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Empörung ist menschlich und Politiker sind Menschen, aber muss es immer gleich so viel sein? Im Uhrzeigersinn: SPD-Landeschef Jan Stöß, Grünen-Fraktionsvorsitzende Ramona Pop, Innensenator Frank Henkel, MdB Stefan Liebich und AfD-Europaabgeordnete Beatrix von Storch
© Fotos (5): dpa / Collage: Tagesspiegel

Rigaer, Raser, Rechte: Schluss mit Hysterie: Es ist schon schlimm genug!

Politiker sollen Probleme benennen, in den Griff kriegen – und nicht schnappatmend Panik verbreiten. In Berlin misslingt das zurzeit. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sidney Gennies

Der Berliner übertreibt gern mal, das geht schon in Ordnung. Normalerweise. Doch wenn auch jene Menschen, die diese Stadt regieren wollen, jedes Gefühl für Verhältnismäßigkeit verlieren, wird es gefährlich. Es gibt genug Probleme, und Politiker von der Linken bis zur CDU haben die Pflicht, sie zu benennen und in den Griff zu bekommen. Von besonnener Analyse kann aber in den vergangenen Monaten keine Rede sein. Eher von Aktionismus und Schnappatmung.

Da ist zum Beispiel Frank Henkel, der als Innensenator offenbar glaubt, von Berufs wegen Panik verbreiten zu müssen. Als im Oktober in der Rigaer Straße Steine auf Polizisten geworfen wurden, sprach Henkel von „Terror“. Im Polizeibericht stand später, vier Beamte seien leicht verletzt worden. Wo von Terror die Rede ist, ist auch ein Anti-Terroreinsatz nicht weit: Als im Januar in der Rigaer wieder ein Polizist verletzt wird, befiehlt Henkel den Einmarsch in vier Wände, SEK und 500 Polizisten stürmen das besetzte Haus. Zum Vergleich: Bei der IS-Terrorrazzia am Donnerstag waren 450 Beamte im Einsatz.

Die Grünen scheinen sich unterhalb einer Rücktrittsforderung gar nicht mehr zu Wort zu melden. Als am Lageso angeblich ein syrischer Flüchtling gestorben sein sollte, sagte die Fraktionsvorsitzende Ramona Pop, Sozialsenator Mario Czaja (CDU) sei „verantwortlich“. Später stellte sich heraus: Das Ganze war frei erfunden. Doch selbst wenn es den Toten gegeben hätte, hätte Pop vor der Obduktion nicht wissen können, ob die Lage am Lageso ursächlich war – oder der Mann etwa wegen eines Krebsleidens auch an jedem anderen Ort der Welt gestorben wäre.

Verrückt wurde es, als die Berliner AfD-Landesvorsitzende Beatrix von Storch am Wochenende ihrer Parteivorsitzenden Petry sekundierte und bejahte, der Polizei müsse es erlaubt sein, als Ultima Ratio an der Grenze auch auf Frauen und Kinder zu schießen. Das war so brutal zynisch, dass es gut für sich gestanden hätte. Wenn man aber auf die Provokation reagieren will, muss man schon genau sein. Stattdessen faselte die SPD von einem „Schießbefehl“ und verlangte eine Überwachung durch den Verfassungsschutz. Stefan Liebich von der Linken, der seinen Wahlkreis in Pankow hat, fragte: „Was hast du getan, als eine Partei, deren Vorsitzende bereit war, mit Waffen gegen Frauen und Kinder vorzugehen, drittstärkste Kraft wurde?“ Als gälte es einen zweiten Holocaust zu verhindern. Geht’s keine Nummer kleiner?

Anfang der Woche starb ein Rentner, von der Straße gerammt von zwei Rasern. Da twitterte SPD-Chef Jan Stöß: „Wer sich Autorennen in der Innenstadt liefert, nimmt den Tod von Menschen billigend in Kauf. Das ist Totschlag.“ Nicht unbedingt. In jedem Falle ist es fahrlässige Tötung. Totschlag aber hieße Vorsatz. Und ob es den bedingt gab, prüft die Staatsanwaltschaft, kein Parteivorsitzender.

Sich zu empören ist menschlich, und Politiker sind Menschen. Doch warum muss Henkel aus einem feigen Angriff mit Steinen einen Terrorakt machen – und die Polizei zum Gespött, weil sie am Ende nur Feuerlöscher in dem Haus sicherstellt? Es wäre stattdessen der Moment gewesen, für Wertschätzung von Polizisten zu werben, die jeden Tag auch ohne Häuserstürmungen Risiken eingehen.

Oder Pop, die zu hoffen scheint, dass etwas so Schlimmes passiert, dass Czaja zurücktritt. Es glaubt doch niemand, dass plötzlich alles gut wird, wenn der Senator wechselt. Notwendige Reformen geraten so in den Hintergrund.
Die Forderung der AfD hätte der Partei richtig schaden können, doch die Überhöhung zum „Schießbefehl“ hat nur wieder die Aluhut-Träger darin bestärkt, dass „Altparteien“ und „Lügenpresse“ alles verdrehen.

Auch der Tod des Rentners hätte es verdient, eine sachliche Debatte darüber auszulösen, wie der Straßenverkehr sicherer werden kann, statt das Problem auf junge Raser zu verengen und Tötungsabsicht zu unterstellen, wo vielleicht keine existierte.

Man möchte die Politiker in einem ruhigen Moment an die Hand nehmen und sagen: Redet nicht alles schlimmer als es ist, es ist schon schlimm genug.

Dieser Text erschien zuerst als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage "Mehr Berlin"

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