Dirk Behrendt: "Männer, die in Untersuchungshaft waren, sollen entschädigt werden"
Berlin will das Gesetz zur Rehabilitierung von Opfern des Paragrafen 175 verbessern. Ein Gespräch mit Justizsenator Behrendt über Gender und Identitätspolitik.
Herr Behrendt, vor etwas mehr als einem Jahr beschloss der Bundestag die nach Paragraf 175 ergangenen Urteile aufzuheben und die Opfer zu entschädigen. Eine historische Entscheidung. Doch jetzt sehen wir, dass die Antragszahlen niedrig sind und erst 78 Männer eine Entschädigung erhalten haben. Geht das Gesetz an den Betroffenen vorbei?
Dafür gibt es verschiedene mögliche Erklärungen: Manche wollen es einfach nicht, weil sie an diesen Teil ihrer Geschichte nicht erinnert werden möchten. Andere sind vielleicht demenziell schon so beeinträchtigt, dass sie gar keinen Zugang mehr zu diesem Kapitel haben. Eine Hürde könnte auch sein, dass man sich ja an die Strafverfolgungsbehörden wenden muss, also genau die Stelle, von der damals die Verfolgung ausging. Besser wäre ohnehin gewesen, wenn wir das Gesetz schon zehn Jahre früher verabschiedet und damit viel mehr Menschen erreicht hätten. Der Diskussionsprozess war ja viel zu lang. Deshalb sind schon viele gestorben, die eigentlich einen Anspruch gehabt hätten.
Schon letztes Jahr gab es Kritik an dem Gesetz, weil auf Bestreben der CDU/CSU-Fraktion im letzten Moment die Männer ausgeschlossen wurden, deren Partner unter 16 Jahre alt waren – auch wenn der Sex einvernehmlich war.
Das stimmt, aber wir haben uns trotzdem entschlossen, das Gesetz im letzten Jahr so passieren zu lassen, einfach um es überhaupt zu haben. Es war kurz vor der Bundestagswahl, wir wollten nicht, dass die CDU/CSU im letzten Moment abspringt. Wir haben gesagt, dass wir im Nachgang dann eine Verbesserung des Gesetzes erwirken wollen. Das geschieht jetzt mit einer Initiative, die Berlin am Freitag in den Bundesrat einbringen wird. Dort wird ein einheitliches Schutzalter gefordert. Außerdem eine Entschädigung für Menschen, die kein strafrechtliches Urteil hatten, aber etwa durch Untersuchungshaft erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Viele haben Stigmatisierung erlebt, ihre Arbeit verloren und ähnliches. Überdies soll eine Form von kollektiver Entschädigung ermöglicht werden, also etwa Geld für schwule Seniorengruppen oder Erinnerungsarbeit zur Verfügung gestellt werden.
Wie schätzen Sie die Chancen für die Bundesratsinitiative ein?
Das hängt ein bisschen davon ab, wie sich die CDU zukünftig zu Gleichstellungsthemen verhält. Es gibt in der Union eine große Unsicherheit in der Frage, wie auf die AfD zu reagieren ist. Und die läuft ja durchs Land und erzählt, dass das wir hier „genderwahnsinnig“ seien. In der CDU gibt es ebenfalls einige, die zu den alten konservativen familienpolitischen Vorstellungen tendieren. Deshalb ist es schwer zu sagen, wie das ausgeht. Aber ich bin optimistisch, dass wir hier– vielleicht auch mit Kompromissen – etwas erreichen werden.
Apropos Genderwahn: Derzeit gibt es das nicht nur bei rechten, sondern sogar bei linken Politiker*innen zunehmend beliebte Argument, dass Politik zum Schutz oder der Förderung von Minderheiten die Wähler*innen in die Arme von rechtpopulistischen Parteien treibt. Was entgegnen Sie einer solchen Denkweise?
In den USA gibt es ja sogar von links eine Debatte gegen die Identitätspolitik. Damit würde die weiße amerikanische Arbeiterklasse verschreckt, die deshalb für Trump statt für Clinton gestimmt hat. Das ist eine steile These. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Gleichstellungspolitik wirklich für solche Wähler-Entscheidungen ausschlaggebend sein sollen. Denn es geht ja nicht darum, jemandem etwas wegzunehmen, sondern darum Gleichberechtigung und gleiche Chancen für alle herzustellen. Wenn wir etwa jetzt fordern bei Artikel 3 des Grundgesetzes die sexuelle und geschlechtliche Identität hinzuzufügen, entsteht daraus ja niemandem ein Nachteil. Das betone ich immer wieder.
Eine Ihrer ersten Amtshandlungen war es, die Einrichtung von All-Gender-Toiletten in öffentlichen Gebäuden prüfen zu lassen. Wie ist es damit weitergegangen?
Wir haben auf Wunsch des Parlaments berichtet, wie man das in öffentlichen Gebäuden umsetzen kann. Also welcher Aufwand und welche Kosten damit verbunden sind. Zudem haben wir eine Informationsbroschüre zum Thema öffentliche Toiletten ohne Diskriminierung herausgegeben. Jetzt ist es an den Institutionen von den Universitäten bis hin zu den Verwaltungsgebäuden mit viel Publikumsverkehr sich zu überlegen, ob sie das umsetzen. Im Justizbereich haben wir die WCs schon lange im Amtsgericht Schöneberg, das ja für transidente Menschen zuständig ist sowie hier in der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung.
Wie sieht es nach ihrer Kenntnis sonst mit der Umsetzung aus.
Ich nehme nicht wahr, dass es schon breit umgesetzt wird. Zuständig sind aber die jeweiligen Häuser, die das dann mit der Gebäudeverwaltung BIM besprechen müssen. Wobei wir selbst noch über All-Gender-Toiletten für das eine oder andere große Gerichtsgebäude nachdenken.
Kürzlich hat die Große Koalition beschlossen, dass der von Karlsruhe geforderte dritte Geschlechtseintrag „divers“ heißen soll und wirklich nur für Intersexuelle gelten soll. Non-Binäre und trans Menschen sind ausgeschossen. Wie sehen Sie diese Entscheidung?
Da ist nur die Pflichtaufgabe erfüllt worden. Das Transsexuellengesetz ist durch das Bundesverfassungsgericht ohnehin schon in weiten Teilen als verfassungswidrig erklärt worden, so dass jetzt eigentlich nochmal ein großer Wurf kommen müsste. Wir müssten das sonst den Bundesrat machen, wenn die Bundesregierung nicht bereit ist, das Transsexuellengesetz durch ein modernes Geschlechtsidentitätsgesetz zu ersetzen. Denn die jetzige Rechtslage ist auch mit einem zukünftigen „Divers“-Eintrag unbefriedigend.
Es scheint absehbar, dass es sonst neue Klagen geben wird.
Ja, das wäre so ähnlich wie bei der Ehe für alle, wo über 15 Jahre von der Rentenversicherung über die steuerliche Gleichstellung alles eingeklagt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht war vorne dabei die Gleichberechtigung durchzusetzen, der Gesetzgeber war der Getriebene. Ich hoffe, dass wir bei der Ablösung des Transsexuellen-Gesetzes durch ein Geschlechtsidentitätsgesetz als Politik selber vorankommen und nicht weiter vom Bundesverfassungsgericht zum Jagen getragen werden müssen.
Berlin plant Vorschlag für modernes Abstammungs- und Familienrecht
Ebenfalls verbesserungswürdig ist die Situation lesbischer Ehepaare, die ein Kind bekommen. Trotz Ehe für alle muss die Co-Mutter weiterhin den Prozess der Stiefkindadoption durchlaufen. Sie gilt nicht wie bei Heteropaaren automatisch als Elternteil. Was kann hier getan werden?
Das ist in der Tat ein unbefriedigender Zustand. Auch hier wird Berlin im nächsten Jahr einen Vorschlag vorlegen. Zunächst wollen wir aber mit der Community über die Fragen des Abstammungs- und Familienrechts ins Gespräch gehen. Auch Mehreltern-Familien werden ja diskutiert. Wir werden uns das anhören und dann schauen, auf welchem Weg wir das gemeinsame Ziel am Besten erreichen.
Eine Bundesratsinitiative, die Berlin schon letztes Jahr zusammen mit Brandenburg, Hamburg und Thüringen eingebracht hat, betrifft die Streichung des Paragrafen 219a. Am Samstag wird es in Berlin sowohl für als auch gegen dieses Vorhaben Demonstrationen geben. Wie steht es um die Initiative?
Wir haben da eine sehr lebendige rechtspolitische Debatte ausgelöst. Die SPD war ja vor der Regierungsbildung im Bund schon fast soweit, §219a StGB aufzuheben. Einige sahen ihn schon gestrichen, was vorschnell war. Im Herbst will die Bundesregierung nun einen Vorschlag vorlegen, wie es mit dem Paragraf weitergeht. Berlin plädiert weiter für die ersatzlose Streichung. Es wäre ein wichtiges Signal, denn auch die Ärztinnen und Ärzte sind verunsichert. Wir hatten in Berlin einige Strafverfahren, weil es entsprechende Anzeigen gab. Die Staatsanwaltschaft hat wirklich besseres zu tun die Ärzteschaft zu verfolgen, die lediglich darüber informiert, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt.
Zurück nach Berlin: Im kommenden Jahr wird Malaysia das Gastland der ITB sein. Ein Land in dem Homosexualität verboten ist und in dem kürzlich zwei Frauen mit Stockhieben bestraft wurden, weil sie Sex miteinander hatten. Rot-Rot-Grün sieht Berlin als Regenbogenhauptstadt. Wie passt da ein solches ITB-Gastland ins Bild?
Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, den Aspekt LGBT-Situation bei unseren Städtepartnerschaften – gerade im Falle von Moskau – stärker zu betonen. Deshalb sollte sich auch die Messe Gedanken machen wie sie mit dieser Menschenrechtsfrage umgeht. Ich tue mich jedenfalls mit Reiseländern schwer, wenn die Mindeststandards nicht einhalten, wozu ein vernünftiger Umgang mit LGBT gehört.
Es gibt eine Petition die Konrad-Adenauer-Straße in Wolfgang-Lauinger-Straße umzubenennen. Lauinger war ja eines der prominentesten Opfer des Paragrafen 175 und starb letztes Jahr mit 99 Jahren ohne entschädigt worden zu sein. Was halten Sie von der Idee mit der Straße?
Wir haben ja in mehreren Bezirken Beschlusslagen, die besagen, dass Straßen so lange nach Frauen benannt werden, bis wir Parität erreicht haben. Trotzdem haben wir immer wieder Diskussionen über zu ehrende Männer, die dann verhindern dass man Frauen ehrt. Ich finde es richtig, da die geschlechterpolitische Gleichstellung voranzustellen. Wir werden sicher auch viele verdienstvolle Lesben finden, nach denen wir Berliner Straßen benennen können. Ich bin ja für mehr lesbische Sichtbarkeit.
Sie haben ja sogar einen Preis für lesbische Sichtbarkeit vergeben.
Was mir Kritik von schwuler Seite eingebracht hat. Es wurde gesagt, das sei eine unnötige Bevorzugung von Lesben. Offenbar liegt noch ein Stück Weg vor uns bis zur Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen. So lange braucht es diesen Preis. Dieses Signal ist mir wichtig und davon lasse ich mich auch nicht abbringen.
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