Gefälscht oder gammelig: Der Betrug mit Lebensmitteln nimmt zu
Falsch deklariert, gepanscht, verdorben: Die Kriminalität im Lebensmittelhandel nimmt zu. Viele Fälle werden nie entdeckt.
Vor wenigen Wochen erschütterte ein Gammelfleisch-Skandal Brasilien. Schön weit weg, dachte da vielleicht mancher, nicht wissend, dass die EU zu den wichtigsten Abnehmern für brasilianisches Fleisch zählt. Ob in diesem Fall Verdorbenes nach Deutschland gelangte, ist unklar – und tatsächlich eher unwahrscheinlich. Vor einigen Jahren sah das anders aus. Damals wurde gammeliges Fleisch auch in Berliner Dönern verarbeitet. 2013 war es ebenfalls Fleisch, das für Aufruhr sorgte, weil Pferde zerhackt worden waren, wo man Rind erwartete. Ein Risiko bestand beim Verzehr nicht. Betrogen fühlten sich viele Verbraucher trotzdem.
Die falsche Tierart
Betrogen werden sie jeden Tag, glaubt man dem europäischen Kriminalpolizeiamt Europol. Öffentlich werden nur die wenigsten Fälle – solche, die eine gewisse Dimension haben oder von denen eine ernste Gesundheitsgefahr ausgeht. In einer Sonderoperation mit dem Namen „Opson“ haben Europol und Interpol unlängst binnen vier Monaten mehr als 10 000 Tonnen und eine Million Liter gefälschter Lebensmittel konfisziert. Seelachs wird zu Edelfisch, ungarisches Entenfleisch mutiert irgendwo auf dem Weg über die Grenze zu feinem Gänsefleisch für hochpreisige Leberpastete.
Zwischen 2011 und 2016 beschlagnahmten Europol und Interpol in ähnlichen Aktionen auf fünf Kontinenten mehr als 30 Millionen Kilogramm falsch deklarierte Lebensmittel. Darunter allein 31 Tonnen tiefgefrorene, wieder aufgetaute und als frisch ausgewiesene Fische in Italien, deren Verwesung die Betrüger mit Säure, Phosphat und Wasserstoff gestoppt hatten. Bereits 2013 äußerte sich der Ausschuss für Lebensmittelsicherheit des Europaparlaments in einem Bericht „besorgt über Signale, dass die Zahl der Betrugsfälle steigt“, forderte schärfere Kontrollen und höhere Strafen. Die soll es nun auch geben. Das EU-Parlament hat im März einen entsprechenden Beschluss in Straßburg verabschiedet. Umgesetzt werden soll der allerdings erst ab Dezember 2019.
Straftaten in Deutschland nehmen zu
Auch in Deutschland sei Betrug mit Lebensmitteln ein wachsendes Thema, sagt Claudia Schmid von der Berliner Senatsverwaltung für Verbraucherschutz. Sie leitet die neu gegründete Arbeitsgruppe „Lebensmittelkriminalität“ von Bund und Ländern. Der Begriff der Lebensmittelkriminalität umfasst dabei die gesamte Bandbreite von „Täuschungshandlungen mit Gewinnerzielungsabsicht“, die von Verstößen gegen Bio-Richtlinien über Markenpiraterie bis hin zu gesundheitlich bedenklichen Lebensmitteln reicht.
Zwar gilt die Qualität von Nahrungsmitteln, die in Deutschland angeboten werden, als hoch, der gesetzliche Schutz als umfassend. Dennoch werden bei amtlichen Kontrollen Jahr für Jahr in rund 25 Prozent der Fälle Verstöße festgestellt – das heißt zuletzt 213 475 Mal. Meist geht es dabei laut dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) um mangelhafte Betriebshygiene oder Kennzeichnung.
Immer wieder werden Produkte aber auch komplett falsch etikettiert. Kriminelle Banden vertreiben minderwertige Ware mit gefälschten Labels teurer Marken, etwa bei Whiskey oder Wodka. Billige Mischöle werden als teures Edel-Olivenöl für bis zu 30 Euro der Liter verkauft, wie zu Beginn des Jahres auch die Stiftung Warentest aufdeckte. Konventionell produziertes Geflügel oder Eier werden als Bioware deklariert. „Es werden zunehmend luxuriöse Lebensmittel für breitere Bevölkerungsschichten angeboten“, bemerkt Claudia Schmid aus der Senatsverwaltung. „Das macht Betrug in diesem Bereich zu einem immer lukrativeren Geschäft: Es lockt eine Riesen-Gewinnspanne.“
"Nur die Spitze des Eisbergs"
Vor allem, weil die Gefahr, entdeckt zu werden, sehr gering ist. „Wenn nicht gerade Krankheitsfälle wegen manipulierter Lebensmittel auftreten, bleibt der Großteil dieser Straftaten unbemerkt. Wir sind auf Tipps dringend angewiesen.“ Deshalb seien auch Regelungen zum Schutz von „Whistleblowern“, also Tippgebern erforderlich. Schmid geht von einer erheblichen Dunkelziffer aus. „Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs.“
Durch Zugabe von billigem Eiweiß wird das Gewicht von Rindfleisch erhöht. Vermeintlich naturbelassene Erzeugnisse wie Honig und Ahornsirup werden mit Zucker versetzt. Konzentrierte Produkte wie Saft oder Milch werden mit Wasser verdünnt. Ähnliches passiert bei Gewürzen, vor allem Chilipulver und der teure Safran sind betroffen. Man streckt sie mit Stärke, Zwiebeln oder auch gefärbtem Gras.
Mit gefälschten Papieren kommen die Waren durch den Zoll
Das Problem: In unserer fortschrittlichen Konsumwelt sind der Markt und die Lieferwege sehr unübersichtlich geworden. „Es sind zu viele Akteure“, sagt Claudia Schmid. „Mit gefälschten Papieren und der Verschleierung von Lieferketten und Herkunft gelingt es immer wieder, diese Produkte auf den Markt zu bringen und bei Importen aus Drittländern durch den Zoll zu kommen.“ „Durch die zunehmende Globalisierung der Warenströme kann ein hundertprozentiger Schutz vor Lebensmittelbetrug auch in Deutschland nicht gewährleistet werden“, heißt es auch beim Bundesamt BVL. Schmids Meinung nach hapert es jedoch zudem an einem abgestimmten Vorgehen aller beteiligten Behörden.
Lebensmittelüberwachung und Polizeiarbeit sind hierzulande Aufgabe der Länder. Die Lebensmittelkriminalität sei aber meist international aufgestellt und gut organisiert. „In anderen Staaten ist die Bekämpfung zentral angesiedelt, der Austausch von Informationen einfacher – etwa in den Niederlanden oder Großbritannien.“ Die Bündelung der Kräfte von Polizei, Staatsanwaltschaften und Behörden bis hin zum Zoll sei überfällig gewesen. Die Initiative zur Gründung einer Arbeitsgruppe kam aus Berlin. Einmal haben sich die 15 Mitglieder bereits getroffen, ein Konzept wird jetzt entwickelt.
Kontrolleure beklagen Personalmangel
Zwar zeigt ein europäisches Warnsystem – RASSF – an, wenn irgendwo in der Union problematische Produkte gefunden wurden. Das beschränkt sich aber nur auf Produkte, von denen wirklich Gefahr ausgeht. „Lebensmittelhandelskonzerne und Hersteller müssen durch gesetzliche Kontrollpflichten mit in die Haftung genommen werden – aber davor schreckt die Politik aus Angst vor der Lebensmittellobby zurück“, kritisiert Martin Rücker, Geschäftsführer der Verbraucherorganisation Foodwatch. Und der Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure beklagt einen Personalmangel: Mit den vorhandenen Mitarbeitern könnten bestenfalls die Hälfte der registrierten Betriebe kontrolliert werden. Grundsätzlich haftet in Deutschland der Importeur für die Ware, die er nach Deutschland bringt. Im Zuge des Pferdefleischskandals verlor mancher seine Betriebserlaubnis.
Wahr ist: Diverse Händler kontrollieren inzwischen sehr gründlich auf eigene Faust, um Qualität und Sicherheit zu gewährleisten. Dabei sind es Beobachtern zufolge vor allem Discounter, die strenge Nachweise verlangen. Wegen der Größte ihrer Filialnetze könnten Imageschäden für sie schnell den Ruin bedeuten.
Nicht für den menschlichen Verzehr geeignet
Im polizeilichen Bereich wird Lebensmittelkriminalität dem Sondermeldedienst „Umwelt- und Verbraucherschutzdelikte“ zugeordnet. Binnen zwei Jahren wurden in Deutschland laut polizeilicher Kriminalstatistik 3991 Straftaten registriert. 2015 betrafen 36 ernste Fälle, die über das Meldesystem der EU gemeldet wurden, auch die Bundesrepublik – 2016 waren es schon 51. Viele sind wohl am Großteil der Öffentlichkeit vorbeigegangen, weil Waren rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen wurden.
Auch wenn es sich bei den meisten Verbrechen um schnöde Geldmacherei handelt: Immerhin in 18 Prozent der Fälle stellte Europol 2015 eine verbotene Behandlung oder verbotene Substanzen fest (siehe Grafik). So fanden italienische Ermittler 85 Tonnen Oliven, die mit giftiger Kupfer-Sulfat-Lösung gefärbt waren. Aus Indonesien kamen Hühnerteile, eingelegt in schädlichem Formalin.
In neun Prozent der Fälle wurden gänzlich verbotene, nicht für den menschlichen Verzehr geeignete Produkte gefunden. Straßensalz wird zu Speisesalz, Kunstdünger zu Zucker.
Sägespäne im Joghurt: Viele Tricks sind legal
Nach Schätzung eines US-amerikanischen Instituts entsteht der globalen Lebensmittelindustrie pro Jahr durch Betrug ein Schaden von 13 Milliarden Euro. Viele halten diese Zahl für zu konservativ. Eine weitere Schwierigkeit im Kampf gegen die Betrüger aber ist: Juristisch ist in der EU bislang noch nicht einmal eindeutig geklärt, wo Produktoptimierung aufhört und Lebensmittelbetrug beginnt.
Viele Tricks mit Zutaten und Zusatzstoffen, die Verbraucherschützer auf Seiten wie „Lebensmittelklarheit.de“ anprangern, sind moralisch verwerflich, aber legal. Zum Beispiel, wenn Kalbswiener überwiegend aus Schweinefleisch bestehen oder das Erdbeeraroma im Joghurt aus Sägespänen gewonnen wird. Einen aufgetauten Fisch als frischen zu verkaufen, ist illegal, der Einsatz bestimmter Stoffe, um ihn frischer aussehen zu lassen, gesetzeskonform. Das gilt freilich nicht mehr, wenn – wie zuletzt auch in Brasilien – Chemikalien eingesetzt werden, um den Verwesungsgeruch bereits verkommener Lebensmitteln zu überdecken. Die Grenzen aber sind fließend.
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