Opfer des Paragrafen 175: Erst 78 schwule Männer wurden entschädigt
Nur wenige Opfer des Paragrafen 175 haben bisher einen Antrag auf Entschädigung gestellt, womöglich auch weil alte Traumata hochkommen. Berlin will mit einer Bundesratsinitiative das Gesetz verbessern.
Es war eine historische Geste: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bat um Vergebung für das Unrecht, das Homosexuellen auch in der Bundesrepublik angetan wurde. So geschehen Anfang Juni in Berlin. Es war das erste Mal überhaupt, dass sich ein hochrangiger Politiker in Deutschland explizit derart äußerte. Denn auch nach 1945 galt lange der Verfolgungsparagraf 175, der Homosexualität kriminalisierte und auf dessen Grundlage zehntausende Männer ins Gefängnis kamen.
Noch nicht allzu lange her ist auch, dass die Bundesrepublik diesen dunklen Teil ihrer Geschichte wieder gutmachen will. Erst im Juni 2017 beschloss der Bundestag die Aufhebung der Urteile, die in der Bundesrepublik nach Paragraf 175 gefällt wurden, und die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer. Doch bisher haben sich nur wenige gemeldet, um das in Anspruch zu nehmen. Beim Bundesamt für Justiz haben bundesweit nur 102 Männer einen entsprechenden Antrag eingereicht, sagt ein Sprecher des Bundesamts für Justiz auf Anfrage. 78 wurden bewilligt, 54.000 Euro bisher insgesamt an Entschädigung ausgezahlt.
In Berlin wurden nur acht Männer rehabilitiert
Wie viele abgelehnt wurden und welche Anträge noch bearbeitet werden, könne man dagegen nicht sagen. Vor Kurzem ergab eine Anfrage von Sebastian Walter, der für die Grünen im Abgeordnetenhaus sitzt, dass in Berlin erst acht Homosexuelle rehabilitiert wurden, zwei davon nur teilweise. Ein Antrag wurde abgelehnt, und einer nicht entschieden, weil der Antragsteller zwischenzeitlich starb - ein Fall, der schlaglichtartig zeigt, wie sehr die Zeit drängt.
Eigentlich ging der Gesetzgeber davon aus, dass rund 5000 der damals mindestens 50.000 Verurteilen noch leben. Beim Bundesamt für Justiz heißt es, es könne mehrere Gründe geben, dass sich jetzt so wenige melden. Naturgemäß seien die Betroffenen alt, viele womöglich pflegebedürftig und hätten daher nichts von dem Gesetz mitbekommen. Auch von schwulen Initiativen ist oft zu hören, dass viel zu wenige davon wüssten, und staatliche Stellen kaum etwas machen würden, um Informationen dazu zu verbreiten.
Opferverbände kritisieren Lücken im Gesetzestext
Für problematisch hält es der Sprecher des Bundesamtes aber auch, dass die Opfer ihre Rehabilitierung bei der Staatsanwaltschaft beantragen müssen – also der Institution, die einst ihre Verurteilung betrieben hatte. „Das könnte womöglich traumatisch wirken.“ Besser wäre es, die Opfer könnten ihre Anträge direkt an das Bundesamt stellen, um den Kontakt mit der Staatsanwaltschaft zu vermeiden.
Zudem kritisieren Opferverbände immer wieder Lücken im Gesetzestext. So wurden diejenigen von der Rehabilitierung ausgenommen, die „nur“ in Untersuchungshaft saßen, später aber nicht verurteilt wurden. Prominentester Fall war hier Wolfgang Lauinger. Er wurde schon von den Nazis wegen seines Schwulseins verfolgt, saß dann in den 50ern erneut acht Monate in Untersuchungshaft. Bis ins hohe Alter kämpfte er für die Rehabilitierung der Opfer des Paragrafen 175. Dieser wurde in der Bundesrepublik erst 1969 entschärft, komplett abgeschafft sogar erst 1994.
Wegen seines Schwulseins doppelt verfolgt - doch nie entschädigt
Doch als die Rehabilitierung dann 2017 endlich beschlossen war, wurde Lauingers Antrag abgelehnt - eben weil auf seine Untersuchungshaft keine Verurteilung folgte. Verbittert schrieb Launiger einen Brief an Heiko Maas, damals noch Justizminister, bat um eine Rücknahme der Entscheidung - vergeblich. Kurz darauf starb Lauinger, 99-jährig, ohne rehabilitiert worden zu sein.
Auch Lauingers Schicksal hat jetzt das Land Berlin dazu bewegt, eine Bundesratsinitiative zu starten, um das Rehabilitierungsgesetz aus dem vergangen Jahr zu verbessern. Die Initiative will der Senat an diesem Dienstag beschließen. „Wir sind den Opfern dieses Unrechts eine schnelle Hilfe schuldig, denn die Betroffenen sind in einem hohen Alter und sollten ihre Entschädigung noch erleben“, sagte Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) dem Tagesspiegel. Denunziationen, die mit dem Paragrafen 175 in Verbindung standen, hätten die Lebensperspektiven vieler Betroffener zerstört. Ausschlüsse vom Studium, der Ausbildung und beruflicher Positionen hätten dazu geführt, dass etliche schwule Männer heute im Alter an der Armutsgrenze und oft in soziale Isolation lebten. Viele würden auch gesundheitlich unter massiven Spätfolgen leiden.
Deswegen soll laut der Berliner Initiative das Gesetz um weitere Ausgleichsleistungen ergänzt werden, etwa besondere Zuwendungen für Haftopfer oder eine Härtefallregelung. Letzteres soll Männern helfen, die wie Lauinger zwar nicht verurteilt wurden, aber in Untersuchungshaft saßen, oder denen gekündigt wurde, nachdem bekannt wurde, dass gegen sie wegen des Paragrafen 175 ermittelt wird.
Eine umstrittene Regel zum Schutzalter
Ziel der Bundesratsinitiative ist zudem, eine umstrittene Regelung zum Schutzalter im Rehabilitationsgesetz zu korrigieren. Auf Druck von CDU/CSU wurde festgelegt, dass nur diejenigen entschädigt werden, deren Partner mindestens 16 Jahre alt waren. Das Schutzalter für einvernehmlichen Sex bei Heterosexuellen liegt dagegen bei 14 Jahren. Nicht nur von der Opposition, sondern auch von Sozialdemokraten wurde dieser Unterschied damals als Diskriminierung kritisiert. Schließlich wurden damals auch Jugendliche oder junge Erwachsene mit geringem Altersunterschied zu ihren Partnern bestraft, die etwa von den Eltern des Partners angezeigt wurden.
Ob sich weitere Länder der Berliner Bundesratsinitiative anschließen, ist unklar. Zumindest einige unionsgeführte Länder dürften skeptisch sein. Gut möglich ist aber auch, dass das Thema durch Steinmeiers Bitte um Vergebung noch einmal neuen Schwung erhalten hat.
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