Katja Riemann über Geflüchtetenlager in Griechenland: „Wer unterstützt sie? Wer?“
Katja Riemann hilft mit vielen anderen Prominenten der Initiative #Humanitätjetzt. Die Schauspielerin über Corona-Sorgen, Projektreisen, ihr erstes Buch – und Nächte vorm Lageso.
Frau Riemann, welchen Ihrer Vorhaben hat die Coronakrise einen Strich durch die Rechnung gemacht?
Vor wenigen Wochen haben wir noch „Catweazle“ in Hamburg gedreht, das Remake einer 70er-Jahre-Serie aus den USA. Wir haben die Dreharbeiten in Hamburg abgebrochen, zu weiteren Drehterminen in Berlin ist es nicht mehr gekommen. Ein anderer Film ist verschoben bis ultimo, ich beginne eigentlich im August mit Proben am Gorki-Theater in Mitte in einem Stück von Sibylle Berg, ob das was wird, steht in den Sternen. Was mich am meisten gebeutelt hat, ist, dass die Leipziger Buchmesse ausgefallen ist. Mein Buch kam gerade heraus, ich hätte dort vier Veranstaltungen gehabt. Alles ist abgesagt, ich bin nun erst mal arbeitslos. Und habe doch eine Menge zu tun. Mit den Leuten von der Kampagne #LeaveNoOneBehind versuche ich darauf aufmerksam zu machen, dass die Situation der Geflüchtetenlager in Griechenland unhaltbar ist.
Mit wem auf den griechischen Inseln stehen Sie in Kontakt, wie ist die Stimmung in den Flüchtlingslagern?
Mit dem Grünen-Politiker Erik Marquardt und mit den Leuten vom One Happy Family Community Center. Das ist das Zentrum, für das auch Sie vom Tagesspiegel mit Ihrer Weihnachtsaktion „Menschen helfen!“ Spenden gesammelt haben. Es gibt Lautsprecherdurchsagen, dass man sich die Hände waschen möge, Social Distancing üben und Masken tragen solle. Wie soll das gehen, wenn man drei Stunden in einer dichten Schlange bei der Essenausgabe ansteht, wenn man zu sechst in einem Sechs-Quadratmeter-Zelt schläft, wenn es mal Wasser gibt und mal nicht, wenn nicht jeder eine Maske hat, wenn man das Lager nicht verlassen kann, wenn die Internationalen verschwunden und nur noch einige lokale NGOs vor Ort sind. Ich weiß von einer griechischen Menschenrechtsanwältin, die keinen Zugang zum Lager hat. Die Griechen auf den Inseln können nicht mehr. Wer unterstützt sie? Wer?
Vor einem Monat haben Sie mit weiteren Prominenten einen offenen Brief an Innenminister Horst Seehofer geschickt, in dem Sie eine humane Flüchtlingspolitik fordern.
Unterzeichnet haben den Brief NGOs, Aktivisten, Unternehmen, öffentliche und private Personen, da haben sich eine ganze Menge zusammengefunden. Es ging darum, öffentlichen Druck zu machen auf das Bundesinnenministerium, was auch partiell gelang, immerhin erhielten wir ein Antwortschreiben des BMI. Die Situation der Geflüchtetenlager in Griechenland ist ja nicht neu. Es gab sie bereits vor Corona. Wir rufen schon lange und laut. In Deutschland gibt es Kapazitäten und Aufnahmewillen in Gemeinden, Kreisen, Städten, sogar Bundesländern, doch sie erhalten kein grünes Licht. Man müsse einen Antrag beim BMI stellen, was im Umkehrschluss bedeutet, die Gemeinde bleibt auf den Kosten allein sitzen.
Am Sonnabend sind 47 Minderjährige aus Lagern in Griechenland in Deutschland eingetroffen, einige davon will Berlin aufnehmen. Ist das ein Erfolg?
Ja, es ist toll, dass Deutschland und Luxemburg Kinder aufnehmen, ganz sicherlich hatte es Grund, dass zuerst zwölf Kinder in Luxemburg ankamen, damit Deutschland sich nicht erneut in die Vorreiterrolle begibt und Gegenwind von rechtspopulistischen Meinungsmachern bekommt. Deutschland hat zugesagt, weitere 300 Kinder aufzunehmen, und weitere zehn EU-Staaten nehmen insgesamt 1600 Geflüchtete auf. Dem gegenüber steht die Zahl von 20.000 Menschen in Moria und 40.000 in den Lagern auf den griechischen Inseln. Unsere Aufgabe ist es jetzt, den öffentlichen Druck auch aus Berlin heraus aufrechtzuerhalten, um an die Versprechen zu erinnern, die gemacht wurden, und letztlich auch, um an Rechte zu erinnern wie das geltende EU-Recht, die Menschenrechte, das Asylrecht und die UN-Kinderrechtskonvention.
Sie haben auch in Deutschland und in Berlin Einrichtungen für Geflüchtete besucht.
Ich bin damals, als alles begann, an allen möglichen Orten gewesen, im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt in Brandenburg, bei einem Wohnprojekt und in Leichtbauzelten in Potsdam, oder auch am Lageso. Als ich nachts um halb drei von dort zurückkam, sagte ich zu meinem Mann: „Ich habe das Gefühl, dass ich von einer Projektreise zurückkomme und nicht aus Moabit.“
Welche Begegnung hat Sie bei Ihrem Engagement in Berlin besonders beeindruckt?
Ich saß in der Jury von einem Projekt, das ausgelobt wurde vom Berliner Senat, das heißt „Farben bekennen“. Da geht es darum, dass nach Deutschland Geflüchtete ehrenamtliche Projekte vorstellen. Es gab ein Projekt von einem jungen Mann aus Syrien, das mich tief beeindruckt hat. Der Mann saß in Gefängnissen des IS in Libyen und dachte, dass er stirbt. Dann kam er nach Deutschland und sagte anlässlich der Projektvorstellung den Satz „Deutschland hat mich gerettet, ich habe Deutschland alles zu verdanken“. Er ging durch Berlin und sah Obdachlose und war fassungslos. So hat er angefangen, freitags immer einzukaufen und einen großen Topf Suppe zu kochen, und hat ihn am Alexanderplatz an die Obdachlosen und Wandernden verteilt.
Sie sind in dieser Stadt und weltweit tätig als Schauspielerin, Musikerin und Autorin, setzen sich als Aktivistin für Menschenrechte ein. Welche dieser Rollen füllt Sie im Moment am meisten aus?
Als Allererstes bin ich Bürgerin dieses Landes, das gerade einen Shutdown verhängt hat und eine Menge Bürgerrechte über Bord geworfen hat. Ansonsten würde ich mich als freiberufliche Künstlerin bezeichnen, der inzwischen bewusst ist, dass es sinnvoll ist, als öffentliche Person, die man auch unfreiwillig werden kann, eine Haltung zu haben, für die man einsteht und die man multipliziert, um andere Menschen im besten Fall zu inspirieren.
Es kam kürzlich Ihr erstes Buch heraus: „Jeder hat. Niemand darf.“ Darin berichten Sie über humanitäre Arbeit in zehn Ländern. Wie kommt es, dass Sie seit knapp 20 Jahren Projekte in aller Welt besuchen?
Ich bin gefragt worden, ob ich für Unicef ein Projekt vorstellen würde zusammen mit Molly Melching, der Initiatorin der lokalen afrikanischen Nichtregierungsorganisation „Tostan“. Es ging um Mädchenbeschneidung. Ich sagte: „Ich mache das natürlich. Aber ich weiß zu wenig darüber und auch über die Arbeit dieser NGO.“ Zwei Jahre später bin ich in den Senegal gereist, um vor Ort die Arbeit von Tostan anzusehen. Ich glaube, die Frage ist nicht, was die Initialzündung war, sondern: Lässt man wieder los oder nicht?
Ihr Buch richtet den Blick eher auf Menschen und Projekte, die helfen wollen.
Ich wollte weder die Empörungskultur befeuern noch die Betroffenheitskultur. Ich finde, man kann Anteil nehmen, solange man nicht die Augenhöhe verliert. Mit dem Buch habe ich versucht, die Menschen mitzunehmen an Orte, wo sich kein Tourist mehr hinverliert, und sie durch meine Augen schauen zu lassen.
2017 haben Sie eine Projektreise in den Libanon angestoßen, das Land mit der höchsten Anzahl an Flüchtlingen gemessen an der Einwohnerzahl.
Ich wollte wissen, wie in dem kleinen Land mit so viel Geflohenen umgegangen wird, wie das organisiert und bewältigt wird. Der zweite Grund war, dass mein Vater fünf Jahre im Libanon gelebt hat. Als 1975 der Bürgerkrieg ausbrach, musste er das Land verlassen. Dann saß er noch einige Jahre auf gepackten Koffern in der Hoffnung, dass er wieder zurückkehren könnte, aber das ist leider nie geschehen.
Was haben Sie im Libanon gelernt?
Im Libanon gibt es 5000 Informal Tent Settlements (ITS), informelle Zeltstädte. Die Idee der ITS ist, dass die Regierung große Geflüchtetenlager mit richtiger Infrastruktur vermeiden wollte, und sicherzustellen, dass die Menschen, wenn der Krieg zu Ende ist, wieder in ihr Land zurückkehren. Dabei habe ich gelernt, dass kein Mensch präzise weiß, wie viele Geflüchtete im Libanon leben.
Wenn Sie auf Ihre Reisen zurückblicken, was nehmen Sie mit?
Alle Projekte beziehen sich auf die Menschenrechte, und das ist ein kleines, schmales Büchlein von 30 Artikeln. Da steht alles drin, und zwar geltend für alle Menschen in allen Gesellschaften. Und wenn wir uns darauf einigen können, dann wäre echt viel gewonnen.
Das Buch „Jeder hat. Niemand darf.“ ist bei S. Fischer erschienen, 400 Seiten, 24 Euro.