Jahrestreffen beim Chaos Computer Club: Wie besorgte Hacker das Netz von morgen denken
Zwischen blinkenden Einhörnern diskutieren Hacker die Zukunft. Doch das Jahrestreffen des CCC ist keine reine Nerd-Veranstaltung mehr – und hoch politisch.
Auf dem Banner ein großes Herz, mit Nullen und Einsen verziert. Dahinter die Bühne von Halle 1, Freitagvormittag sind die Plastikstuhlreihen bereits gut gefüllt. Der Mann vorn am Mikrofon, der gleich den Kongress eröffnen soll, hat für alle Neueinsteiger nur einen Tipp parat: „Nehmt euch bloß nicht zu viel auf einmal vor.“ Dann, sagt seine Mitstreiterin, könnten die nächsten vier Tage die schönsten des ausgehenden Jahres werden.
17.000 Menschen sind in die Leipziger Messehallen zum Jahrestreffen des Chaos Computer Clubs gekommen. Hacker, Techniknerds, Datenschützer, Neugierige. Sie werden über Privatsphäre und Verbraucherschutz diskutieren, über die Macht der Algorithmen und die der Konzerne, über die Risiken neuer Technologien, besonders wenn diese in die Hand autoritärer Regime gelangen.
Chauvinisten und Nationalisten raus
Freiwillige haben die Hallen mit blinkenden Kunstinstallationen dekoriert, von der Decke hängen Ufos herab. Im Kosmos des CCC stehen neonfarbene Einhorn-Skulpturen gleichberechtigt neben trockenen politischen Forderungen. Ein Riesentransparent im Foyer besagt sinngemäß, dass Chauvinisten und Nationalisten sich bitte zum Teufel scheren mögen, jedenfalls nichts auf einer Veranstaltung des Chaos Computer Clubs zu suchen haben.
Der Stargast des Kongresses wird nicht physisch anwesend sein. Ex-CIA-Mitarbeiter und Öffentlichmacher streng geheimer Dokumente des US-Geheimdienstes National Security Agency: Edward Snowden, der Mann, der damit vor sechs Jahren das Ausmaß der weltweiten Überwachungspraktiken von Geheimdiensten enthüllte und seitdem im Moskauer Exil ausharrt, wird am frühen Sonntagabend per Livestream zugeschaltet, überlebensgroß auf die Leinwand projiziert. Vielleicht wird er auch über seine eigene Zukunft sprechen. Kommendes Jahr endet sein Bleiberecht in Russland.
Der Skandal bleibt weitgehend folgenlos
Den CCC-Besuchern ist Snowden Vorbild, Aufklärer, Inspirator. Doch so ehrenwert seine Enthüllungen waren, auch das ist hier Konsens, so erschreckend folgenlos sind sie geblieben. Anschaulich wird das am Abend des Eröffnungstags, als Constanze Kurz, die Sprecherin des CCC, in ihrem Vortrag über die Auswirkungen in Deutschland spricht. Nach der Snowden-Enthüllung beschäftigte sich ein Untersuchungsausschuss mit den Überwachungspraktiken des BND – und stellte fest, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst seit Jahren systematisch deutsches Recht bricht, weil er auch die Daten von Inländern abgreift. Doch statt diese Vergehen zu ahnden, verabschiedete der Bundestag das sogenannte BND-Gesetz, das alle beanstandeten Praktiken praktisch legalisierte.
Dagegen legten „Reporter ohne Grenzen“ und mehrere Menschenrechtsorganisationen Verfassungsbeschwerde ein. Für Mitte Januar hat das Bundesverfassungsgericht nun eine mündliche Verhandlung anberaumt – auch der Chaos Computer Club wurde um eine Stellungnahme gebeten. Genau diese präsentiert Constanze Kurz am Eröffnungsabend in Leipzig. Ihr Fazit: Das BND-Gesetz ist in seiner jetzigen Form extrem mangelhaft, kann die Rechte der Bevölkerung nicht schützen.
Kurz hofft auf ein Grundsatzurteil des Verfassungsgerichts. „Läuft es sehr gut, verbietet das Gericht die anlasslose Massenüberwachung.“ Dies sei, zugegeben, allerdings enorm optimistisch gedacht. Realistischer sei wohl, dass Karlsruhe klare Regeln vorgibt, die der BND künftig zu befolgen hat.
2019 war auch das Jahr, in dem Julian Assange, der Gründer der Whistleblower-Plattform Wikileaks, im Frühjahr von der Londoner Polizei festgenommen wurde, nach sieben Jahren Asyl in der ecuadorianischen Botschaft, ihm droht die Auslieferung an die USA. Assange wird in Leipzig weit weniger gefeiert als Snowden: wegen seiner mutmaßlichen Einmischung in den US-Wahlkampf auf Seiten Trumps durch Veröffentlichung von E-Mails Hillary Clintons. Weil er sich, als er in der Botschaft eine eigene Fernsehshow starten wollte, zur Premiere ausgerechnet den Chef der Terrormiliz Hisbollah als Gast einlud.
„Es fällt deutlich schwerer, mit Assange zu sympathisieren“, sagt CCC-Sprecherin Kurz. „Gleichzeitig haben seine Verdienste Bestand: die Gründung von Wikileaks, der Schutz seiner Informanten.“ Ohne ihn wären die Enthüllungen von Chelsea Manning, neben Snowden die zweite große Whistleblowerin der Dekade, womöglich nie an die Öffentlichkeit gelangt. Manning wiederum sitzt seit Monaten in den USA in Beugehaft, weil sie sich weigert, gegen Assange auszusagen.
Zudem hofft Kurz auf eine weitere Konsequenz aus dem anstehenden Gerichtsurteil: „Es wäre ein enormer Fortschritt, würde die breite Öffentlichkeit erkennen, was hier überhaupt auf dem Spiel steht. Dass es eben nicht nur um irgendwelche Netzdaten geht, sondern dass sich mit diesen Daten unser gesamtes Leben nachzeichnen und analysieren lässt.“
In den Leipziger Messehallen ist diese Gewissheit Prämisse des Zusammenkommens. In den vergangenen Jahren stiegen die Teilnehmerzahlen der Konferenz kontinuierlich, die diesjährige ist seit Langem ausverkauft. Wer kein Ticket bekommen hat, kann sich die Vorträge von zu Hause anschauen, sie werden auf der Webseite Homepage des CCC live übertragen. In diversen Städten haben sich mittlerweile Veranstaltungen etabliert, bei denen Daheimgebliebene gemeinsam den Stream aus Leipzig anschauen. Public Viewing für Technikversessene.
Trotz des Andrangs hat sich das Jahrestreffen seinen familiären Charakter bewahrt. Das zeigt sich schon morgens beim geduldigen Schlangestehen vorm Einlass. Drinnen sind Bällebäder, Sitzsackecken, Ruhezonen aufgebaut, manche haben ihre Hunde mitgebracht. Es gibt Seelsorger für Vortragende, die vor Beginn ihrer Session unter Lampenfieber leiden.
Die Teilnehmer des CCC eint auch ein gemeinsames Feindbild: politische Entscheider, denen das Internet und seine diversen Lebenswelten, auch generationsbedingt, weiterhin fremd sind. Die aber trotz aller Expertiselosigkeit dessen Regeln festsetzen wollen, oft über den Rat und die Interessen von Nutzern hinweg. Es sind Politiker, die – wie in diesem Jahr geschehen – öffentlich behaupten, Netzaktivisten seien von der Industrie „gekauft“. Oder die Protestierende als „Mob” verleumden. In Leipzig ist auf einigen Laptops ein Sticker zu lesen, der die Kluft zwischen netzkundigen CCC-Freunden und netzfremden Politikern gut zum Ausdruck bringt. Auf ihm steht: „Lasst unser Internet in Ruhe oder wir nehmen euch die Faxgeräte weg.”
Noch schnell zum Roboter-Fußball?
Beim Gang durch die Menschenmengen in den Messehallen wird sehr sichtbar, dass die Gruppenbezeichnung „Mob“ kaum unpassender sein könnte. Wer sich hier versammelt, sind die Reflektierten, die Abwäger, die Verantwortungsbewussten und die Engagierten. Ein Schwerpunkt des diesjährigen Kongresses sind Klima- und Umweltschutz – und wie die Digitalisierung dabei helfen kann.
Neben den großen Bühnen gibt es zahllose Sitzgruppen, an denen zu Workshops geladen wird. Hier erklären Experten den Tor-Browser, dort effizientes 3-D-Drucken, drüben laden Seenotretter zum Kennenlernen ein. An den Kaffeeständen werden kleine und große Fragen diskutiert. Gehen wir gleich rüber zum Roboter-Fußball? Warum bietet Android gerade an diesaem Tag ein Update an? Oder: „Am Eröffnungstag schon ein Knoblauchbrot?“ – „Nee, das ist mir zu krass.“
Die jüngste Rechercheleistung des CCC, zusammen mit NDR und „Spiegel“: Das Gesundheitsdatennetzwerk für Ärzte, Kliniken und Krankenkassen ist unsicher. Es ist gelungen, auf den Namen Dritter elektronische Arztausweise, einen Praxisausweis und eine Gesundheitskarte zu bestellen und an eine beliebige Lieferadresse senden zu lassen.
Im September ist Edward Snowdens Autobiografie erschienen. Darin berichtet er über Details seiner Flucht. Dass er ursprünglich nach Ecuador wollte. Wie er dann aber am Moskauer Flughafen strandete. Snowden schrieb auch über seine Ängste und inneren Zwiespälte, die ihn beinahe von seiner Enthüllungstat abgehalten hätten. Etwa die Furcht vor den Vorwürfen, mit denen ihn die Regierung seines Heimatlandes attackieren würde, obwohl er sich doch als Patriot versteht.
Snowden soll am Sonntag sprechen
Snowden hat auch angedeutet, er hätte gern politischen Schutz von Deutschland oder Frankreich gewährt bekommen und dort einen Asylantrag gestellt. „Aber die Regierungen haben nach Gründen gesucht, weshalb ich nicht kommen durfte.“
Am Dienstag entschied ein US-Bundesgericht, sämtliche Einnahmen aus Snowdens Autobiografie gehörten den USA. Snowden habe durch die Veröffentlichung des Buchs gegen Auflagen seiner Geheimhaltungsvereinbarung verstoßen. Ist schon in Ordnung, hat Snowden über Twitter verkündet. „Ich habe das Buch nicht wegen des Geldes geschrieben.”
In seiner Videoschalte am Sonntag will Edward Snowden vor allem über die Menschen sprechen, die ihm vor sechs Jahren bei seiner Flucht vor den US-Ermittlern halfen, indem sie ihm in Hongkong Unterschlupf boten. Einige von ihnen waren selbst Flüchtlinge, sie stammen etwa von den Philippinen oder aus Sri Lanka. Seit die Details der Snowden-Flucht bekannt sind, werden die Helfer drangsaliert, auch von der Hongkonger Verwaltung. Zumindest eine Unterstützerin ist aber jetzt in Sicherheit: Im März erhielt sie Asyl in Kanada. Der Anwalt Robert Tibbo, der dies erwirkte, wird in Leipzig über den Vorgang berichten.
Versprechen, die Gefahren bergen
Zu den Traditionen des jährlichen CCC-Treffens gehört auch das gemeinschaftliche Wundenlecken. Das Eingeständnis, dass man in wichtigen netzpolitischen Fragen zwar gute Argumente hatte und damit in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein schuf, die Politik dies aber wenig scherte und am Ende anders entschied, oft genau gegenteilig, nicht im Sinne des Datenschutzes oder anderer Freiheitsrechte der Internetnutzer.
Wie mühsam selbst kleine Erfolge erstritten werden müssen, zeigt das Beispiel der geplanten „Europäischen Herausgabeverordnung”. Die soll Behörden ermöglichen, Anbieter wie GMX bei Verdacht einer Straftat zur schnellen Herausgabe von Daten zu zwingen, auch wenn das Unternehmen seinen Sitz in einem anderen EU-Land hat. Das Versprechen „Strafermittlungen über Grenzen hinweg“ klinge ja erst mal gut, sagt die Juristin Elisabeth Niekrenz.
Sie ist politische Referentin des netzpolitischen Vereins Digitale Gesellschaft mit Sitz in Berlin. Auf dem CCC zeichnet sie den Werdegang der geplanten Verordnung nach – und die Probleme, die sie mit sich bringt. Denn die Herausgabe der Daten soll nach dem Willen der EU-Justizminister künftig geschehen, ohne dass der Staat, in dem der Anbieter seinen Sitz hat, in die Entscheidung involviert wird oder gar Veto einlegen könnte – und es ist egal, ob die vermutete Tat in diesem Land überhaupt eine Straftat ist.
„Diese Entschärfung reicht uns nicht“
Konkret bedeutet dies, dass etwa die Regierungen Ungarns oder Polens Anbieter wie die Telekom an deutschen Behörden vorbei zur Herausgabe von Daten zwingen könnten. 13 Organisationen, darunter der CCC, haben einen öffentlichen Brief an die deutschen Abgeordneten des Europaparlaments gerichtet. Und es gibt Zeichen, die hoffen lassen. Das Parlament wird wohl auf ein Vetorecht des Ziellandes dringen.
„Diese Entschärfung reicht uns nicht“, sagt Elisabeth Niekrenz. Denn praktisch müsste jede Auskunftsanfrage von einem Richter durchgesehen werden, der dann die Möglichkeit zur Ablehnung bekäme. „Beim jetzigen Richtermangel in Deutschland wäre das sehr unrealistisch, dass er dieser zusätzlichen Aufgabe gerecht wird.“ Niekrenz und ihren Mitstreitern bleibt nur eines übrig: weiter Druck machen, weiter in der Sache argumentieren. Und nicht ausrasten, wenn sie wieder jemand als „Mob“ bezeichnet.