Der kleine Mann und die Diversität: Für Gerechtigkeit gibt es keine Obergrenze
Warum eine offene Gesellschaft sich selbst verrät, wenn sie Minderheiten gegen andere Gruppen ausspielt. Ein Essay.
Der kleine Mann hat gerade ein großes Comeback. Von New York bis Berlin wollen es ihm plötzlich alle recht machen. Viel zu lange sei er nicht beachtet worden. Das soll nun anders werden. Vor allem natürlich, um die kleinen, wütenden Männer (und Frauen) von der Wahl rechtspopulistischer Parteien abzuhalten.
Überraschenderweise dominieren in der Debatte, wie dies zu erreichen sei, nicht Forderungen nach besseren Bedingungen im Niedriglohnsektor oder einem gerechteren Steuersystem. Nein, den kleinen Leuten, Abgehängten und all jenen, die fürchten bald zu dieser Gruppe zu gehören, wird ein anderes Versprechen gemacht, das die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner kürzlich so formulierte: Man habe „das Gefühl, dass über vieles geredet wird, über Flüchtlinge, über Minderheiten, aber die Mitte der Gesellschaft, die sich zum Teil an den Rand gedrängt fühlt, über deren Alltagssorgen wird wenig geredet. Deshalb sagen wir, wir müssen uns um die kümmern, die den Laden am Laufen halten".
Weniger Minderheiten, mehr Mitte, lautet also das neue Motto. Wobei die Ausschlusslogik von Klöckners Sätzen auffällt: Minderheiten zählen bei ihr nicht zu den Menschen, die die Gesellschaft am Laufen halten. Wie falsch und abwertend das ist, zeigt schon die große Zahl von Unternehmern türkischer Herkunft in Deutschland. Schwule Schreiner, lesbische Verkäuferinnen und afrodeutsche Zahnarzthelferinnen könnten sich ebenfalls fragen, weshalb ihnen abgesprochen wird, etwas Entscheidendes beizutragen. Auf der anderen Seite gehören bei Klöckner Minderheitsangehörige nicht zu denjenigen, die sich „an den Rand gedrängt fühlen“. Als seien nur weiße, heterosexuelle, christliche Menschen von den Umbrüchen der globalisierten und digitalisierten Arbeitswelt sowie dem Umbau der Sozialsysteme betroffen.
Diversität - nur Ablenkung von den "wirklich wichtigen" Themen?
Man kann das Klöckner-Zitat nicht als Wahlkampf-Tamtam abtun. Es ist lediglich eine von vielen ähnlichen Äußerungen, mit denen derzeit versucht wird, Minderheiten gegen Prekarisierte auszuspielen. Dabei hat eine Argumentationslinie, auch in deutschen Medien, besonders große Resonanz gefunden, die aus den Erklärungsversuchen für Donald Trumps Wahlsieg stammt.
Hillary Clinton habe unter anderem deshalb verloren, weil sie sich im Wahlkampf zu sehr um Minderheiten bemüht habe, was die weiße Arbeiterschicht sowie religiöse Menschen gegen sie aufgebracht habe. Das konstatierte der US-Historiker und Politikwissenschaftler Mark Lilla unter der Überschrift „The End of Identity Liberalism“ kurz nach der Wahl in der „New York Times“. Er schreibt: „Die Fixierung auf Diversität in unseren Schulen und der Presse hat eine Generation von narzisstischen Liberalen produziert, die überhaupt keine Ahnung von den Bedingungen außerhalb ihrer selbstdefinierten Gruppen hat und nicht interessiert daran ist, Amerikaner anderer Gesellschaftsschichten zu erreichen“. Für viele erschöpfe sich der politische Diskurs schon im Diversity-Diskurs.
Bemühungen um mehr Diversität lenken demnach von der Beschäftigung mit den „wirklich wichtigen“ Dingen ab. So argumentierte auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, als er in der „Zeit“ Apple-Chef Tim Cook kritisierte, „der stolz einen offenen Brief gegen die Diskriminierung von LGBT-Personen unterzeichnet und jetzt problemlos hunderttausende Foxconn-Arbeiter in China vergessen kann“. Wieso eigentlich? Selbstredend sollte Apple weiterhin für ausbeuterische Arbeitsverhältnisse kritisiert werden, mit einer queerfreundlichen Resolution kann sich das Unternehmen davon nicht freikaufen. Die beiden Dinge haben schlichtweg nichts miteinander zu tun.
Kritik an der Berliner Koalition: Sie sei fixiert auf queere Themen
Einsatz für queere Menschen wird derzeit gern zu einer dem „Normalbürger“ nicht mehr zu vermittelnde Klientelpolitik erklärt. In Berlin wird etwa die rot-rot-grüne Koalition, noch bevor sie richtig zu regieren begonnen hat, schon für ihre angebliche übermäßige Fixierung auf LSBTTIQ*-Themen (Lesben, Schwule, Bi- Inter,- und Transexuelle, Transgender und Queere sowie alle dazwischen) kritisiert. Das Kürzel taucht in der 177-seitigen Koalitionsvereinbarung 27 Mal auf, erstmals auf Seite 95, besonders oft auf den zweieinhalb Seiten zur „Regenbogenhauptstadt Berlin“. Dieser Punkt sieht unter anderem die Stärkung von Unterstützungsangeboten für queere Jugendliche und Geflüchtete vor. Außerdem soll die Queer- und Diversity-Kompetenz bei Pädagogen und Pädagoginnen und Behörden verbessert werden.
Nachvollziehbare Ziele, zumal für eine linke Koalition. Wenn man das schon als übertrieben bezeichnet, müsste der Koalition auch der Vorwurf einer obsessiven Beschäftigung mit dem Thema Sport gemacht werden. Schließlich enthält der Koalitionsvertrag drei (!) Seiten zum Thema „Berlin – Stadt des Sports“, das Wort Sport fällt 92 Mal. Die Minderheit der Sportler und Sportlerinnen eignet sich aber kaum dafür, sie zum Sündenbock aufzubauen und mittels ihrer Diskreditierung von komplexen sozio-ökonomischen Verwerfungen abzulenken. Mit Homo- und Transsexuellen geht das schon besser. Durch ihre langjährigen Emanzipationsbemühungen sichtbarer geworden und langsam in Richtung einer größeren Gleichberechtigung vorrückend, wirkt ihre höhere Präsenz im öffentlichen Raum und den Medien auf viele Angehörige der Mehrheitsgesellschaft offenbar noch immer ungewohnt oder gar störend.
Unbehagen in einer diverser gewordenen Gesellschaft
Wenn nun privilegierte Mehrheitsangehörige für die vermeintlichen Bedürfnisse und Ängste von Abgehängten eintreten, artikulieren sie vor allem ihr eigenes Unbehagen in einer diverser gewordenen Gesellschaft. Dass Homosexuelle Kinder adoptieren wollen, dass Transmenschen Unisex-Toiletten fordern, dass Schwarze sich gegen rassistische Formulierungen in Kinderbüchern aussprechen, rüttelt an der Definitionsmacht eines Bürgertums, dem es in Teilen zu viel wurde mit der offenen und gleichberechtigten Gesellschaft.
Die Publizistin und Friedenspreisträgerin Carolin Emcke formuliert es in ihrem Buch „Gegen den Hass“ so: „Es gab diesen diskreten, aber eindeutigen Vorwurf, nun sei doch seitens der Juden oder der Homosexuellen oder der Frauen auch mal etwas stille Zufriedenheit angebracht, schließlich würde ihnen so viel gestattet. Als gäbe es eine Obergrenze für Gleichberechtigung. Als dürften Frauen oder Schwule bis hierher gleich sein, aber dann sei auch Schluss.“
Der Mehrheit entsteht kein Nachteil, wenn sie Minderheiten emanzipieren
Wenn jetzt ein solcher Schlussstrich verlangt wird, um dem Rechtspopulismus keine Angriffsfläche zu bieten, ist das ein offener Bruch mit den freiheitlich-demokratischen Werten, die es doch eigentlich gegen die Engstirnigen und Radikalen zu verteidigt gilt. Zu behaupten, die Interessenvertretungen von Minderheiten müssten zurückstecken, um das große Ganze nicht zu gefährden, stellt eben dieses Ganze infrage. Und wie soll festgelegt werden, wo die potenzielle Reizschwelle für Rechtswähler erreicht ist? Fühlen sie sich nur durch queere Themen provoziert oder sollte man auch Jüdinnen und Juden nahelegen, sich eine Weile unauffälliger zu verhalten? Wäre es vielleicht besser, wenn schwarze Menschen bis zur Wahl zu Hause blieben, um keine rassistischen Angriffe auszulösen?
Im Gegenteil: Weil es eben keine Obergrenze für Gleichberechtigung gibt, müssen Mehrheitsangehörige – egal ob prekarisiert oder privilegiert – es aushalten, dass die Minderheitenrechte uneingeschränkt gelten und nicht je nach gesellschaftlicher Stimmung über Bord geworfen werden können. Daran mögen sich einige stören, doch das war bei der Durchsetzung des Frauenwahlrechtes und bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung auch so. Vor Reaktionären zurückweichen heißt Verrat an der eigenen demokratischen Sache zu begehen und die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen.
Vereint erreicht man mehr in einer komplizierteren Welt
Vereint erreicht man mehr in einer komplizierter werdenden Welt und in einem Land, das diverser ist als je zuvor. Mehr interkulturelle Kompetenz und mehr Verständnis für den Nächsten bringt uns weiter als Vorwürfe. Wenn Homosexuelle oder Menschen mit Migrationshintergrund oder Behinderung für ihre Interessen eintreten, ist das keine gegen das Gemeinwesen gerichtete separatistische Identitätspolitik, sondern der Versuch, mehr an eben diesem Gemeinwesen zu partizipieren.
Mehrheitsangehörigen entsteht kein Nachteil, wenn andere sich emanzipieren, Diskriminierung überwinden und in den Genuss von mehr Freiheit kommen. So gerät in Berlin durch die Einrichtung eines queeren Jugendzentrums, neuer Unisex-Toiletten und barrierefreier Bahnhöfe weder die Fertigstellung des BER noch die Sanierung der Schulen in Gefahr. Am Ende kann Berlin nur für alle eine bessere Stadt werden.
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