Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Friedenau: Wo Autofahrer sich duellieren
96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 21: Friedenau.
Es fängt schon damit an, dass unklar ist, wo Friedenau anfängt. Die Ostgrenze des Ortsteils verläuft eigentlich entlang der Haupt- und Fregestraße – alles, was dahinter liegt, sogar der S-Bahnhof Friedenau, gehört zum Nachbarortsteil Schöneberg. Doch auf beiden Seiten der Bahngleise erstreckt sich eine Art Phantom-Friedenau, dessen Bewohner brüskiert gucken, wenn man fragt, in welchem Ortsteil sie sich befinden. „Friedenau natürlich!“, sagen sie, obwohl das objektiv nicht stimmt. Im Osten reicht diese gefühlte Ortsteilgrenze bis zur Kleingartenkolonie Sonnenbad, während nach Süden hin die Passanten, denen ich die Friedenau-oder-nicht-Frage stellte, erst kurz vor dem Friedhof Steglitz von vehementem Nicken zu bedauerndem Kopfschütteln übergingen.
Ist aber auch kein Wunder, dass so viele Rand-Friedenauer gerne Kern-Friedenauer wären. Diese Villen! Ein- bis dreistöckige Landhäuser geben der Gegend ihr Gepräge, entstanden in den seligen 1870er Jahren. Dass Friedenau trotz der niedrigen Traufhöhen der am dichtesten besiedelte Ortsteil Berlins ist, dürfte an der engen Bebauung liegen – viele Straßen hier sind so stadtuntypisch schmal, dass zwischen den geparkten Fahrzeugreihen nur ein Auto durchpasst. Steuern zwei aufeinander zu, kommt es, wie mir ein Anwohner erklärte, zum „Friedenauer Duell“: Die Kombattanten starren sich dann so lange an, bis einer entnervt aufgibt und rückwärts die nächste Ausweichmöglichkeit ansteuert.
Es ist nicht mehr da.
Ansonsten fiel mir in Friedenau vor allem die verblüffende Dichte an Heilpraktikern und toten Literaten auf. Überall an den pittoresken Hausfassaden sah ich Plaketten, die entweder für craniosakrale Therapie, Quantenheilung, kinesiologische Muskeltests und Schlangengift-Enzym-Therapie warben oder aber auf einstige Bewohner hinwiesen. Bundesallee 79: Kurt Tucholsky. Niedstraße 14: Uwe Johnson. Hähnelstraße 9: Kurt Hiller. Saarstraße 14: Karl Kautsky. In der Sarazzinstraße 8 lebten Max Frisch und Ernst Jandl, in der Rheingaustraße 8 Rainer Maria Rilke. Am einstigen Wohnhaus von Erich Kästner (Niedstraße 5) fand ich statt einer Plakette einen Zettel vor: „Achtung, Trickbetrüger unterwegs! Lassen Sie keine Fremden in Ihre Wohnung.“ Während ich noch überlegte, ob sich da betrügerisch ein literarischer Hochstapler als Kästner-Erbe ausgab, entdeckte ich an der ehemaligen Villa von Günter Grass (Niedstraße 13) eine Plakette, die den Friedenauer Kreis zu schließen schien: „Praxis für Naturheilkunde und Bioresonanztherapie“.
Gegen Abend, nach langem staunenden Schlendern, wurde ich ratlos. Friedenau war schön, aber was war es sonst noch? Der Ortsteil strotzte nur so vor urbaner Eleganz, aber es kam mir vor, als finde er unter der musealen Last seiner Historie keine rechte Rolle in der Gegenwart. Per SMS bat ich eine Freundin, die hier aufgewachsen war, um Hinweise. Sie riet mir, die alte Gießerei an den Bahngleisen zu besuchen und ein Bier im „Schluckspecht“ zu trinken. Leider stellten sich beide Institutionen als längst verschwunden heraus. „Das erklärt auch, warum du Friedenau nicht findest“, schrieb die Freundin, als ich ihr die traurige Nachricht überbrachte. „Es ist nicht mehr da. Nur Gedenktafeln.“
Fläche: 1,65 km² (Platz 92 von 96)
Einwohner: 28 145 (Platz 44 von 96)
Durchschnittsalter: 43,4 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Tucholsky, Johnson, Frisch, Jandl, Rilke, Enzensberger, Kästner, Grass...
Gefühlte Mitte: Friedrich-Wilhelm-Platz
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Diese Kolumne erschien am 29. Juli 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.
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