Flüchtlinge auf Lesbos: „Wenn der Virus hier ins Camp kommt, wird das die Hölle“
Der Europaabgeordnete Erik Marquardt mahnt, die Menschen auf Lesbos zu schützen – und warnt, dass ein Kontrollverlust auch die Rechtspopulisten stärken könnte.
Herr Marquardt, Sie sind nun bereits seit vier Wochen auf Lesbos. Macht sich die Corona-Krise auch vor Ort bemerkbar?
Es ist eine skurrile Situation zurzeit. Natürlich machen sich auch hier die Leute Sorgen, ich selber eingeschlossen. Wir alle haben Angst um unsere Großeltern, schränken unsere Kontakte ein und verhalten uns so, wie von der Regierung angeordnet. Das ist aber immer noch eine vergleichsweise komfortable Lage, wenn man das mit der Situation der Geflüchteten auf Moria vergleicht. Die griechische Regierung hat die Maßnahmen für die 20.000 Menschen hier weiter heruntergefahren.
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Wie ist denn die Lage im Camp zurzeit? Sind noch mehr Menschen dazugekommen?
Nein, das nicht mehr. Aber die Infrastruktur ist inzwischen völlig zusammengebrochen. Was wir hier erleben, ist eine selbst herbeigeführte humanitäre Katastrophe. Am Wochenende gab es für 24 Stunden kein Wasser mehr. Das ist schon grotesk: einerseits fordert Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Menschen in Europa zum täglichen Händewaschen auf, während gleichzeitig die Geflüchteten ihrem Schicksal überlassen werden. Ohne die vielen Freiwilligen hier würde nichts mehr funktionieren.
Gab es denn Maßnahmen, um die Geflüchteten vor einer Infektion mit Corona zu schützen?
Die Hilfsorganisationen versuchen die Menschen zu informieren und auf die Katastrophe vorzubereiten, aber sie werden die Ausbreitung nicht verhindern können. Wenn das Corona-Virus sich im Camp ausbreitet, dann wird das hier die Hölle. Wir müssen uns als europäische Staatengemeinschaft dringend einen Plan überlegen, wie wir die Menschen vor Ort schützen oder ihnen mindestens den Zugang zur medizinischen Versorgung gewähren.
Dass wir uns nicht einmal einig werden können, wie wir die 1.600 Kinder aus diesem Camp rausholen, nicht mal überlegen, sie hier auf Lesbos im Hotel unterzubringen – das macht mich fassungslos. Und dabei geht es ja nur um die Kinder. Die übrigen Menschen werden vollkommen vergessen. Wenn wir das nicht mehr hinkriegen, dann sind wir offensichtlich nicht mehr in der Lage, europäische Werte zu verteidigen.
„In einer Krise geht es nicht um die nächsten Wahlergebnisse“
Glauben Sie, dass die Zurückhaltung in dieser Frage darauf zurückzuführen ist, dass die Regierungsparteien Angst haben, weitere Wähler Richtung AfD zu verlieren?
Wenn konservative Politiker davon reden, dass sich 2015 nicht wiederholen darf, dann hat man auch noch nicht verstanden, woher der Rechtsruck in den letzten Jahren gekommen ist. Die Menschen haben sich deshalb von demokratischen Parteien abgewendet, weil sie sich nicht mehr ernst genommen fühlen und ihnen nicht vertrauen, Probleme anständig zu lösen. In einer Krise geht es nicht um die nächsten Wahlergebnisse, sondern um Krisenbewältigung.
2015 und 2016 wurde Asylpolitik schlecht organisiert, das haben die Wähler als Kontrollverlust wahrgenommen. Wenn jetzt das Gefühl entsteht, Europa ist schon überfordert, wenn 10.000 Menschen an der Grenze stehen, weiß ich nicht, wohin das noch führen soll. Das Konzept, unsere Außengrenzen gefährlicher zu machen als Bürgerkriegsgebiete, ist jedenfalls unwürdig.
Es war Erdogans Entscheidung, die Grenzen zu öffnen.
Das stimmt, das sollte man auch kritisieren. Aber gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass die Türkei bereits 3,5 Millionen Geflüchtete aufgenommen hat. Wir wollen, dass Erdogan 1.000.000 Menschen aus Idlib anständig aufnimmt. Und wir Europäer schaffen chaotische Verhältnisse, wenn ein paar Tausend an der Grenze stehen? Wenn wir diesen Kontrollverlust zulassen, bekommen die Rechtspopulisten noch mehr Zulauf.
„Dem Virus ist Ethnie, Hautfarbe und Religion egal"
Sie haben gemeinsam mit vielen anderen Prominenten wie Lars Eidinger, Carola Rackete und Joko Winterscheidt die Initiative „Leave no one behind“ ins Leben gerufen. Was ist das Ziel ihrer Aktion?
Dem Virus ist die Hautfarbe, Ethnie oder Religionszugehörigkeit vollkommen egal. Die Menschen hier im Lager sind dem Virus schutzlos ausgeliefert, doch zurzeit denken die meisten an sich selbst. Sebastian Kurz in Österreich oder auch Markus Söder in Bayern verhalten sich in der Debatte wie Schiedsrichter am Spielfeldrand, was wir aber eigentlich brauchen, wären Spielmacher. Wir können diese Krise nur dadurch überwinden, wenn wir gemeinsam handeln.
Wir müssen von unseren Regierungen einfordern, diese Krise demokratisch zu lösen. Das heißt aber auch, dass wir den Schwächsten in der Gesellschaft solidarisch beiseite stehen und ihnen die gleichen Menschenrechte gewähren, die wir uns selber auch zugestehen. Dafür wollen wir gemeinsam einstehen. In Moria lassen wir jeden Tag zu, dass sämtliche Schutzmaßnahmen, die wir für die europäischen Länder festgelegt haben, nicht eingehalten werden können.
Es gab viele Berichte über militante Rechtsradikale, die Jagd auf Flüchtlinge, aber auch Journalisten und NGO-Mitarbeiter machen. Sind Sie denn selber einigermaßen sicher auf der Insel?
Es sind weiterhin Neonazis auf der Insel, aber glücklicherweise sind die Reisemöglichkeiten zurzeit stark eingeschränkt. Das wär's ja jetzt, wenn europäische Neonazis den Virus auf die Insel bringen. Ein Problem ist auch die lokale Polizei, die die Vorfälle weitestgehend ignoriert und die Nazis machen lässt. NGO-Mitarbeiter werden angegriffen, obwohl diese aktuell dafür sorgen, dass überhaupt noch Leute hier sind, also einkaufen gehen oder sich ein Zimmer mieten.
Ich erlebe weiterhin viel Solidarität und Hilfsbereitschaft von weiten Teilen der Bevölkerung, aber selbstverständlich sind auch hier die Kraftreserven erschöpft. Wenn sich Politik nicht beweist und die Lebensrealität von Menschen aktiv verbessert, dann werden wieder Fragen nach alternativen zum demokratischen System aufkommen.
Erik Marquardt ist seit 2019 Abgeordneter der Grünen im Europäischen Parlament. Davor arbeitete er als Fotograf und war in Afghanistan, auf der Balkanroute und bei Seenotrettungsaktionen auf dem Mittelmeer unterwegs.