Maris Hubschmid traut sich was: "Also mein Kind schläft durch"
Ludwig haut Marie mit der Schaufel, Marie weint, die Schaufel wird aus dem Verkehr gezogen, damit auch Ludwig weint ... Wie man zur meistgehassten Frau auf dem Spielplatz wird.
Die hochgezogene Braue war mir wichtig. Die habe ich geübt. „Aaaach?“, sage ich gedehnt. Sechs Augenpaare, drei unverkennbar übermüdet, blicken mich an. Ich warte noch einige Sekunden – dann erkläre ich in beiläufigem Ton: „Also, mein Kind schläft durch.“
Für diesen Spaß benötigen Sie nicht einmal ein eigenes Kind. Sie können sich auch eines ausleihen. Dann braucht es nur noch einen Spielplatz, einen möglichst überschaubaren, langweiligen. Der Rest ergibt sich. Man kommt mit Kleinkindeltern ins Gespräch spätestens, wenn sich Marie den Schnuller von Ludwig krallt oder jemandem die Feuchttücher ausgehen. Der Austausch von Steckbriefen beginnt. Alter – kommt immer vor Name! –, Kitaplatz, schließlich: Wo hast du entbunden? Wer ein Kind ausleiht, sollte unbedingt diese Vokabel benutzen, weil die Formulierung „Wo ist er geboren?“ jeden als Sachfremden entlarvt.
Alles Weitere ist Geschichte. Ludwig haut Marie mit der Schaufel, Marie weint, die Schaufel wird aus dem Verkehr gezogen, damit auch Ludwig weint. Wenn sich alle beruhigt haben, fängt Ludwig an, sich die aufgequollenen Äuglein zu reiben. „Du bist längst überfällig, nicht wahr?“, analysiert die Mama, darauf die andere interessiert: „Macht er noch Nachmittagsnickerchen? Wir haben auf einen Schlaf am Tag umgestellt, damit abends ...“ Schon ist das Beet bereitet . Oder soll man sagen: Das Bett?
Kinder sind unterschiedlich und alles sind nur Phasen. Auch wenn das Kind von dem einem mal durchschläft. Das macht es nicht ewig. In 3 Monaten ist's wieder anders. [...] Der Spieß der 'besten' Eltern dreht sich ständig in alle Richtungen.
schreibt NutzerIn renozeross
Auf einem Spielplatz teilt man sein Leid, das tut gut
Schlafentzug ist Folter. Er mindert die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit, macht unkonzentriert, reizbar und aggressiv. Bereits drei kurze Nächte am Stück können zu Halluzinationen führen. Hat Ludwig Marie wirklich gehauen? Jeder Erziehungsberechtigte sehnt sich nach der Zeit zurück, in der er zwischen 23 und 7 Uhr 30 seine Ruhe hatte. Nachts ist manch Kreuzberger Sandkasten Umschlagplatz für Drogen. Tagsüber auch: Man giert nach neuen Mitteln, die verheißen, alle Probleme wegzublasen. „Bachblütenbad, aus der Apotheke.“ – „Die Füßchen mit Johanniskrautöl massieren. Gibt es im Reformhaus. Soll ich dir was mitbringen?“
Helfen tut all das nicht. Auf einem Spielplatz teilt man dieses Leid. Das tut gut.
Ludwigs Mutter sieht aus, als wolle sie mir mit der Schaufel wehtun
Folter ist auch, wenn bei anderen mühelos funktioniert, woran man selber scheitert. „Wie, durch?“, fragt die Mutter von Emil. „Von acht bis acht.“ Jetzt guckt auch der Vater mit dem Mönchengladbach-Schal von der Rutsche herüber. „Ohne Stillmahlzeit?“ – „In dem Alter haben Babys nachts keinen Hunger mehr“, weiß ich. „Ludwig schon“, wirft seine Mutter ein. „Vielleicht deutest du seine Signale falsch?“, gebe ich zu bedenken. „Wie lange klappt das schon?“, erkundigt sich Maries Mutter bewundernd. „Eigentlich schon immer“, sage ich achselzuckend. Der Gladbach-Vater sieht aus, als habe der Schiri zu Unrecht einen Elfmeter für die Gegenmannschaft gepfiffen.
„Füttert ihr was Bestimmtes? Habt ihr Rituale?“ Ich verneine. Strecke mein Gesicht in die Sonne. „Ich glaube, die Ausstrahlung der Eltern ist entscheidend. Entspanntheit überträgt sich auf das Kind, Nervosität eben auch.“ Maries Mutter nickt. Ludwigs dagegen sieht aus, als wolle sie mir mit der Schaufel wehtun. „Wichtig ist, dass du klar handelst“, sinniere ich. „Wenn dein Kleiner weiß, dass er sich auf dich verlassen kann, muss er nicht ständig Nähe einfordern.“ Ludwigs Mutter steht auf.
Später bekomme ich mit, wie sie eine WhatsApp-Gruppe gründet, „damit man sich wiedersieht“. Meine Nummer will sie nicht. Dafür habe ich den Triumph genossen. Wenn man seit 480 Tagen nicht durchgeschlafen hat, braucht man Momente der Genugtuung.
Dieser Text erschien zuerst am 11. Juni 2017 im Rahmen der Kolumne „Maris Hubschmid traut sich was“ in der gedruckten Sonntagsbeilage.