Der Luxus der Anderen: Ausgebeutet in Berlin – 550 Euro für drei Wochen harte Arbeit
Als Arbeiter kam er nach Deutschland, baute mit an der glitzernden „Mall of Berlin“ – und wurde nicht bezahlt. Heute lebt Nicolae Molcoasa auf der Straße.
Mit Klebeband hat er die Ritzen des Daches abgedeckt, weil es sonst reinregnet. Unten liegt Pappe gegen die Kälte im Boden. Hier schläft Nicolae Molcoasa, an einer verlassenen Bushaltestelle mitten in Potsdam, wo er zuletzt ein richtiges Dach über dem Kopf hatte. Um ihn herum hübsche Backsteinfassaden und beleuchtete Fenster. Sie gehören zu einer behaglichen, warmen Welt, die Molcoasa verschlossen bleibt.
„Ich möchte als Gleicher unter Gleichen anerkannt werden“, sagt er auf Rumänisch. Die meisten Menschen, die an ihm vorbeilaufen, sehen weg, als wäre er nicht da. Der 50-Jährige hat ein hartes Leben. Aber ein wenig Hoffnung ist da noch. Dass er in Deutschland als Mensch mit Rechten anerkannt wird. Dass er nicht bloß als billige Arbeitskraft herhalten muss, sondern auch Hilfe in der Not findet. Ein wenig Hoffnung, dass das europäische Versprechen von Zusammenhalten und Wohlstand kein leeres Gerede ist.
550 Euro für drei Wochen harte Arbeit
„Es ist tatsächlich eine Schande, dass Menschen aus Mittel- und Osteuropa, aus Bulgarien und Rumänien, in dieser reichen Gesellschaft ausgebeutet werden“, beschwerte sich auch SPD-Minister Hubertus Heil im Sommer. Beim Fleischverarbeiter Tönnies war es zu massiven Corona-Ausbrüchen gekommen. Auch dort arbeiteten viele Menschen aus dem Osten der EU.
Es ist einer der kältesten Tage des Jahres. Zwei Jacken trägt Nicolae Molcoasa übereinander, eine rote, darüber eine gelbe. Er ist ein gepflegter Mann, wirkt jünger als 50. Man hielte ihn nicht für einen Obdachlosen. Und doch steht er hier, an der Straßenecke und verkauft Magazine. Sein Hab und Gut hat er in große Koffer verpackt, lädt sie in einen Einkaufswagen, beinahe überragen sie seinen Kopf.
Ungefähr 25 Kilometer entfernt steht ein Gebäude, das Nicolae Molcoasa gebaut hat, wenn auch nicht allein. In diesem Gebäude kann er nicht wohnen, es hat ein Glasdach, das sich in einer Höhe von 23 Metern aufspannt, es würden 1500 Wohnungen darin Platz finden. Es ist eins von Berlins bekanntesten Einkaufszentren, die Mall of Berlin.
Im August 2015 entschied das Berliner Arbeitsgericht im Fall Molcoasa: 1226 Euro Lohn soll er bekommen, für seine auf der Baustelle geleistete Arbeit. Nur 550 Euro habe er für drei Wochen harte Arbeit erhalten, sagte Molcoasa dem Gericht. Einen „wichtigen Erfolg gegen Ausbeutung und moderne Lohnsklaverei“ nannte der damalige Berliner Grünen-Chef Daniel Wesener das Urteil. Nur: Das Geld hat Molcoasa bis heute nicht bekommen.
Die Richterin sagt: "Das Ganze stinkt zum Himmel"
Er und ein Kollege hatten gegen Openmallmaster geklagt. Das war eines der Subunternehmen, das in einer unübersichtlichen Kette von Firmen die Baustelle organisierte. Aber die Entscheidung kam aus formalen Gründen zustande, weil die Beklagten niemanden zur Verhandlung schickten.
So wenig bedeutete ihnen offenbar die Sache, so gewiss konnten sie sich sein, dass ihnen nicht viel passieren würde. Richterin Beate Aster reagierte streng. „Das Ganze stinkt zum Himmel. Und das ist noch nett ausgedrückt“, sagte sie im Frühjahr 2015.
Seit es in der EU einen gemeinsamen Arbeitsmarkt gibt, sind hunderttausende Menschen nach Deutschland gekommen. Gut 400.000 Beschäftigte mit rumänischer Staatsangehörigkeit wie Molcoasa zählte die Bundesagentur für Arbeit dieses Jahr – und das sind noch diejenigen, die zumindest sozialversicherungspflichtig angestellt sind.
Die Menschen sind anfällig für Ausbeutung, nehmen oft übelste Bedingungen in Kauf, weil sie keine Wahl haben. „Wer aufmuckt, der fliegt raus“, sagt Justyna Oblacewicz vom Deutschen Gewerkschaftsbund. 8000 Menschen haben sich bundesweit allein in der ersten Hälfte des Jahres 2020 an die Beratungsstellen für „Faire Mobilität“ der Gewerkschaft gewandt.
Vor gut sechs Jahren betritt Nicolae Molcoasa zum ersten Mal das Areal in der Mitte Berlins, wo heute die Mall steht. Er schleppt schweres Baumaterial. „Von Anfang an war die Arbeit hart, übertrieben.“ Zehn Stunden habe er am Tag gearbeitet, an sechs Tagen in der Woche. „Aber es wurde schlimmer.“
Bullige Typen tauchten auf der Baustelle auf, verboten Pausen, aus angeblich „technischen Gründen“, brüllten Molcoasa und seine Kollegen an, wenn sie Wasser trinken wollten. Aber Molcoasa will an diese Sache lieber nicht mehr so viel denken. „Das würde meine jetzige Lage noch schlimmer machen.“
Es hätte damals auf dem Bau ein Mindestlohn von 11,10 Euro gegolten. Aber Molcoasas Arbeitgeber hielt sich nicht daran, als er im September und Oktober 2014 auf der Baustelle arbeitete. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ermittelt, dass der Mindestlohn bei deutschen Staatsbürgern in etwa jedem zehnten Fall nicht gezahlt wird. Bei Ausländern ist es jeder siebte. Betriebsprüfungen sind selten, Sanktionen lasch, Verstöße nachzuweisen ist schwer, heißt es in der Studie.
„Die Anwälte haben so viele Beweise vorgebracht, trotzdem haben wir verloren“
Die verantwortlichen Subfirmen kommen davon. Openmallmaster ist pleite, der Geschäftsführer wurde per Haftbefehl gesucht, weil er die Insolvenz verschleppte. Der Befehl ist verjährt. Molcoasas Urteil über die 1226 Euro könnte theoretisch noch vollstreckt werden.
Wenn man irgendwie an Openmallmaster herankäme. „Ich habe ein Trauma“, sagt Molcoasa an dem kalten Tag in Potsdam. „Die Anwälte haben so viele Beweise vorgebracht, aber trotzdem haben wir verloren.“
Ein paar Wochen bevor er die Baustelle zum ersten Mal betritt, lebt Molcoasa in einer Kleinstadt bei Bukarest. Er ist bei seiner Halbschwester, als ihn ein „gutes Omen“ erreicht. Das denkt er damals zumindest. Ein Mann ruft an.
„Das ist nur für deine Ohren bestimmt“, sagt er. „Spring in den Bus und arbeite für uns auf dieser Baustelle in Berlin, sobald es geht.“ 1500 Euro im Monat werde er verdienen. Ungefähr das doppelte eines durchschnittlichen Bauarbeiterlohns in Rumänien. Das gute Omen war in Wahrheit ein schlechtes.
Fälle wie der Molcoasas zeigen: Gleiche Rechte bringen nur dann etwas, wenn Menschen sie durchsetzen können, wenn sie ihre Rechte überhaupt kennen. Oft ist das bei Menschen aus dem Osten der EU nicht so, sagt Gewerkschafterin Oblacewicz.
Auch die Obdachlosigkeit ist als Gefahr im System angelegt: Auf dem Bau, in der Landwirtschaft und der häuslichen Pflege ist die Unterkunft für Ausländer teilweise an den Arbeitsplatz gekoppelt. Wer den Job verliert, ist dann gleichzeitig ohne Dach über dem Kopf. „In solchen Fällen bleibt den Menschen nichts anderes übrig als den Weg nach Hause anzutreten oder so schnell wie möglich eine neue Anstellung zu finden.“
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Molcoasa spricht mit dem ganzen Körper, breitet seine Arme aus, gestikuliert. Was bleibt ihm auch anderes übrig, die Leute verstehen seine Sprache ja kaum. „Ich will mich integrieren und Deutsch lernen“, sagt er. Nach Rumänien möchte er nicht zurück.
„Da gibt es keinen Ort, an den ich heimgehen könnte.“ Molcoasa lebte in der Vergangenheit zweimal länger mit Frauen zusammen, bekam mit beiden je ein Kind. Seine Tochter ist zwanzig, hat schon geheiratet, der Sohn neun. Die Mütter wollen keinen Kontakt. Nur eine weitere Verwandte sieht den Sohn ab und zu, schickt ihm dann Fotos.
Die Subfirmen sind pleite – wieso hilft der Auftraggeber nicht?
Seine Minderheit sei außerdem besonders von Covid-19 betroffen, Molcoasa gehört zur Bevölkerungsgruppe der Roma. „Die Regierung tut nichts.“ Von der EU ist er auch wegen ihrer Corona-Politik enttäuscht. In Rumänien stecken sich derzeit täglich doppelt so viele Menschen mit Corona an wie hierzulande, wenn man die Zahlen auf die Bevölkerung umrechnet.
Wenn die Subfirmen in einem Fall wie diesem pleite sind, gibt es dann niemanden, der Verantwortung übernimmt? Auftraggeber der Mall war die Firma HGHI des Unternehmers Harald Huth. Er hat viele Einkaufszentren in der Stadt aufgebaut, das Schloss in Steglitz, das Schultheiss-Quartier in Moabit.
Huth musste sich einige negative Schlagzeilen gefallen lassen, fühlte sich unfair behandelt. „Vielleicht sollte ich es machen wie Trump“, sagte er im Tagesspiegel-Interview vor zwei Jahren. „Dem ist es egal, was die anderen sagen.“
Auch über Molcoasa und seine Kollegen sagte er damals etwas: „Wenn die Gewerkschaftler mich angerufen und mir das Schicksal der Männer geschildert hätten, hätte ich denen natürlich Geld gegeben, schon um den Ärger zu vermeiden.“
Für diese Recherche hat der Tagesspiegel Huths Firma HGHI erneut gebeten, ihren Standpunkt zu schildern, wie es bei Konfliktberichten üblich ist. Die Pressestelle reagierte aber nicht auf die Bitte, sich nach einer Frist von zwei Werktagen zu äußern.
Auf die Fragen, ob solche Fälle weiter auf HGHI-Baustellen vorkommen, man sich in der Verantwortung für Fälle von Lohnausfall auf der Mall-Baustelle sieht oder gar bedauert, dass ehemals auf der Mall-Baustelle tätige Menschen heute in Obdachlosigkeit leben, kommt etwa eine Stunde nach Abschicken der E-Mail ein Anruf.
Ohne eine anarchistische Gewerkschaft wäre der Fall kaum bekannt geworden
Harald Huth persönlich ist am Apparat, er ärgert sich über die Anfrage. Zwar sagt er in dem Telefonat etwas zu den Fragen aus der Mail, besteht aber darauf, dass der Tagesspiegel seine Antworten nicht zitieren dürfe. Vier Tage später trifft noch ein Brief von einer bekannten Kanzlei für Medienrecht ein.
Die HGHI werde keine Stellungnahme abgeben. Sie müsse nicht hinnehmen, hier in falschen Zusammenhängen dargestellt zu werden – die einseitige Interessenlage der Quelle sei bekannt.
Für Huth wäre es offenbar besser, wenn sich niemand für den Fall interessierte. Ohne die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union, eine anarchistische Gewerkschaft, wären Molcoasa und seine Kollegen wohl nie so bekannt geworden. Die Berliner Gruppe demonstrierte mit den Männern, suchte einen Anwalt, einen ehrenamtlichen Dolmetscher. Und sie prägte einen anderen Namen für das riesige Haus am Potsdamer Platz: „Mall of Shame“, Mall der Schande.
Wäre die Öffentlichkeit nicht auf die Sache aufmerksam geworden, hätten die Rumänen vielleicht viel früher aufgeben müssen. Selbst wenn sie im Recht sind, ist es schwer, das juristisch durchzusetzen. In einem der vielen Prozesse beschwerte sich ein Anwalt, dass die Post für Molcoasa an die Adresse der FAU geschickt wurde. Aber welche andere Adresse soll jemand angeben, der auf der Straße lebt? Das Gericht entschied schließlich, dass die Gewerkschaftsadresse in diesem Fall ausreicht.
„Es ist ein Albtraum, der nicht endet“, sagt Molcoasa über sein Leben heute. Er kämpft nicht mehr um seinen Lohn. Aber ein Anwalt versucht zu erreichen, dass er Sozialhilfe bekommt. Dafür muss er aber mindestens zwölf Monate in Deutschland berufstätig gewesen sein. Molcoasa hatte andere Jobs, nach der Sache mit der Mall. Er half bei Abrissarbeiten, bis er wegen der Überlastung im Krankenhaus aufwachte. Putzte in Restaurants, das sei fast noch härter als der Bau gewesen.
Was können sie schon tun, ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse in einem fremden Land?
Auf Baustellen gibt es oft ein kompliziertes Geflecht von Firmen. Die bekommen den Auftrag vom Generalübernehmer. Der baut für den Entwickler, der wiederum dafür zuständig ist, das Geld von Banken einzusammeln. Am Ende ist es schwierig, Ansprüche durchzusetzen.
Der Entwickler übernimmt keine Haftung für das, was weiter unten in der Kette passiert. Das schwächste Glied sind die Arbeiter. Oft geben sie auf, fahren zurück nach Hause. Was können sie schon tun, ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse in einem fremden Land?
Auch Harald Huths Firma HGHI war nie der Arbeitgeber von Molcoasa. Ehemalige Kollegen von der Baustelle haben versucht, vor dem Bundesarbeitsgericht durchzusetzen, dass Huth als Entwickler trotzdem haften muss. Das Gericht sagte nein. Die Begründung: Eine Bürgenhaftung nach dem Gesetz trifft nur den Unternehmer, der sich selber gegenüber einem Bauherrn zur Erbringung einer Werkleistung verpflichtet hat und diese nicht mit eigenen Arbeitskräften erledigt, sondern sich zur Erfüllung seiner Verpflichtung eines Subunternehmers bedient.
Huths Firma als Bauherr traf diese Haftung also gerade nicht. Der Gedanke dahinter ist wohl, dass private Bauherren bei Fehlern auf Eigenheim-Baustellen nicht haften sollen. Warum das auch für eine Milliarden-Mall gilt, „vermag nicht zu überzeugen“, schreibt Anwalt Klaus Stähle, der die Rumänen vertrat. Vors Verfassungsgericht könnte man noch gehen.
Wenn er sich etwas für die allernächste Zeit wünschen könnte, würde Molcoasa zur Mall of Berlin zurückkehren, zumindest in deren Nähe. In der Gegend gebe es viele nette Passanten, die ihm helfen, gerade in den Weihnachtstagen, sagt er. Dann, einen Tag nach dem Treffen in Potsdam, erhält Molcoasa eine gute Nachricht: Für zwei Monate wird er vom deutschen Staat Sozialhilfe erhalten. Eine vorläufige Entscheidung. Prozesse im Sozialrecht können sich ewig hinziehen. Aber wie lange kann ein Mensch auf Hilfe warten, ohne die Hoffnung zu verlieren?
Seit zwei oder drei Wochen bekommt Molcoasa an der zugigen Bushaltestelle manchmal Besuch in der Nacht. Ein junger Fuchs, der hungrig ist. Auf den Namen Kiki reagiert er, wenn man ihn ruft. Molcoasa gibt dem Tier zu essen, es leckt sich die Pfoten. Er nimmt es als Geste der Dankbarkeit. „Ich mache mir Sorgen, weil manche Leute ihren Kindern beibringen, gemein zu sein.“ Er fürchtet, sie könnten Kiki Gewalt antun. Diese Welt hat ihn misstrauisch gemacht.