Bulgarischer Bestsellerautor im Interview: Ivan Krastev: Job in der Fleischindustrie bedeutet „sozialen Aufstieg“
Der bulgarische Politologe Krastev sieht die Debatte um Tönnies kritisch. Für Osteuropäer bringt ein Fleischindustrie-Job einen sozialen Aufstieg, sagt er.
Der einflussreiche bulgarische Politologe Ivan Krastev hat sich verwundert gezeigt über die deutsche Debatte zu den Zuständen in der Fleischindustrie. „Wenn Sie an die niedrigen Löhne bei uns denken, verstehen Sie, dass ein Arbeitsplatz in Westeuropa für unsere Arbeiter einen sozialen Aufstieg bedeutet“, sagte Krastev dem Tagesspiegel am Sonntag.
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Der Buchautor („Europadämmerung“) kritisierte eine Aussage des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU), der zwischenzeitlich Arbeiter aus Bulgarien und Rumänien für den Corona-Ausbruch beim Schlachtbetrieb Tönnies verantwortlich gemacht hatte. „Eine Gesundheitskrise wie Corona lässt sich nicht bestehen, wenn nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen geschützt werden, also in Deutschland auch die Arbeiter aus Rumänien und Bulgarien“, sagte Krastev.
Krastev sieht politischen Neuanfang in der EU mit Merkel
Wenige Tage vor Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft äußerte Krastev die Überzeugung, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einen politischen Neuanfang in der EU wagen wolle. „Merkel hat sich entschieden, Europa zu ihrem politischen Erbe zu machen“, sagte er. Der Politikwissenschaftler verwies insbesondere auf den EU-Wiederaufbaufonds und eine gemeinsame Aufnahme von Schulden durch die EU, die Kanzlerin im Mai gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagen hatte. Neuerdings wirke Deutschland „aktiv an einem grundlegenden Wandel“ in der EU mit, betonte Krastev. Am kommenden Mittwoch übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft.
[Das vollständige Interview mit Ivan Krastev lesen Sie am Sonntag im Tagesspiegel oder ab Samstagabend im E-Paper.]
Gleichzeitig widersprach Krastev der Einschätzung von Finanzminister Olaf Scholz (SPD), dass die EU angesichts des geplanten Wiederaufbauprogramms derzeit einen ähnlichen Schub zum Aufbau eines Föderalstaates erlebe wie die USA im 18. Jahrhundert. Man „sollte jetzt nicht eine neue Stufe zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa ausrufen“, warnte Krastev. „Das entspricht nicht der Sichtweise der Wähler.“