Maris Hubschmid traut sich was: Du bist, was du fütterst
Ein Spielplatz in Prenzlauer Berg, die Kinder haben Hunger. Ich halte meiner Tochter eine BiFi hin, plötzlich sind alle furchtbar entsetzt.
Da ich selten so viel Spaß auf einem Spielplatz hatte, wie nachdem ich unlängst anderen Eltern gegenüber vorgegeben hatte, mein Kind schliefe durch, habe ich mir ein Folgexperiment gegönnt. Für eine möglichst ergebnisoffene Versuchsanordnung habe ich den Ort des Geschehens gewechselt und einen Spielplatz in Prenzlauer Berg aufgesucht. Ähnlichkeiten mit dem Kreuzberger Sandkasten sind rein zufällig: Auch hier gab es eine Rutsche, einen Emil und eine Marie.
Auch hier führen Sorgeberechtigte für den Fall, dass sich das leiseste Appetitgefühl regt, beachtliche Notkontingente mit sich. Diesmal war es Marie, der als Erster Hunger attestiert wurde. Ihre Mutter reichte ungesüßte Bio-Dinkelstangen herum. Als Marlene ihre alsbald unzufrieden von sich warf, zauberte deren Mama – „du brauchst etwas Richtiges, nicht?“ – ein Rohkostfeuerwerk aus Salatgurke, Karotte und Roter Bete hervor. Wieder durfte sich jeder bedienen.
Du bist, was du isst, aber du bist auch, was du fütterst. Emils Mutter bot die nackten Spiralnudeln aus ihrer Tupperdose beinah beschämt an. „Emil braucht die Kohlenhydrate“, erklärte sie, „er liegt ja gewichtstechnisch am unteren Rand.“
„Da habe ich das Richtige“, triumphiere ich. In alarmierendem Müllabfuhr-Orange liegt die Bifi-Roll-Packung vor mir. „Hat jemand ein Messer?“ Maries Mutter wiegelt ab. „Behalt die mal für dich, wir sind ja versorgt.“ „Nein, nein“, sage ich, „natürlich wird geteilt!“ Ich bearbeite die fettige Wurst mit den Fingernägeln. „Ich glaube, Marie hatte wirklich schon genug“, höre ich. Und: „Ich bin nicht sicher, ob Emil das verträgt.“
"Mortadella isst meine auch"
„Sie wissen, dass das nicht gerade kleinkindgerechte Nahrung ist?“, tadelt Marlenes Mutter. Das „Sie“ wirkt, als hätte sie binnen Sekunden einen Sandwall zwischen uns errichtet. „Was soll ich machen?“, antworte ich. „Jedes Mal, wenn ich eine Bifi aufreiße, kommt meine Kleine und will etwas abhaben.“ „Vielleicht sollten Sie auch darauf verzichten“, äußert Marlenes Mutter spitz.
„Das kann ich nicht. Während der Schwangerschaft hatte ich krasse Mangelerscheinungen, weil man ja keine Salami essen soll“, erzähle ich an Maries Mutter gewandt. Die nickt wissend. „Aber dann bin ich darauf gekommen, dass man die Keime ja tötet, wenn man sie brät. Hab ich mir gleich ein schönes Rührei dazu gemacht!“ Ich halte meinem Kind und dem vorbeiwackelnden Emil die Bifi-Roll hin. „Ich habe gelesen, Kinder unter vier Jahren sollten besser keine Rohwurst haben“, sagt dessen Mutter besorgt.
„Wegen der Listerine?“, frage ich. „Unsere Wurstverkäuferin meint, damit könne man sich genauso bei Gemüse infizieren.“ „Listeriose“, verbessert Marlenes Mutter. „Das Gemüse wird ja gewaschen und geschält. Mal abgesehen vom hohen Fett- und Salzgehalt und der sicher nicht artgerechten Tierhaltung, die sich dahinter verbirgt, sind solche Fertigprodukte allein aufgrund der Zusatzstoffe völlig ungeeignet für Kinder.“
Emils Mutter beobachtet gequält, wie ihr Sohn kaut. „Die Chemie verdirbt den Geschmack“, setzt Marlenes Mutter nach. „Die Kinder lehnen dann naturbelassene Lebensmittel ab.“ „Nein“ versichere ich: „Mortadella isst meine auch.“
Ein großes Stück verzehre ich selber mit demonstrativem Genuss. Zuletzt halte ich Marie und Marlene zwei Brocken hin. „Für Marlene nicht!“ Entschieden entfernt die Mutter ihr Kind aus der Gefahrenzone, trägt es zur Rutsche. Marie schnappt sich beide Stücke, läuft davon – und fällt. „Jetzt sind sie voller Sand!“, ruft die Mutter halb bedauernd, halb erleichtert aus. Und wirft sie in den Müll.
Dieser Text erschien zuerst am 9. Juli 2017 im Rahmen der Kolumne „Maris Hubschmid traut sich was“ in der gedruckten Sonntagsbeilage.
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