaunlichen Erfolge von „Frag den Staat“: Wie Transparenz-Aktivisten deutsche Behörden löchern
Feiern im Kanzleramt, geheime E-Mails, verschmutzte Imbisse: Das Projekt „Frag den Staat“ zwingt Verantwortliche, auf Bürgerfragen zu antworten.
Diesen Montag hat sich das Verteidigungsministerium gemeldet. Ein Nutzer von „Frag den Staat“ hatte kurz vor Weihnachten eine Anfrage gestellt, es war Nummer 172 608. Darin verlangte er sämtlichen Schriftverkehr zwischen der Behörde und „dem Hersteller des Mobiltelefons der ehemaligen Ministerin von der Leyen bezüglich der Löschung von diesem“. Dazu, bei der Gelegenheit, auch gleich die Rechnung für das Gerät. Die Antwort des Ministeriums fiel mau aus. Es lägen keine derartigen Informationen vor.
Arne Semsrott sagt: „So ist das manchmal. Nicht jede Anfrage bringt Treffer.“ Wobei es sich lohnen könnte, jetzt erst einmal Widerspruch einzulegen und mit Klage zu drohen. Und dann zu schauen, ob sich nicht doch ein paar Akten finden.
Ob dies geschieht, wird nicht er entscheiden, sondern der Antragsteller von Nummer 172 608. Arne Semsrott ist bloß derjenige, der Hilfestellung gibt. Der den Weg zu den Akten erleichtert.
Seit sechs Jahren leitet er „Frag den Staat“, ein Projekt des Vereins „Open Knowledge Foundation“ mit Sitz in Berlin-Friedrichshain. Dessen Ziel ist es, ein weitgehend unbeachtetes Gesetz bekannt zu machen – und Menschen dazu zu bringen, es auch zu nutzen.
Das Projekt ist dabei, etwas Grundsätzliches im Verhältnis der Deutschen zu ihren Behörden zu ändern. Hierzulande gibt es traditionell ein großes Vertrauen in die Verwaltung – darauf, dass Ämter schon wissen, was sie tun. Was aber passiert, wenn man statt auf Vertrauen auf Kontrolle setzt?
Wie Arne Semsrott lernte, die Akten zu lieben
Semsrott hat vier Mitarbeiter, ihre Schreibtische stehen in einem Großraumbüro im zweiten Stock eines alten Backsteinbaus nahe dem Strausberger Platz. Mit seinem Vollbart und den langen, zusammengebundenen Haaren sieht der 31-Jährige eher aus wie der Betreiber eines Mountainbikeverleihs als jemand, der sich für Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz in Verwaltungsabläufen interessiert. Er sagt: „Ich verstehe jeden, der Akten und Paragrafen verabscheut. Ich brauchte auch meine Zeit. Früher dachte ich: Langweiliger geht es nicht.“
Bei dem Gesetz, das ihn umdenken ließ, handelt es sich um das sogenannte Informationsfreiheitsgesetz, kurz IFG. Es ermöglicht jedem Bürger, amtliche Informationen von Behörden einzufordern. Gutachten, Mailverkehr mit Lobbyisten, interne Korrespondenz. Weil dabei diverse Vorgaben einzuhalten sind, hält „Frag den Staat“ auf seiner Internetpräsenz eine Eingabemaske bereit. Der Nutzer muss nur reinschreiben, was er wissen will, „Frag den Staat“ verschickt es in der richtigen bürokratischen Hülle an die zuständige Behörde und veröffentlicht auch die Antwort.
Auf diese Weise kamen in den vergangenen Jahren etliche Kuriosa ans Licht, etwa: wo die Bundeswehr überdurchschnittlich viele Werbeplakate aufhängt (vor Filialen der Kette McFit), wie viele Nutzer der Twitter-Account des Regierenden Bürgermeisters geblockt hat (88) oder die exakte Sitzordnung des Geburtstagsessens für Bankmanager Josef Ackermann im Kanzleramt.
Sie wollen „Herrschaftswissen“ teilen
Doch „Frag den Staat“ ist kein Spaßprojekt. „Mehr Transparenz“, sagt Semsrott, „ermöglicht bessere öffentliche Kontrolle, wirksame Korruptionsbekämpfung, ist eine Basis für Partizipation.“ Er spricht von „Herrschaftswissen“, das nun geteilt werde. „Wir wollen Informationen, die einen Vorteil verschaffen, allen zugänglich machen.“
Zum Beispiel die Gutachten, die der wissenschaftliche Dienst des Bundestags im Auftrag von Abgeordneten erstellt. Warum sollte dieses Wissen der Allgemeinheit vorenthalten bleiben? „Frag den Staat“ rief seine Nutzer dazu auf, auf der Plattform massenhaft gezielte Anfragen nach solchen Gutachten zu stellen, mehrere tausend waren es innerhalb weniger Tage. Für die Mitarbeiter des Bundestags bedeutete es einen Riesenaufwand, jede Anfrage einzeln abzuarbeiten. Deshalb entschloss die Verwaltung, künftig jedes neue Gutachten automatisch zu veröffentlichen.
Durch eine ähnliche Kampagne gelang Semsrotts Team ein weiterer Erfolg: Weil Nutzer tausendfach die Herausgabe der Versionen von Bundesgesetzen im Entstehungsprozess einforderten, musste die Bundesregierung handeln. Seit dieser Legislaturperiode werden Gesetze nicht nur in der letztlich vom Parlament beschlossenen Version veröffentlicht, sondern auch so, wie sie die Ministerien als sogenannten Referentenentwurf auf den Weg gebracht haben – dazu alle Stellungnahmen der angefragten Verbände. So wird nachvollziehbarer, welches Argument welches Lobbyisten gehört wurde.
Auf Behördenseite ist „Frag den Staat“ unbeliebt. Arne Semsrott gehe es gar nicht um Informationen, er wolle nur eine Show abziehen, argumentierte der BND bei einer Verhandlung vor Gericht. Ein Vertreter des Innenministeriums erklärte, durch Portale wie „Frag den Staat“ gelangten „immer mehr Dinge an die Öffentlichkeit“. Es sei wie mit dem Faden am Pullover, an dem man ziehe, nach und nach löse sich das ganze Kleidungsstück auf: „Das ist eine Entwicklung, die für die Verwaltung nicht wünschenswert ist.“
Eine Mail, die es angeblich nicht gibt
An der Wand neben Semsrotts Schreibtisch hängen vier ausgedruckte DIN-A4-Seiten. Es ist eine Mail, in der das Auswärtige Amt vor den unmenschlichen Zuständen in libyschen Gefängnissen gewarnt wird – und zwar von der deutschen Botschaft in Niger. Darin ist von Gewalt gegen Flüchtlinge, sogar „KZ-ähnlichen Verhältnissen“ die Rede. Eine heikle Mail angesichts der Tatsache, dass die EU die Ausbildung der sogenannten libyschen Küstenwache finanziert, also jener Miliz, die Flüchtlinge im Mittelmeer abfängt und dann in genau diese Lager bringt.
Semsrott las von der Mail in einem Zeitungsartikel. Doch als er sie beim Außenamt anfragte, behauptete dieses, eine solche Korrespondenz gebe es nicht. Auf erneute Anfrage räumte man die Existenz ein, verweigerte jedoch die Herausgabe. Semsrott legte Widerspruch ein und drohte mit Klage. Am Ende erhielt er eine teils geschwärzte Version. Die lesbaren Abschnitte sind deutlich genug: In den Lagern, heißt es dort, geschähen „allerschwerste, systematische Menschenrechtsverletzungen“. Exekutionen, Folter und Vergewaltigungen seien „an der Tagesordnung“. Es sind Wahrheiten, die Mitglieder der Bundesregierung in offiziellen Stellungnahmen partout vermeiden.
Leider, sagt Semsrott, sind nicht alle Ministerien gleich kooperativ. Am stursten seien Kanzleramt und Innenministerium. Ach nein, sagt er dann, am allerschlimmsten sei das Verkehrsministerium unter Andreas Scheuer. Und noch immer komme es vor, dass manche Fragen überhaupt nicht beantwortet würden. „Als Begründung höre ich dann, dass man seinen Kernaufgaben nicht mehr nachkommen könnte, würde man sich um Anfragen kümmern.“ Semsrott hält das für ein Missverständnis: „Das Antworten auf Bürgeranfragen ist eine Kernaufgabe der Verwaltung.“
Darum ging das Team dazu über, Auskunftsverweigerer zu verklagen. Die ersten Prozesse sind bereits gewonnen. „Weil das so erfolgreich ist, werden wir das Klagen dieses Jahr massiv ausweiten“, sagt Semsrott – und weitestgehend automatisieren. Bleibt eine Antwort drei Monate aus, will die Initiative grundsätzlich Untätigkeitsklage einreichen. „Ich denke, dies wird die Mentalität der Behörden entscheidend verändern.“
Arne Semsrott hat einen prominenten Bruder, den Satiriker Nico Semsrott, der aktuell für die Titanic-Partei „Die Partei“ im EU-Parlament sitzt. Arne Semsrott besitzt einen ähnlich schrägen Humor, man spürt, wie sein Kampf ihm Vergnügen bereitet.
Ein bisschen David gegen Goliath
Zum Beispiel, wenn „Frag den Staat“ von einer Anwaltskanzlei im Auftrag der Bundesregierung mit einer einstweiligen Verfügung abgemahnt werden soll. Und Semsrott dann in dem von der Gerichtsvollzieherin überbrachten Schriftstück ein ums andere Mal einen Formfehler findet, hier eine falsche Seitennummerierung, dort einen fehlenden Stempel, sodass die Gerichtsvollzieherin wieder und wieder in den zweiten Stock des alten Backsteinbaus kommen muss, von den Aktivisten mittlerweile um Selfies gebeten wird.
„Ja“, sagt Semsrott, „das bereitet mir Freude.“ Mit seinen eigenen begrenzten Mitteln – das Projekt finanziert sich aus Spenden, 2019 waren es 160.000 Euro – einer Reihe von hochdotierten und -spezialisierten Anwälten die Stirn zu bieten, das habe etwas von David gegen Goliath.
Arne Semsrott hat schon als Schüler Stress gemacht. Zusammen mit seinem Bruder besuchte er eine katholische Privatschule in Hamburg, schrieb für die dortige Schülerzeitung namens „Sophies Welt“. Weil alle Artikel vor Veröffentlichung von einem Beratungslehrer abgenommen werden mussten, rebellierten die Semsrotts und gründeten eine Gegenzeitschrift namens „Sophies Unterwelt“. Die Schulleitung verbot, die Ausgaben auf dem Gelände zu verkaufen. Also stellten sich auf den Bürgersteig. „Sophies Unterwelt“ gewann mehrere Schülerzeitungswettbewerbe, Arne Semsrott flog von der Schule.
Sein Abitur machte er dann an einer staatlichen Einrichtung. Arbeitete ein paar Jahre als Journalist, studierte in Berlin Politikwissenschaft. Und kam hier in Berührung mit einer Szene aus Hackern, Menschenrechtlern und Politaktivisten, in der er sich wohlfühlte.
Im Großraumbüro den Gang runter links, in der kleinen Küche, sitzt der Software-Entwickler Stefan Wehrmeyer. Er hat das Projekt 2011 gegründet. Allerdings sei die Idee nicht seine gewesen, sagt er, er habe sich das von einer Initiative in Großbritannien abgeschaut. Es habe einen Vermittler zwischen Staat und Bürger gebraucht, einen Briefträger für elektronische Behördenpost. Seine erste eigene Anfrage schickte er an das Auswärtige Amt, Thema: „Folgenabschätzung zum Leopard-2-Export nach Saudi-Arabien“.
Die Anfrage wurde abgelehnt mit der Begründung, eine Veröffentlichung könnte die internationalen Beziehungen stören. Ein weiterer häufiger Ablehnungsgrund sind Sicherheitsbedenken. Oder wenn die Anfrage allzu absurd ist: Ein Schüler aus Münster versuchte, sich vom nordrhein-westfälischen Schulministerium vorab die Aufgaben für seine Abiturprüfungen aushändigen zu lassen. Er scheiterte. Gelegentlich versuchen Reichsbürger und Impfgegner, die Plattform für ihre Zwecke zu missbrauchen. Dann greift das Team ein, schaltet die betreffenden Anfragen auf unsichtbar.
Vergangenes Jahr wurden über „Frag den Staat“ 100.000 Anträge gestellt. 80 Prozent sind kostenlos. Fallen doch welche an, theoretisch bis zu 500 Euro, unterrichtet die Behörde vorher darüber. Der Antragsteller hat dann die Möglichkeit zurückzuziehen.
Her mit den Hygienemängeln
Stefan Wehrmeyer sagt, der weitere Erfolg der Initiative werde davon abhängen, in wie weit es gelinge, den „praktischen Nutzen der Informationen aufzuzeigen“. Etwa durch die Frage: Wie sauber ist das Essen auf meinem Teller? 2019 haben sie die Kampagne „Topf Secret“ gestartet. Auf einer Deutschlandkarte können Nutzer auf jedes beliebige Restaurant, jede Bäckerei, jeden Imbiss klicken und beantragen, die Ergebnisse amtlicher Lebensmittelkontrollen zu veröffentlichen – mitsamt aller Hygienemängel.
Rund 40.000 Anfragen wurden gestellt, nur ein Bruchteil der Unterlagen wurde bisher veröffentlicht. Auch hier sollen Gerichte helfen: Im September verklagte Semsrott das Land Berlin auf Herausgabe der Kontrollergebnisse in einem Spandauer Rewe-Markt. Er hofft auf ein Grundsatzurteil.
Auf Länderebene funktionieren Abfragen unterschiedlich gut. In Berlin haben SPD, Linke und Grüne 2016 in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das bestehende Informationsfreiheitsgesetz „in Richtung eines Transparenzgesetzes“ weiterzuentwickeln und viele Informationen nicht mehr erst auf Nachfrage, sondern proaktiv zu veröffentlichen. Weil dann länger nichts passierte, schlossen sich 40 Initiativen zum Bündnis „Volksentscheid Transparenz“ zusammen, auch hier engagiert sich Arne Semsrott. Anfang Dezember übergab das Bündnis 32.000 Unterschriften an den Senat. Bleibt dieser stur, will das Bündnis zur nächsten Abgeordnetenhauswahl den Volksentscheid durchführen lassen. Semsrott sagt: „Das Transparenzgesetz wird kommen.“
1227 Anfragen hat Arne Semsrott in den vergangenen Jahren persönlich gestellt. Knapp 600 davon waren erfolgreich. „Mein Anfrage-Verhalten ist deutlich offensiver geworden“, sagt er. Oft reiche es schon, nach einer Ablehnung mit Klage zu drohen, dann knicke die Gegenseite zuweilen ein.
Inzwischen passe seine Vorstellung eines Kampfes David gegen Goliath auch nicht mehr so recht. Semsrott sagt: „Wenn wir heute das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg verklagen, habe ich das Gefühl, dass wir besser Bescheid wissen.“
Und noch etwas hat sich verändert. Arne Semsrott spürt Wohlwollen auf Seiten der Behörden, oft eher heimliches. „Inzwischen bekommen wir Tipps von Mitarbeitern, welche Dokumente sich lohnen, einmal angefragt zu werden.“ Ein Behördenchef bat sie, notfalls vor Gericht zu ziehen, um eine bestimmte Akte zu kriegen. Er werde persönlich für die Anwaltskosten aufkommen.