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TU-Professor Folkmar Koenigs verteilt farbverschmiert 1973 Flugblätter der "Notgemeinschaft für eine freie Universität (NofU)". Kurz vorher war er von Studenten mit Farbe angegriffen worden.
© picture-alliance/Konrad Giehr

Studentenrevolte in West-Berlin: Die Revanche der Professoren

Studentenrevolte: West-Berliner Hochschullehrer wehrten sich in den 70ern in der berüchtigten "Notgemeinschaft für eine freie Universität". Bis heute hat das Folgen.

Als die Wandzeitung des Kommunistischen Studentenverbands am Vormittag des 16. Juli 1973 noch immer in der Mensa hing, beschloss Folkmar Koenigs selbst zur Tat zu schreiten. Seit Tagen hatte der Professor für Handels- und Wirtschaftsrecht beim Studentenwerk der TU darauf gedrängt, den Aushang zu entfernen, in dem zur Vertreibung der „NofU-Denunzianten“ aus der Universität aufgerufen wurde. Nun griff Koenigs zur Schere, lief hinüber zur Mensa und schnitt aus dem Plakat fein säuberlich die Worte „NofU-Denunzianten“ aus. Koenigs war gerade auf dem Rückweg in sein Büro, als die Studenten mitten auf dem Campus zurückschlugen. Dem Professor wurde von hinten ein Eimer mit gelber Ölfarbe über den Kopf gestülpt. Kaum eine Stunde später stand Koenigs nur notdürftig gesäubert an der Ecke Kurfürstendamm/Joachimstaler Straße vor dem Café Kranzler und verteilte Flugblätter der „Notgemeinschaft für eine freie Universität“. In seinen Haaren prangte noch das Gelb. Ein Fotograf der dpa hielt die Szenerie in einem Bild fest, das buchstäblich um die Welt gehen sollte: Es erschien bald darauf im Time Magazine zu einem Artikel mit der Überschrift „The Painted Professor“.

Die Studentenbewegung von 1968 ist noch immer ein höchst lebendiger Erinnerungsort im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik. Wenig bekannt ist dagegen heute, dass es damals auch eine starke Gegenbewegung gab. Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ (BFW) war in den 70er Jahren das Sammelbecken jener Professoren, die sich von den revoltierenden Studenten nicht auf der Nase herumtanzen lassen wollten. Sein lokaler Ableger in West-Berlin war die „Notgemeinschaft für eine freie Universität“ (NofU). In akademischen Kreisen haftet ihr bis heute ein geradezu legendär schlechter Ruf an. Vor allem für die Freie Universität (FU) stellt sie einen profunden Negativmythos der Universitätsgeschichte dar. Erzreaktionär sei sie gewesen, heißt es, und rücksichtslos in der Diffamierung ihrer Gegner. BFW und NofU selbst sahen sich dagegen als Selbstverteidigungsbündnisse und plädierten auf Notwehr.

Der Ordinarius war das Feindbild schlechthin

Es wird in der Rückschau über die bekannten Bilder von Vietnamkongress und Kommune I oft vergessen, dass die Studentenbewegung zuallererst eine Hochschulrevolte war. Hochschullehrer waren die ersten Leidtragenden. Der „Ordinarius“ mit dem tausendjährigen Muff unter dem Talar war für die Studenten das Sinnbild schlechthin eines vermeintlich reaktionären Hochschulsystems. In Vorlesungen und Seminaren attackierten sie ihn mit Zwischenrufen und Sprechchören, nicht selten auch mit Eiern und Farbbeuteln. Auch wenn zahlenmäßig nur wenige Studenten so radikal agierten, bestimmten sie um 1970 doch vielerorts das Klima. Die Verunsicherung auf Seiten der Lehrenden war groß. An der FU Berlin mit ihrer tendenziell linkeren Professorenschaft wurde die Paradoxie besonders deutlich. Ältere Professoren wie Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, die in der NS-Diktatur Opfer politischer und rassischer Verfolgung gewesen waren, fühlten sich an die Angriffe der Nazi-Studentenbünde auf jüdische Dozenten in den frühen 30er Jahren erinnert. Jüngere Professoren wie Thomas Nipperdey, die sich selbst zur liberalen Reformavantgarde zählten, waren empört, dass die Studenten sie selbst als „Nazis“ angriffen („NiPerDey ist ein Faschistenschwanz“).

Das West-Berliner Hochschulgesetz schuf die Drittelparität in den Gremien

Zu diesem emotionalen Motiv kam freilich ein eminent politisches hinzu. In der Absicht, die Studentenbewegung einzuhegen, kamen nach 1968 viele Bundesländer ihrer wichtigsten hochschulpolitischen Forderung entgegen: der Ausweitung der studentischen Mitbestimmung in der akademischen Selbstverwaltung. Unter dem Stichwort „Demokratisierung“ schuf das West-Berliner Hochschulgesetz von 1969 annähernd eine Drittelparität von Studenten, Assistenten und Hochschullehrern in den Kollegialorganen. Die Studenten erlangten so erstmals relevanten Einfluss auf die Verteilung von Forschungsgeldern, auf Berufungsverfahren, auf Promotionen und selbst auf ihre eigenen Prüfungsordnungen. Gerade der radikalere Teil der studentischen Linken nahm das als Freibrief.

Geschockte Dekane beim Regierenden Bürgermeister

An der FU wählte im November 1969 ein drittelparitätisches Konzil den 31-jährigen Soziologie-Assistenten Rolf Kreibich zum deutschlandweit ersten Universitätspräsidenten ohne Promotion. Kreibich gewann die Wahl vor allem dank des Versprechens, bei künftigen Protesten keine Polizeieinsätze mehr auf dem Universitätsgelände zuzulassen. Die kommunistischen „Roten Zellen“ nutzten das gleich im Dezember 1969, um den Abbruch einer BWL-Vorlesung zu erzwingen. Die geschockten Dekane der FU sprachen beim Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) vor. Der bekundete sein Verständnis, griff aber nicht ein.

Der Kampf in der Universität müsse fortan von außen geführt werden

Bei den Professoren entstand der Eindruck, der politischen Spitze sei es nicht Unrecht, wenn sich der Konflikt mit den Studenten wieder stärker auf die Universitäten fokussierte. Im Privatgespräch soll Schütz angeblich geäußert haben, solange er Friede auf dem Kurfürstendamm habe, interessiere ihn der Krawall in Dahlem nicht. Das war die Situation, in der Ernst Fraenkel Ende 1969 das Signal zur Gründung der „Notgemeinschaft“ gab: Da der Kampf innerhalb der Universität verloren sei, müsse er fortan von außen geführt werden. Folkmar Koenigs, der bemalte Professor am Kranzlereck, symbolisiert wie kein Zweiter die Strategie der NofU, den Unfrieden an den West-Berliner Universitäten zurück auf den Kurfürstendamm zu tragen. Statt wie herkömmliche Hochschulgruppen zuvorderst um Einfluss in der akademischen Selbstverwaltung zu kämpfen, stellte die NofU ihre ganz Aktivität auf öffentliche Wirkung ab, um so politischen Druck für eine Revision der Hochschulgesetzgebung zu erzeugen. Die NofU-Professoren stellten sich frühmorgens an die U-Bahnhöfe und Fabriktore und verteilten Flugblätter. Sie plakatierten an Litfaßsäulen und belieferten die Presseagenturen. 11000 Namen umfasste in besten Zeiten der Verteiler, über den die NofU Zeitschriften mit Titeln wie „Freie Universität unter Hammer und Sichel“ an Multiplikatoren versandte.

Der Druck war tatsächlich extrem

Die FU unter Hammer und Sichel? Vieles, was die NofU an Bedrohungsszenarien verbreitete, liest sich heute wie Stoff für Verschwörungstheorien. Doch darf nicht vergessen werden, dass zuerst die studentische Linke selbst zur „Eroberung der Universität“ als erster Station auf dem „langen Marsch durch die Institutionen“ aufgerufen hatte. So betrachtet, haben die Anti-68er unter den Professoren ihre Gegner ernster genommen als alle abwägenden Liberalen.

Turbulentes Handgemenge mit der Polizei: Studenten besetzen 1968 das FU-Rektorat.
Die Eroberung der Universität. Studenten besetzen 1968 das FU-Rektorat. Im Jahr 1969 wird der Assistent Rolf Kreibich Präsident – bundesweit der erste ohne Promotion.
© dpa

Auch war fraglos phasenweise an einigen FU-Instituten (am Otto-Suhr-Institut, am Psychologischen Institut, am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien), aber auch an der TU oder der Pädagogischen Hochschule der Druck tatsächlich extrem. Vor allem wenn es um die Besetzung der Tutorenstellen für die Erstsemester ging, nutzten die oft auch bei den Assistenten gut organisierten K-Gruppen die Drittelparität erfolgreich aus. Bedrohlicher noch als die „Roten Zellen“ mit ihren Stinkbomben und Farbbeuteln erschienen aus dieser Perspektive in West-Berlin die SEW-nahen „Aktionsgemeinschaften von Demokraten und Sozialisten“ (ADS) mit ihrem organisatorischen und finanziellen Rückhalt in der DDR. In Listenverbindungen mit dem weitgehend unterwanderten Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) konnten die ADS in den frühen 70er Jahren bei Hochschulwahlen in West-Berlin bis zu 30 Prozent aller studentischen Mandate gewinnen.

Doch eben dies war es auch, was die NofU zu ihrer extremsten und bis heute umstrittensten Aktion verleitete: Von 1974 bis 1980 veröffentlichte sie in sechs Folgen Listen mit den Namen von insgesamt 1664 Aktivisten der ADS. Gegner der NofU sprachen von Proskriptionslisten. Tatsächlich handelte es sich ganz überwiegend um bloße Kompilationen der offiziellen ADS-Wahllisten. Den Vorwurf der Verletzung von Persönlichkeitsrechten ließ die NofU daher kühl abprallen.

Die NofU erschien als Nachfahrin Joseph McCarthys

Aber die NofU-Professoren wussten natürlich, dass Personaler in der ganzen Bundesrepublik ihre „schwarzen Listen“ konsultierten. Die Gefahr beruflicher Nachteile für die Erwähnten war zweifellos real. Auch seriöse Kritiker warfen der NofU vor, sich die Rolle eines privaten Verfassungsschutzes anzumaßen. TU-Präsident Rolf Berger sprach von „White-collar-Extremismus“. Spätestens seit den ADS-Listen war die NofU als ideologischer Nachfahre Joseph McCarthys, des anti-kommunistischen Hexenjägers in den USA der 50er Jahre, diskreditiert. Andererseits: hatte ein kämpferischer Antikommunismus nicht zum Grundkonsens des westdeutschen Demokratieaufbaus nach 1945 gezählt? War nicht dieselbe Gesinnung gerade in West-Berlin eben noch als „Frontstadtgeist“ gefeiert worden? Die subjektive Realität des „Kalten Krieges“ darf als Motivation der NofU-Aktivisten nicht unterschätzt werden.

Das Ziel: Die Professorenmehrheit in den Gremien

Nicht wenige von ihnen hatten einschneidende persönliche Erfahrung mit politischer Verfolgung in der DDR gemacht. Der Psychologie-Dozent Hans-Eberhard Zahn etwa, einer der umtriebigsten NofU-Aktivisten, hatte sieben grausame Jahre im Zuchthaus Brandenburg eingesessen. Diese spezielle West-Berliner Prägung unterschied die NofU auch vom BFW im Bundesgebiet, der insgesamt zwar eher konservativer, eben deshalb aber auch weniger radikalaktionistisch geprägt war. Konsequenterweise löste sich die NofU 1991 sofort auf, als mit dem Ost-West-Konflikt ihr übergeordneter ideologischer Referenzrahmen wegfiel. Der BFW dagegen existiert (stark marginalisiert) bis heute. Was bleibt rückblickend vom Professorenprotest der 70er Jahre? Ihr wichtigstes Ziel, die Wiederherstellung der Professorenmehrheit in der akademischen Selbstverwaltung, hatten die BFW-Professoren schon 1973 mit einer erfolgreichen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erreicht. Geblieben ist den Protestprofessoren auch der symbolische Erfolg, in subjektiv bedrängter Situation „ein Zeichen“ gesetzt zu haben. Den NofU-Gründern war es 1969 in ihrem eigentümlichen Pathos durchaus wichtig gewesen, „dass uns unsere Kinder in zehn Jahren nicht vorwerfen, wir hätten nichts unternommen.“ Das Bild von Folkmar Koenigs am Kranzlereck illustriert so auch die Revanche einer gedemütigten Professorenschaft, die aus ihrer Opferrolle heraustrat und den Spieß einfach umdrehte.

Man wiegelte einander gegenseitig auf

Doch hinterlässt dieses Bild auch den ambivalenten Eindruck eines circulus vitiosus, bei dem sich die radikalen Studenten und ihre entschiedensten Gegner unablässig gegenseitig aufwiegelten und so den Konflikt von 1968 beständig perpetuierten. Ein schwacher Nachgeschmack der damaligen Vergiftung des inneruniversitären Klimas ist vor allem an der FU noch heute zu spüren – und sei es nur in dem verkrampft klassenkämpferischen Sprachgestus, in dem dort seither noch jede AStA-Generation ihre „Streikaufrufe“ abfasst. Umgekehrt gibt es auf Professorenseite bis heute die Liberale Aktion, bei der aber wahrscheinlich selbst die Mandatsträger nicht mehr alle wissen, dass sie 1971 maßgeblich als „parlamentarischer Arm“ der verpönten NofU gegründet wurde. Die verbliebenen Veteranen des BFW übrigens kämpfen heute an entscheidender Stelle fast Seit’ an Seit’ mit den Studentenvertretungen – gegen die Bologna-Reform nämlich. Aber das haben die Strukturkonservativen beider Seiten noch gar nicht recht bemerkt.

Nikolai Wehrs ist Autor des soeben erschienenen Buches „Protest der Professoren. Der ,Bund Freiheit der Wissenschaft' in den 1970er Jahren“, das er am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) geschrieben hat. Wallstein, 539 Seiten, 44 Euro.

Nikolai Wehrs

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