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Das Podium des Vietnamkongresses am 17. Februar 1968 im Audimax der Technischen Universität Berlin.
© Volkmar Hoffmann/dpa

50 Jahre Vietnamkongress in Berlin: Die Studenten und ihr Traum von der Weltrevolution

"Jeder sah, wie viele wir geworden waren" – für viele Studenten ist der Vietnamkongress im Februar 1968 der Höhepunkt. Dabei markiert er bereits den Anfang vom Ende. Eine Spurensuche.

So ist das in Hochschulen, oft liegen nur ein paar Meter zwischen Welten: „Tierknochen“ steht auf der Schachtel. Das hier ist das Magazin der „Prähistorischen Archäologie“ der Freien Universität Berlin, gleich gegenüber aber, ebenfalls hinter einer Stahltür, lagert das Archiv der Apo, der Außerparlamentarischen Opposition. Es führt zurück in ein Jahr, das einer Generation seinen Stempel aufgedrückt hat: 1968.

Das Jahr ist Chiffre geworden für eine Art Zeitenwende. Doch während etwa die Bedeutung der neolithischen Revolution, als der Mensch lernte, Tierknochen mit Steinen zu bearbeiten, unter Prähistorikern kaum zum Zwist taugt, wird bis heute über 1968 durchaus gestritten.

War es eine linke Minderheit, die sich anschickte, das Wertesystem der bürgerlichen Mitte zu zertrümmern, wie zuletzt CSU-Politiker Alexander Dobrindt schrieb? Oder ein Aufbruch, der Demokratie ein wenig selbstverständlicher machte, den Deutschen den Kinderladen bescherte und die Frauenbewegung, wie Siegward Lönnendonker sagt?

Lönnendonker, graumeliert, mit Schnauzer und von seinen 78 Jahren kaum gebeugt, ist damals Student der Soziologie an der FU.

"Für den Sieg der vietnamesischen Revolution" verkündet ein Banner

1968 wird er Zeuge eines der prägenden Ereignisse jenes symbolträchtigen Jahres: Am 17. und 18. Februar findet im Audimax der Technischen Universität der Internationale Vietnamkongress statt. Warum nicht hier in Dahlem? Die FU-Leitung hatte das verweigert, „vielleicht waren die Charlottenburger Kommilitonen auch die besseren Organisatoren“, sagt Lönnendonker. Tausende Teilnehmer aus 44 Ländern kommen zum Diskutieren oder nur zum Zuhören. Ein Motto gibt es auch: „Für den Sieg der vietnamesischen Revolution“ heißt es unübersehbar auf einem Banner über dem Podium. Und weiter: „Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen.“

Vordergründig geht es also um Vietnam, darum, aller Welt zu beweisen, wie ungerecht der Krieg der amerikanischen Supermacht gegen ein aufmüpfiges Land in Fernost ist. Dahinter steht viel mehr. „In diesen Februartagen hatten wir das erste Mal das Gefühl, nicht einfach eine kleine radikale Minderheit zu sein“, erinnert sich Lönnendonker. Es ist der Höhepunkt einer Bewegung, die sich nur wenig später, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April, anfängt zu zerlegen.

"Es ist Unsinn, alles auf 1968 zu reduzieren"

Lönnendonker hat den Schlüssel zum Apo-Archiv der Freien Universität. Es ist auch seine Geschichte, die dort in langen Reihen voller Leitzordner abgeheftet ist – genau 4286 Stück, abgestellt auf 1300 Regalmetern aus grauem Stahlblech. Er ist es, der schon 1963 anfängt zu sammeln, als kaum einer ahnt, dass nach Jahrzehnten noch interessieren könnte, was die Studenten bewegt.

Abschlusskundgebung. Nach dem Vietnamkongress zogen 15.000 Studenten durch West-Berlin.
Abschlusskundgebung. Nach dem Vietnamkongress zogen 15.000 Studenten durch West-Berlin.
© to: p-a/Klaus Rose

"Es ist Unsinn, alles auf 1968 zu reduzieren“, sagt er. „Denken Sie an 1967“, am 2. Juni fallen an der Deutschen Oper die tödlichen Schüsse auf Benno Ohnesorg, der gegen den Besuch des Schahs von Persien protestiert. „In dieser Nacht ging die Polizei auf uns los, wenn mehr als drei beisammenstanden.“ Das ist für viele der Beginn der Revolte.

Oder schon der Februar 1966, als nach einer Demonstration gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam Eier fliegen, an die Fassade des Amerikahauses in der Hardenbergstraße. Aber höchstens 1500 sind gekommen. Und denen schlägt die Wut der Passanten entgegen, die sich um das Verhältnis zur Schutzmacht sorgen.

Die Amerikaner hatten dem Westen der Stadt durch die sowjetische Blockade geholfen. Ihr Militär garantiert den Status quo. Darf man die mit Eiern bewerfen? „Wer gegen die Amerikaner war, von dem nahm man automatisch an, er sei für die Russen“, sagt der Archivar. So eine Veranstaltung ausgerechnet in Berlin abzuhalten, wo der Unwillen der ansässigen Bevölkerung über demonstrierende Studenten selbst bei geringen Anlässen in Hass umschlagen konnte „und wir schon Prügel kriegten, wenn Hertha BSC verlor“, ist Teil der gewollten Provokation.

Zum Abschluss des Vietnamkongresses gehen dann im Februar 1968 mindestens 15.000 Menschen auf die Straße, „und jeder sah, wie viele wir geworden waren“.

Der Archivar

Siegward Lönnendonker, 78, leitet das Apo-Archiv an der Freuen Universität Berlin.
Siegward Lönnendonker, 78, leitet das Apo-Archiv an der Freuen Universität Berlin.
© Mike Wolff

Lönnendonker trägt eine wattierte Weste, es ist kühl im Archiv, muss es wohl sein, um das Papier zu schonen, das nicht ewig halten wird, wie er fürchtet. Die Studentenbewegung der 60er, das ist die Ära der elektrischen Schreibmaschine. Auf ihr entstehen Hunderte Aufrufe, offene Briefe, Zeitungen, Seite um Seite.

Greift man in eines dieser Regale, hält man zum Beispiel diesen Ordner in der Hand: „KBW, Rechnungen“, aus dem Jahr 1975. KBW steht für den Kommunistischen Bund Westdeutschland, eine maoistische Kleinpartei, die sich erst nach 1968 gründet. Sauber abgeheftet ist die Rechnung über ein Megafon, für das die Genossen in Mannheim einst 126 D-Mark bezahlen. Damals stehen sie sich eher feindselig gegenüber, heute sind hier alle vereint: die Überbleibsel fast vergessener Splittergruppen ebenso wie die Zeitungen des Rings Christlich-Demokratischer Studenten, RCDS. Und einen Gang weiter zeugen Gerichtsprotokolle von einstigen Auseinandersetzungen.

"Wenn es der Wahrheitsfindung dient"

Es sind keine offiziellen Protokolle, ein Ehepaar hat sie Stunde um Stunde in Prozessen mitgeschrieben, wie in dem gegen Fritz Teufel aus der legendären Kommune eins, der wegen ihrer frechen Auftritte und der Schönheit von Uschi Obermaier ein besonderes Medieninteresse gilt. Irgendwo in diesen Ordnern muss Teufels Satz stehen, „wenn es der Wahrheitsfindung dient“. Es ist seine Antwort auf die Aufforderung des Richters, sich aus Respekt zu erheben.

1968 studierte Siegward Lönnendonker an der FU Soziologie.
1968 studierte Siegward Lönnendonker an der FU Soziologie.
© privat

Der Satz wird berühmt. Dabei spiegelt ein anderer, mit dem ein angeklagter Student seinen Richter provoziert, die Empörung jener Zeit noch besser: „Und wie viele Todesurteile haben Sie gefällt?“ Der Satz steht für die feste Überzeugung eines Teils der damals rebellischen Jugend, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Nazizeit ungenügend geblieben war. Symptomatisch erschien ihr der Fall des Richters Hans-Joachim Rehse, gegen den 1968 am Berliner Landgericht wegen von ihm am nationalsozialistischen Volksgerichtshof verhängter Todesurteile verhandelt wird. Die Richter sprechen Rehse frei.

1963, in dem Jahr, in dem Lönnendonker zu sammeln anfängt, beginnt der Auschwitzprozess. Zum ersten Mal wird im großen Stil die Monströsität der Naziverbrechen vor der Öffentlichkeit ausgebreitet. Für manchen ein Schock. Lönnendonker schließt sich der deutsch-israelischen Studiengruppe an, gegründet von Mitgliedern des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes.

Die Stadt ist trist – und bietet neue Freiheiten

Nach Berlin gekommen ist er schon 1958, gleich nach seinem Abitur. Die Stadt gibt ein tristes Bild ab, mit den immer noch vorhandenen Kriegsruinen. Gleichzeitig entdeckt er neue Freiheiten. Der Junge aus Bielefeld zieht in eine Wohngemeinschaft, in der auch der Vorsitzende der FU-Gruppe des SDS lebt, gründet die Metropolitan Jazzband, spielt Bass im amerikanischen Club. „Eigentlich“, erklärt er, „waren wir Proamerikaner.“ Sein politisches Engagement richtet sich zunächst auf universitäre Themen, genauer gegen die Ordinarienuniversität. „Wer damals Professor war, konnte machen, was er wollte, die eigentliche Arbeit notfalls seinen Assistenten überlassen“, ereifert er sich noch heute.

Der spätere Bürgermeister

Eberhard Diepgen (Mitte) im Februar 1968 bei einer Demonstration vor dem Rathaus Schöneberg.
Eberhard Diepgen (Mitte) im Februar 1968 bei einer Demonstration vor dem Rathaus Schöneberg.
© Ullstein

Eberhard Diepgen, Jahrgang 1941 und später Regierender Bürgermeister von Berlin, studiert seinerzeit Jura an der FU. „Wir wollten Veränderung“, sagt auch er und meint seine konservativen Kommilitonen, „es gab in den akademischen Gremien harte Auseinandersetzungen mit beharrenden Kräften der Hochschullehrerschaft“.

Umstritten war aus seiner Sicht „nicht das Ob einer Reform, sondern das Wie“. Krieg und Naziherrschaft lagen erst 20 Jahre zurück. „Das Gespräch mit den Eltern über die unvorstellbaren Verbrechen war selten möglich, meist auf beiden Seiten gehemmt“, sagt Diepgen, auch wenn er das im eigenen Elternhaus nicht so empfunden habe, wegen wirtschaftlicher Sorgen hätten andere Herausforderungen im Vordergrund gestanden. Wahrscheinlich habe er sich deshalb weniger kritisch mit der verbreiteten Mentalität der Verdrängung auseinandergesetzt. Für die bei ihm Verständnis mitklingt: Wenn heute ein Soldat aus Afghanistan zurückkehre, im Kopf Bilder von Tod und Verstümmelung, dann könne er mit psychologischer Betreuung rechnen. „Im Zweiten Weltkrieg kam der Postbote mit der Karte, auf der stand, dein Sohn ist tot. Und bei der Aufarbeitung des Grauens half keiner.“

Diepgen als Asta-Vorsitzender: eine kurze Episode

Diepgen wird 1963 zum Asta-Vorsitzenden gewählt, von einem Bündnis aus Sozialdemokratischem Hochschulbund, Katholischer Studentengemeinde und verschiedenen anderen Gruppen. Er kann sein Amt nur nicht antreten, weil er kurz darauf wieder abgewählt wird. Er ist Mitglied einer Burschenschaft, das stößt jetzt auf Kritik.

Im Apo-Archiv gibt es eine Kiste mit Memorabilien aus jenen Jahren. Unter einem auf Kunstseide gestickten Konterfei von Karl Marx – ein Geschenk der chinesischen Botschaft an den SDS – liegt ein Foto aus dem Film „Mondo di Notte, Welt ohne Scham“ eines italienischen Dokumentaristen. In dem obskuren Streifen aus dem Jahr 1963 geht es etwa um Initiationsriten englischer Sekten. Deutschland ist in diesem Episodenfilm mit seinen schlagenden Verbindungen vertreten, Diepgen soll kurz zu sehen sein. Das Szenenbild vom Paukboden zeigt nur seinen langjährigen Weggefährten: Rüdiger Landowsky – später Generalsekretär und Fraktionsvorsitzender der Berliner CDU. „Mondo di Notte“ läuft damals sogar im Zoo-Palast.

Eberhard Diepgen, 76, war von 1984 bis 1989 und von 1991 bis 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin.
Eberhard Diepgen, 76, war von 1984 bis 1989 und von 1991 bis 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin.
© p-a/dpa/Maurizio Gambarini

Eberhard Diepgen, seit 1962 Mitglied der CDU, ist auch nach der Abwahl weiter hochschulpolitisch aktiv. „Es gab zwei Richtungen“, sagt er. „Jene, die studentische Angelegenheiten von der Mensa bis zu den Wohnheimen selbst organisieren und mitbestimmen wollten“, zu denen zählt er sich. „Und die Revolutionäre, die die Gesellschaft verändern wollten.“

Letztere seien bald in der Mehrheit gewesen, vor allem nach dem 2. Juni 1967, den Schüssen auf Benno Ohnesorg. „Die Selbstverwalter hatten keine Chance mehr, nun stand die Revolution im Vordergrund“, ist seine Erklärung, und er ist davon überzeugt, dass die DDR dabei seit Beginn der 60er Jahre eine bedeutsame Rolle spielt. Man nehme nur die damals im studentischen Milieu sehr einflussreiche Zeitschrift „Konkret“, für die die spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof und auch der spätere „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust schreiben.

Oft schallt den Studenten die Parole "geht doch rüber" entgegen

Tatsächlich erhält „Konkret“ zeitweise Zuwendungen aus der DDR. Später wird noch ganz anderen Protagonisten Nähe zur Stasi nachgewiesen. Dem RCDS-Vorsitzenden Jürgen-Bernd Runge etwa, und Karl-Heinz Kurras, dem Todesschützen im Fall Ohnesorg. Die Öffentlichkeit weiß von solchen Verbindungen damals nichts, mutmaßt sie aber, was die demonstrierenden Studenten angeht. Oft genug schallt denen die Parole „geht doch rüber“ entgegen. Erst recht, als sie sich für das kommunistisch regierte Vietnam engagieren.

Es gibt ein Foto, das den jungen Diepgen im Februar 1968 am Rand einer Kundgebung gegen den Vietnamkongress zeigt, wie er einen Gegendemonstranten wegschubst. Er könne sich nicht erinnern, dass er überhaupt demonstriert hätte, sagt er dazu. Aber natürlich habe er die Amerikaner verteidigt, mit Argumenten, die er heute so nicht wiederholen würde. Im Rückblick sehe er, dass in Vietnam Anspruch und Wirklichkeit der Führungsmacht der westlichen Welt auseinanderklafften.

Der Schriftsteller

F.C. Delius (links) bei einer Demonstration in London.
F.C. Delius (links) bei einer Demonstration in London.
© Ullstein

Friedrich Christian Delius, seinerzeit Student der Germanistik und 25 Jahre alt, ist Augenzeuge des Vietnamkongresses. Später macht er die Auseinandersetzungen jener Jahre zum Thema einiger seiner Bücher, das Jahr 1966 in „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ und 1968 in „Mein Jahr als Mörder“, ein Roman vor dem Hintergrund des Freispruchs für den Nazirichter Rehse.

Sein Studium nimmt Delius im Sommersemester 1963 in Berlin auf. Im Juni sieht er den damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy bei dessen Auftritt vor dem Audimax der FU. „Dort standen der versteinerte Konrad Adenauer, neben ihm der sympathische Willy Brandt und eben Kennedy, vergleichsweise jung, der sagte sinngemäß ‚Leute, macht etwas aus eurer Demokratie‘ “, die Demokratie, die den Deutschen nach dem Krieg von den alliierten Siegern geschenkt worden war.

"Mit dem Vietnamkrieg fingen wir an, über den Tellerrand zu schauen"

„Der Beifall steigerte sich zum revolutionären Taumel, als zwei junge Amerikaner auf dem Podium ihre Einberufungsbescheide verbrannten“, heißt es in einem vergilbten Artikel vom 19. Februar 1968, der in einem der Leitzordner im Apo-Archiv steckt. Tatsächlich ging nicht nur der Vietnamkrieg von den USA aus, sondern auch die Bewegung dagegen. „Mit dem Vietnamkrieg fingen wir an, über den deutschen Tellerrand hinauszuschauen“, sagt Delius.

Hinzu kam noch etwas anderes: Dieser Krieg „widersprach unserem proamerikanischen Idealismus. Dass die USA sich mit einem Diktator verbündeten, der Hitler als sein Vorbild erklärte, war schlimm genug.“ In Delius’ Küche ist es inzwischen dunkel geworden. Bevor er Licht macht, fährt er fort. „Schlimmer war, der Krieg produzierte Tag für Tag ungeheuerliche Bilder, von napalmverbrannten Menschen, totgebombten Zivilisten. Der Protest war im Kern eine sehr menschliche Reaktion auf dieses Elend, diese Massenschlächterei.“

Das Thema Vietnam füllt im Apo-Archiv mehrere Kästen mit Zeitungsausschnitten. Der Reporter der „Welt“ begann seinen Bericht vom Vietnamkongress mit den Worten: „ ,Es lebe die Weltrevolution‘, schrie Rudi Dutschke mit schriller Stimme in das rauchgeschwängerte Auditorium Maximum der Technischen Universität.“ Dutschke ist da 28 Jahre alt und unumstrittener Wortführer des SDS. Er stammte aus einem Ort bei Luckenwalde, 1961, am Tag des Mauerbaus, war er nach West-Berlin geflüchtet. Lönnendonker muss ein wenig suchen, bis er in einer Kiste ein schmales Buch mit den Kongress-Protokollen findet. Dutschke wird dort oft als Diskussionsleiter geführt.

Friedrich Christian Delius, 75, lebt heute in Berlin und Rom.
Friedrich Christian Delius, 75, lebt heute in Berlin und Rom.
© Andreas Austilat

Dutschke, das sei ein Phänomen gewesen, das er habe verstehen wollen, erzählt Eberhard Diepgen, deshalb besuchte er eine Kundgebung am Wittenbergplatz. „Der beeindruckte mich überhaupt nicht“, sagt er. „Dass er mit seiner Gestik und Rhetorik Studenten faszinierte, machte mich erschrocken und bis heute allergisch gegen Demagogen.“

Viele SDS-Größen redeten in einer verquasten Soziologen-Sprache, die schon damals kaum einer verstand, sagt Friedrich Christian Delius. Er veröffentlicht 1965 seinen ersten Gedichtband, verkehrte in Literaturzirkeln und Kneipen wie dem Friedenauer „Bundeseck“, wo er auf die Schriftsteller Uwe Johnson oder Günter Grass trifft. Im Februar 1968 erklärt er sich bereit, die Flugblätter zum Vietnamkongress zu überarbeiten. „Ich war nie im SDS oder einer ähnlichen Gruppe. Aber ich war gegen diesen Krieg und gegen schlechtes Deutsch. So habe ich eine Woche lang mit einem vom SDS um die Formulierungen von sechs Flugblättern gerungen, damit man die überhaupt lesen konnte.“

Auch Dutschke, mit dem Delius gelegentlich Fußball spielt, spricht mitunter schwer verständlich. Trotzdem gucken alle auf, wenn er das Podium betritt, nachdem andere Redner drei, vier Stunden das Auditorium erschöpft hatten: „Dutschke konnte das Gesagte so zusammenzufassen und mit schwungvollen Endlossätzen zu irgendeiner Aktion drängen, dass alle das Gefühl hatten: Der weiß, wo es langgeht. Ich bin ihm trotzdem meistens nicht gefolgt.“

Der Sohn des Außenministers

Als 19-Jähriger wird Peter Brandt 1968 bei einer Demonstration verhaftet. Sein Vater Willy Brandt ist damals Bundesaußenminister.
Als 19-Jähriger wird Peter Brandt 1968 bei einer Demonstration verhaftet. Sein Vater Willy Brandt ist damals Bundesaußenminister.
© p-a/dpa

Wenn Peter Brandt die Fingerspitzen aneinanderlegt, sich dabei zurücklehnt, ist die Ähnlichkeit mit seinem Vater unverkennbar. Der älteste Sohn des bis Dezember 1966 Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt wird 1968 gerade 20 Jahre alt. Peter Brandt kannte Dutschke ebenfalls persönlich. Er engagiert sich schon als Schüler bei den Falken, dem linken Jugendbund der SPD.

Einen ersten Eindruck von der Rebellion, die irgendwie in der Luft liegt, bekommt Brandt 1965 beim Auftritt der Rolling Stones in der Berliner Waldbühne. Es sind keine Studenten, die da randalieren, denn die sehen 1965 noch brav aus, tragen Krawatte und sagen „Sie“ zueinander. „Eigentlich ließ man sich erst nach dem Tod Benno Ohnesorgs die Haare wachsen und fing an, sich zu duzen“, erzählt er. Das lange Haar wird zum Protest gegen den militärischen Kurzhaarschnitt. In der bürgerlichen Welt avanciert man damit zum Hippie oder zum Gammler, wie es damals heißt.

Der junge Peter Brandt ist von Dutschke beeindruckt

Brandt wird weder Hippie noch Gammler, er weiß nicht mehr genau, was der Anlass für den Tumult in der Waldbühne ist, erinnert sich aber, wie ein Fan die Jacke von Brian Jones von der Bühne reißt, die dann von der Menge zerfetzt wird. „Die Stones sind darüber so erschrocken, dass sie kurz darauf das Konzert abbrachen.“ Die Stimmung kocht über, nicht nur die Band, auch Peter Brandt und seine Kumpels flüchten – schon um ihre wertvollen Mopeds in Sicherheit zu bringen.

Ebenfalls 1965 unterschreibt Brandt eine Protesterklärung gegen die Intervention der USA in Vietnam. Selbst seine Freunde vom SDS drängen ihn, die Unterschrift zurückzuziehen. Sie befürchten, Brandt werde seinen Vater in Schwierigkeiten bringen. Er zieht zurück, erklärt aber öffentlich, mit den Unterzeichnenden einer Meinung zu sein.

Der junge Peter Brandt ist da bereits von Dutschke beeindruckt, auf den er als Schüler zum ersten Mal getroffen war. „Dutschke wohnte damals als Untermieter in der Familie eines von mir verehrten Mädchens und öffnete die Tür.“ Seine Erscheinung habe auf ihn sehr exotisch gewirkt, schon wegen dessen starken Bartwuchses, „der musste sich eigentlich zweimal am Tag rasieren.“

Peter Brandt, 69, war Professor für Neuere und Neueste Geschichte.
Peter Brandt, 69, war Professor für Neuere und Neueste Geschichte.
© Imago/Photothek

Ein paar Jahre später lernt er Dutschke als Aktivisten kennen. „Man hatte das Gefühl, er identifiziert sich zu 100 Prozent mit dem, was er tut, ein Asket, der praktisch in jeder freien Minute las und sich mit einem Bleistift dabei ständig Notizen machte.“ Als Typ sei er außerordentlich liebenswürdig gewesen, einer, der jeder Oma über die Straße hilft. „Aber wenn er vor einer Polizeikette stand, wenn er sein Ziel erreichen wollte, dann hatte er schon ein bisschen Schaum vor dem Mund.“ Offenbar hat Diepgen am Wittenbergplatz diesen Dutschke gesehen.

Den Vietnamkrieg erlebt Peter Brandt wie alle anderen damals im Fernsehen. „Es war der Beginn eines neuen Medienzeitalters, und die Amerikaner hatten die Idee, einen transparenten Krieg zu führen. Das ging nach hinten los.“ Hätte es die Bilder nicht gegeben, es wäre ein entlegener Konflikt gewesen wie so viele andere. Jetzt aber fragten sich viele: Was machen die Amerikaner mit diesem kleinen Volk?

Es geschieht das Unvorstellbare: Die Amerikaner werden zurückgedrängt

„Natürlich hat es idealistische Fehldeutungen gegeben, man interpretierte in den nordvietnamesischen Staat eigene Emanzipationsvorstellungen hinein“, sagt er. Dieses Phänomen gibt es nicht nur in Deutschland. Weltweit rebelliert 1968 die Jugend. In Paris liefern sich linksradikale Studenten mit der Polizei Straßenschlachten, und Arbeiter treten in den größten Generalstreik der französische Geschichte. In Prag stellen sich die Tschechen gegen russische Panzer, was den Teil der deutschen Linken, der mit der DDR sympathisiert, in Erklärungsnot bringt.

Im Januar 1968 treten nordvietnamesische Armee und Vietcong zur Tet-Offensive an. Es geschieht das Unvorstellbare: Die Amerikaner werden zurückgedrängt, sogar vor ihrer Botschaft in Saigon wird gekämpft. Die Aktivisten feiern die Nachrichten auf dem Vietnamkongress euphorisch. Dazu Peter Brandt: „Nicht, dass wir erwarteten, das die Weltrevolution unmittelbar bevorstünde, aber es ging voran.“

Die Kommunardin

Christel Kalisch (links, mit blonden Haaren) studierte Soziologie und wohnte in der Kommune zwei. Bei einem Happening auf dem Breitscheidplatz feierte sie 1967 die Freilassung von Fritz Teufel.
Christel Kalisch (links, mit blonden Haaren) studierte Soziologie und wohnte in der Kommune zwei. Bei einem Happening auf dem Breitscheidplatz feierte sie 1967 die Freilassung von Fritz Teufel.
© Ullstein

Christel Kalisch ist damals 21, Studentin der Soziologie und jeden Kongresstag in der TU. Auch sie treibt der Protest gegen den Vietnamkrieg auf die Straße: „Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs in Europa waren so lange verschwiegen worden, wir wollten nicht den gleichen Fehler machen.“

Christel Kalisch wächst in Charlottenburg auf. Ihr Vater ist mit einer chronischen Herzentzündung aus dem Weltkrieg zurückgekommen und arbeitsunfähig. „Er war eigentlich immer zu Hause, hat immer den Aufpasser gegeben, jede kleine Übertretung bestraft.“ Die Welt, in die Christel Kalisch hineinwächst, empfindet sie als „klein und spießig“. 1968, sie ist im zweiten Semester, zieht Christel Kalisch in die Kommune zwei.

„Die Kommune eins, das waren die mit den Happenings, die, die immer witzig sein wollten und manchmal in den Klamauk abglitten.“ Die Kommune zwei hat einen anderen Anspruch: „Wir haben gesagt, wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir uns auch verändern.“ Die Familie gilt ihnen als Keimzelle der Misere, als der Ort, wo alle Widersprüche unter den Tisch gekehrt werden, damit die Oberfläche glänzt. Das soll sich nicht mehr wiederholen.

"Wir haben viel geredet, uns gegenseitig analysiert"

Alles wird geteilt, jeder gibt dafür sein Geld ab. Das Konzept scheint zu funktionieren. „Wir haben viel geredet“, sagt sie, „haben uns gegenseitig analysiert, mit Sigmund Freud und Wilhelm Reich beschäftigt.“ Noch heute glaubt sie, davon profitiert und erkannt zu haben, wie sie leben und erziehen will: freier, offener, ehrlicher.

Natürlich habe es Konflikte gegeben. Etwa wenn Eike, ihr Partner, sagt, „meine Anwesenheit bei dieser Diskussion ist wichtiger als deine“, und dass er darum heute nicht im Haushalt arbeiten könne. „Ich fand das unmöglich, aber so war es halt.“ Die Frauenbewegung steht noch am Anfang, „mir war es nicht wichtig, in der ersten Reihe der politischen Szene zu stehen.“ Den Vietnamkongress erlebt sie als eine Art Vollversammlung, „vorne standen die Großkopfigen, alle rauchten und die Luft war wahnsinnig schlecht“. Aber Veranstaltungen wie diese waren nötig, „sonst wurde man übersehen. Wenn wir uns nicht exponierten, kamen wir in den Medien nicht vor.“

Im Apo-Archiv lagern in den Kästen mit der Aufschrift „Vietnam“ auch Berichte über die Gegendemonstration am Tag nach der Abschlusskundgebung. „Morgen heißt es Flagge zeigen“, titelt die „BZ“, der Senat und die Gewerkschaft ÖTV rufen zur Kundgebung auf. Mindestens 60.000 Menschen folgen, und am Rand kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall. Der Verwaltungsangestellte Lutz-Dieter Mende wird mit Rudi Dutschke verwechselt. In seiner Angst flüchtet er vor dem wütenden Mob in einen Polizeiwagen. Der wird ebenfalls attackiert. Ein Polizist sagt später aus, die Menge habe gerufen, „lyncht ihn“.

Vor der Springer-Zentrale eskalieren die Auseinandersetzungen

Der Ernstfall tritt anderthalb Monate später ein: Rudi Dutschke wird bei einem Anschlag vor dem Büro des SDS am Ku’damm von drei Kugeln niedergestreckt. Der Schütze trägt ein Exemplar der rechtsgerichteten „Nationalzeitung“ bei sich. Aber für Siegward Lönnendonker ist damals klar, die Zeitungen des Springer-Konzerns tragen eine Mitschuld, hatte doch die „Bild“ etwa im Februar geschrieben: „Man darf nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei überlassen“, was nun als Aufruf zur Gewalt gegen Dutschke interpretiert wird. Lönnendonker sucht im Archiv nach den Ansteckern mit der Parole: „Enteignet Springer“, die damals geprägt werden. 100 Stück hatte er davon, „sie sind offenbar alle gestohlen worden“.

Noch am Abend des Attentates eskalieren die Auseinandersetzungen vor der Springer-Zentrale. Die Demonstranten wollen die Auslieferung der Zeitungen verhindern, Verlagsfahrzeuge werden angezündet. Zwei Tage nach dem Attentat ziehen Demonstranten über den Ku’damm. Die Polizei riegelt die Meinekestraße an beiden Enden ab und nimmt 200 Demonstranten fest. Unter ihnen Christel Kalisch und Peter Brandt. Dessen Vater ist inzwischen Bundesaußenminister. „Natürlich war er nicht begeistert“, erinnert sich Brandt; das britische Boulevardblatt „Sun“ berichtet groß über die Umtriebe von Willy Brandts Sohn. „Aber was sollte er sagen, er war doch in jungen Jahren selbst ein radikaler Sozialist gewesen.“

„Die Gewaltdiskussion“, erinnert sich Christel Kalisch, „sie drängte im April 1968 in den Vordergrund.“ Die Kommune zwei zerbricht Ende 1968 an der Frage, wie es nun weitergehen soll. „Die Diskussion wurde rechthaberisch und besserwisserisch“, sagt Kalisch.

Christel Kalisch arbeitete als Lehrerin und Heilpraktikerin. Im Hintergrund des Bildes: die Technische Universität Berlin, wo 1968 der Vietnam-Kongress tagte.
Christel Kalisch arbeitete als Lehrerin und Heilpraktikerin. Im Hintergrund des Bildes: die Technische Universität Berlin, wo 1968 der Vietnam-Kongress tagte.
© Andreas Austilat

Friedrich Christian Delius glaubt rückblickend, dass nach den Schüssen auf Dutschke die Studentenbewegung eigentlich am Ende war, jedenfalls für ihn. Alles danach habe nichts mehr mit dem zu tun gehabt, was er in 1966 und 1967 gesehen hatte: Aufbegehren gegen Autoritäten, Erweiterung des Horizontes. Stattdessen bilden sich lauter Kleinparteien, die immer sektenähnlicher werden, auch er sagt: „Es begann die Zeit der Rechthaber. Jetzt hieß es, wir haben den richtigen Weg, und wer uns nicht folgt, ist ein Idiot oder ein Feind.“

Sein Anspruch sei viel bescheidener gewesen: „Ich wollte gute Bücher auf den Weg bringen, die aufklären, im Idealfall zu mehr Witz, mehr Sensibilität, mehr Gerechtigkeit beitragen.“ Er wird Lektor und Schriftsteller. Christel Kalisch wird Lehrerin, gibt den Beruf aber nach der Geburt ihrer Kinder auf, um anschließend neu als Heilpraktikerin anzufangen. Sie lebt heute in Brandenburg.

Eberhard Diepgen wird mit insgesamt 15 Jahren und fünf Monaten Berlins Regierender Bürgermeister mit der längsten Amtszeit.

Peter Brandt wird Professor für Neuere und Neueste Geschichte der Fernuniversität Hagen. Politisch aktiv ist er für die SPD in Spandau.

Rudi Dutschke stirbt elf Jahre nach dem Attentat an den Spätfolgen seiner schweren Verletzungen.

Siegward Lönnendonker erforscht sein ganzes Berufsleben die Geschichte der Außerparlamentarischen Opposition, arbeitet ehrenamtlich im Apo-Archiv der FU. Dort im Lesesaal liegt in einer Vitrine ein Schutzhelm, den er 1968 geschenkt bekam. Hat er den je getragen? „Ja, beim Renovieren.“

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