Geplanter Anschlag des IS in Berlin: Hauptstadt im Fadenkreuz
Ein in Berlin geplanter Anschlag des IS ist vereitelt worden. Was hatten die Täter vor? Warum sind sie gescheitert? Fragen und Antworten zum Thema.
- Frank Jansen
- Timo Kather
- Ronja Ringelstein
- Sandra Dassler
- Sidney Gennies
- Johannes Laubmeier
Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz ist es offenbar gelungen, in Berlin einen Anschlag mutmaßlicher Anhänger des „Islamischen Staates“ (IS) zu verhindern. 450 Beamte waren am Donnerstag in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen an Durchsuchungen beteiligt.
Wo in Berlin war ein Anschlag geplant?
Die von der Polizei festgenommenen mutmaßlichen Islamisten hatten nach Informationen des Tagesspiegels einen Anschlag auf das Areal des früheren Checkpoint Charlie in Berlin geplant. „Es sollte mit dem Checkpoint Charlie ein Tourismusziel getroffen werden“, hieß es in Sicherheitskreisen. Den Anschlag hätten führende Mitglieder der Terrormiliz IS in Syrien in Auftrag gegeben. Der Checkpoint Charlie wurde als einziges potenzielles Anschlagsziel genannt, sagten übereinstimmend mehrere Sicherheitsexperten. Wann dort zugeschlagen werden sollte, blieb offen. Die Behörden wissen bislang auch nicht, ob sich Mitglieder der Gruppierung als Selbstmordattentäter in die Luft sprengen wollten. Aufschluss über die mutmaßlichen Pläne der vier Männer und der Frau erhoffen sich Polizei und Verfassungsschutz von den Vernehmungen und dem Material, das bei den Durchsuchungen mitgenommen wurde.
Warum schlug die Polizei am Donnerstag zu?
Die Polizei habe deshalb am Donnerstag „den Zugriff gemacht“, weil die mutmaßlich fünf Mitglieder der Terrorzelle seit einigen Tagen nicht mehr über ihre Pläne geredet hätten. Die Kommunikation wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz und der Polizei überwacht. „Als die nicht mehr über den Anschlag sprachen, war zu befürchten, dass sie ihre Planungen abgeschlossen hatten“, sagten Sicherheitskreise. Denkbar sei allerdings auch, dass die Zelle ihr Vorhaben aufgegeben habe. Genauere Erkenntnisse müssten nun die Verhöre der Festgenommenen und das bei den Durchsuchungen sichergestellte Material ergeben, hieß es.
Was ereignete sich bei den Berliner Razzien?
Die Berliner Polizei führte Durchsuchungen am S-Bahnhof Alexanderplatz, am Checkpoint Charlie und in der Kreuzberger Waldemarstraße durch. Wie Polizeisprecher Stefan Redlich bestätigte, hat einer der Verdächtigen am Alexanderplatz in einem Backshop gearbeitet. Dabei handelt es sich offenbar um einen Algerier, der seine Stelle dort erst vor wenigen Wochen angetreten haben soll. Augenzeugen berichten, die Polizei sei am frühen Morgen mit mehreren Mannschaftswagen angerückt. Bei der Durchsuchung wurden einige Gegenstände sichergestellt, die nun ausgewertet würden, sagte Polizeisprecher Redlich. Was beschlagnahmt wurde, oder woher die Polizei den Tipp bekam, sagte er nicht. Die Polizei geht bisher davon aus, dass der Verdächtige sich schon seit längerer Zeit in Berlin aufgehalten hatte, kein Flüchtling war und sich auch nicht als einer ausgegeben hatte. Gerüchte, der Alexanderplatz selbst sei ein mögliches Anschlagsziel gewesen, hat die Polizei nicht bestätigt.
Am Nachmittag waren rund um den Alexanderplatz Polizisten unterwegs, jedoch nur unwesentlich mehr als normalerweise. Die meisten Passanten hatten von der Terrorrazzia nichts mitbekommen. Unter den Angestellten in den Shops des Bahnhofes war der womöglich vereitelte Anschlag aber Gesprächsthema. „Natürlich haben wir sofort rumgefragt, in welchem Backshop der Mann wohl gearbeitet hat“, erzählt eine Verkäuferin. Auch einige Kunden hätten sich bei ihr erkundigt. „Aber man erfährt ja nichts“, sagt die Frau. Selbst der Sicherheitsdienst der Deutschen Bahn habe keine Auskunft geben können oder wollen.
Der Backshop, in dem der Verdächtige gearbeitet haben soll, befindet sich zwischen den Gleisen der Hochbahn. Von dem nach allen vier Seiten verglasten Verkaufsstand lässt sich gut das gesamte obere Stockwerk des Bahnhofs überblicken. Der Betrieb dort lief am Donnerstag ganz normal weiter. Der Betreiber bestätigte dem Tagesspiegel, dass einer seiner Mitarbeiter von der Polizei vernommen worden sei. Demnach hatten sie am Nachmittag, als der Mitarbeiter längst auf der Wache war, telefonisch noch einmal Kontakt.
Was weiß die Polizei über die Verdächtigen?
Die mutmaßliche Gruppe setzt sich zusammen aus vier Männern und einer Frau, alle sind in Algerien geboren. Der in Berlin festgenommene Mann ist 49 Jahre alt und lebte mit einer falschen, französischen Identität in Kreuzberg. Die Polizei nahm ihn am Donnerstagvormittag in der Waldemarstraße fest. Gegen den Mann wird wegen des Verdachts der Urkundenfälschung ermittelt.
Der zweite Verdächtige aus Berlin ist 31 Jahre alt. Er wurde nicht festgenommen, wird aber der Gruppe zugerechnet.
Im sauerländischen Attendorn nahm die Polizei ein Ehepaar fest, das Ende 2015 mit dem Flüchtlingsstrom nach Deutschland gekommen sein soll. Der Mann, 35 Jahre alt, und die 27-jährige Frau wurden offenbar in Berlin als Asylbewerber registriert. Das Paar hatte sich als Syrer ausgegeben. Die Frau behauptete, aus Aleppo zu stammen. Die beiden wurden einer Flüchtlingsunterkunft in Attendorn zugewiesen.
Die algerischen Behörden hatten Haftbefehle gegen den Mann und die Frau übermittelt, wegen Zugehörigkeit zum IS. Der Mann soll zudem mit einem hochrangigen Funktionär des IS in Kontakt gestanden haben. Dieser IS-Kader gilt als einer der Hintermänner der Anschläge vom November in Paris. Das Paar wurde auf Grundlage der algerischen Haftbefehle von der Berliner Polizei festgenommen. Bei der fünften Person handelt es sich um einen 26 Jahre alten Flüchtling, der sich in einer Unterkunft in der Region Hannover aufhält. Es gebe Fotos, auf denen der Mann bewaffnet im syrischen Kampfgebiet zu sehen ist, heißt es in Sicherheitskreisen. Außerdem soll er sich kürzlich in dem Brüsseler Stadtteil Molenbeek aufgehalten haben. Von hier kamen drei der Attentäter, die im November in Paris zuschlugen.
Woher kamen die Hinweise auf die Verdächtigen?
Den offenbar entscheidenden Tipp bekam das Bundesamt für Verfassungsschutz von einem ausländischen Nachrichtendienst. Um die Zusammenarbeit mit ihm nicht zu gefährden, nennen Sicherheitsexperten den Dienst nicht weiter. Nach dem Hinweis des ausländischen Nachrichtendienstes nahmen das Bundesamt für Verfassungsschutz und weitere Verfassungsschutzbehörden die Beobachtung der Verdächtigen auf. Es sei festgestellt worden, „dass sich eine Zelle gebildet hat, die konspirativ agiert“, heißt es in Sicherheitskreisen. Der Hinweis auf den Checkpoint Charlie als mögliches Anschlagsziel kam offenbar schon früh. Der täglich von unzähligen Touristen besuchte ehemalige Grenzübergang zur DDR passe zur Strategie des IS, hoch frequentierte, weiche Ziele anzugreifen, heißt es in Sicherheitskreisen. Andere potenzielle Anschlagsziele in Deutschland seien nicht genannt worden.
Wie gefährlich ist die Sicherheitslage derzeit in Berlin? Wie gefährlich in ganz Deutschland?
Der Sprecher der Berliner Polizei, Stefan Redlich, sagte in einer Online-Pressekonferenz, dass es weder für die anstehende Berlinale, noch für Fußballspiele oder andere Veranstaltungen absolute Sicherheit geben könne. „Aber wir haben einen sehr hohen Sicherheitsstandard in Berlin“, sagte Redlich. Es würde jedem Hinweis nachgegangen werden.
Deutschland ist im Fadenkreuz des IS. Die Sicherheitsbehörden halten einen Anschlag in der Bundesrepublik für nahezu unausweichlich. Es sei zu befürchten, dass der IS sogenannte Hit-Teams schicke, die ähnlich wie im November in Paris „weiche“ Ziele angreifen, womöglich mehrere gleichzeitig. Die Terrormiliz zählt Deutschland zu den „Kreuzfahrerstaaten“, in der Bekennung zum Terrorangriff vom November wurde die Bundesrepublik explizit genannt. Die Hilfe der Bundeswehr bei der Ausrüstung und dem Training kurdischer Kämpfer, die sich dem IS entgegenstellen, hat den Hass der Terrormiliz noch gesteigert. Außerdem hetzt der Berliner Dschihadist Denis Cuspert, einst bekannt geworden als Rapper „Deso Dogg“, gegen Deutschland und ruft zu Anschlägen auf.
Wie viele potenzielle islamistische Terroristen gibt es in Deutschland?
Große Sorgen bereiten den Behörden vor allem die mehr als 440 islamistischen „Gefährder“. Ihnen werden militante Aktionen zugetraut. Mit Stand vom Dezember 2015 hielten sich laut Bundeskriminalamt 212 davon in Deutschland auf. Die meisten anderen werden in der syrisch-irakischen Konfliktregion vermutet. Das BKA spricht außerdem von 318 „relevanten Personen“, also möglichen Unterstützern terroristischer Aktivitäten. Von den 318 befanden sich im Dezember 242 in der Bundesrepublik.
Wie können unter Flüchtlingen Terroristen ausgemacht werden?
Vertreter der Bundespolizei und der Innenbehörden hatten unlängst dem Tagesspiegel gegenüber zugegeben, dass es bei Kontrollen der Flüchtlinge schwierig ist zu erkennen, ob ein vorgelegter angeblich syrischer Pass auch tatsächlich echt ist. Früher habe die syrische Regierung ihre Pässe in Frankreich drucken lassen, aus dieser Zeit verfüge man über Belege. In Syrien gebe es aber seit vielen Jahren keine funktionierende Bürokratie mehr. Oft wüssten die Grenzbehörden in Griechenland nicht einmal, wie ein syrischer Pass heute aussieht. Problematisch sei auch, dass vor allem Nordafrikaner mit gefälschten syrischen Pässen die Einreise versuchten. Bei der Befragung durch Sprachmittler stelle sich dann oft heraus, dass die asylsuchenden angeblichen Syrer nicht einmal wüssten, wo Aleppo liegt. Zudem passierten bei der Registrierung immer wieder Fehler wegen verschiedener Schreibweisen arabischer Namen.
Was sagt der Senat zu den Razzien?
Innensenator Frank Henkel (CDU) erklärte zu den heutigen Durchsuchungen in einer schriftlichen Mitteilung, dass die Bedrohungslage durch militante Islamisten hoch bleibe. „Wir haben weiterhin allen Grund, wachsam und vorsichtig zu sein. Deshalb ist ein konsequentes Vorgehen gegen die Islamistenszene geboten. Vor allem, wenn es um mögliche IS-Bezüge geht. Die Aktivitäten der Szene werden von uns sehr intensiv und behördenübergreifend begleitet. Bevor wir weitere Schlüsse ziehen können, müssen wir die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und die Auswertung der sichergestellten Objekte abwarten.“
Welche juristische Handhabe gibt es bei vereitelten Anschlägen?
Das Vorbereiten einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat ist eine Straftat nach Paragraf 89 a Strafgesetzbuch. Eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren droht als Strafe, wenn nachgewiesen werden kann, dass eine „schwere staatsgefährdende Gewalttat“ geplant war. So eine Tat kann etwa Mord, Totschlag, Geiselnahme oder erpresserischer Menschenraub sein, wenn die Tat „geeignet ist, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben.“ Dabei müsste auch die Herstellung von Sprengstoff oder der Umgang mit Schusswaffen eine Rolle gespielt haben.
Wie beunruhigt sind Anwohner?
Ein letzter Fetzen vom rot-weißen Polizei-Absperrband flattert vor dem Bürgersteig in der Kreuzberger Waldemarstraße. Hier, in einem Innenhof nur wenige Meter vom Mariannenplatz entfernt, soll die Polizei im Morgengrauen einen verdächtigen 49-Jährigen festgenommen haben. Fotos zeigen einen Mann, der eine Babydecke über dem Kopf hat. Die Bewohner schütteln nur mit den Köpfen. „Ich weiß von nichts“, sagt eine Frau, die mit einem Kinderwagen das Haus verlässt, in dem der Tatverdächtige wohnt. Eine andere Frau hat lediglich den Polizeieinsatz am frühen Morgen mitbekommen – auch, dass die Polizei zwei Männer vernommen hat.
„Ich habe von dem angeblich geplanten Anschlag im Radio gehört“, erzählt ein älterer Herr, der Müll rausbringt. „Aber dass das was mit uns hier zu tun hat? Möglich ist alles, wir kennen ja viele unserer Nachbarn gar nicht. Haben sie den Mann festgenommen?“
„Der ist doch schon wieder entlassen worden“, gibt ein halbwüchsiger Junge ein falsches Gerücht wieder, was hier die Runde macht. Auf den Türschildern stehen viele türkische und arabische Namen. „Hier wohnen fast nur noch Ausländer“, sagt die nette hübsche Wirtin in der gemütlichen Eckkneipe am Mariannenplatz. Sie ist selbst Türkin, betreibt die Raucher-Gaststätte schon seit Jahren. Als sie an diesem Donnerstag gegen zehn Uhr geöffnet hat, war von der Polizei nichts mehr zu sehen, sagt sie: „Aber gestern Abend, als ich kurz vor Mitternacht geschlossen habe, sind mir jede Menge Polizeiautos aufgefallen. Vielleicht hatte das ja schon mit der Razzia zu tun.“
Ihre Gäste schauen nur kurz vom Spielautomaten oder ihrem Bierglas auf. „Terroristen? Na, die sind ja inzwischen überall“, sagt ein Kettenraucher am Tresen. „Aber bei uns hier geht es eigentlich immer friedlich zu.“ Aus den Lautsprechern singt Andrea Berg „Die Gefühle haben Schweigepflicht“.
Wie reagierten die Menschen am Checkpoint Charlie?
„Ein Anschlag hier? Kann ich mir nicht so richtig vorstellen, aber sicher ist man ja heutzutage nirgends mehr“, sagt Harkan N., der am Checkpoint Charlie Fellmützen, Matrjoschkas, NVA-Uniformen und Gasmasken verkauft. Vor dreißig Jahren ist der 52-Jährige mit seiner Frau nach Berlin gekommen, eines seiner beiden Kinder ist hier geboren, er fühlt sich hier zu Hause. „Ich habe einen muslimischen Hintergrund“, sagt er: „Aber ich lehne jegliche religiös begründete Gewalt ab. Mal ehrlich – jemand, der sich und andere in die Luft sprengt, der ist doch nicht normal. Normale Menschen tun so etwas nicht.“
Harkan N. steht seit 15 Jahren am Checkpoint Charlie und Angst hat er keine. „Es könnte mir doch überall passieren“, sagt er: „Denken Sie nur an die armen deutschen Touristen, die gerade in Istanbul getötet wurden.“
Auch der Chef im sizilianischen Spezialitätenrestaurant Sotto Sopra findet, dass Angst keinen Sinn macht. „Vor Terror ist man inzwischen leider in ganz Europa nicht sicher“, sagt er: „Wir mussten erst vor ein paar Tagen auf Weisung der Polizei den Laden schließen, weil irgendwo ein herrenloser Koffer stand. Na ja, Hauptsache, es passiert nicht wirklich etwas.“