Berlin-Chronik 1966 bis 1975: Vietnam, Benno Ohnesorg, Baader-Meinhof
Die 68er-Revolte verändert die satte Republik – für den Tagesspiegel Zeichen notwendiger Liberalisierung. Terror, Stadtumbau und Reiseerleichterungen prägen die Zeit. Ein Rückblick zu 70 Jahren Tagesspiegel.
Vor 50 Jahren wurde die Freiheit Berlins noch nicht am Hindukusch verteidigt, am Mekong aber schon. Das glaubten hier viele, auch Tagesspiegel-Verleger Franz Karl Maier. Und so machten sich denn er und sein Kollege Hans Sonnenfeld vom „Abend“ als Vertreter der West-Berliner Presse zu Weihnachten 1965 nach Washington auf, um Vizepräsident Hubert H. Humphrey in einem symbolischen Akt ein Geschenk für die Angehörigen gefallener US-Soldaten zu überreichen: eine kleine Nachbildung der Freiheitsglocke, eine von 1000, versehen mit einer Inschrift: „Von freiheitsliebenden Berlinern, die erkennen, dass ihre Freiheit in Vietnam tapfer verteidigt wird“.
Ein heute eher befremdlicher Akt von vorweihnachtlicher Bescherung, ergänzt noch um das Ergebnis einer Spendensammlung zugunsten der südvietnamesischen Bevölkerung, ohne jegliche weltpolitische Bedeutung, doch typisch für die damalige Zeit. Zudem ist die darin sich manifestierende, überaus respektvolle Haltung gegenüber den Schutzmächten eine hervorragende Kontrastfolie für die Ereignisse, die wenige Jahre später die eingemauerte Stadt, ja, die ganze Bundesrepublik erschütterten und von allem Möglichen zeugten, nur nicht von Respekt gegenüber zuvor geradezu unantastbaren Institutionen.
Das "Pudding-Attentat" wurde verhindert
Dazu war es nicht mal nötig, dass das sogenannte „Pudding-Attentat“ von Mitgliedern der Kommune 1 um Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und Fritz Teufel auf – ja, der schon wieder – Vizepräsident Humphrey tatsächlich stattfand. Es wurde im April 1967 bereits im Vorfeld seines Berlinbesuchs aufgedeckt, dennoch war die allgemeine Aufregung übergroß. Besonders die Springer-Presse schäumte, während der Tagesspiegel eher nüchtern über die spontihafte Politposse berichtete und auch der beschuldigten, bald aber wieder freigelassenen „,Provo’-Gruppe“, wie es damals hieß, hinreichend Platz zur Erläuterung ihrer gescheiterten Aktion bot.
Diese sah darin, so erfuhren die Leser, nur einen „Akt der Lächerlichmachung“ eines Besuchs, den sie für „groben Unfug“ hielt. Die verhinderten Puddingbomben waren so symptomatisch wie die verschenkten Porzellanglöckchen knapp anderthalb Jahre zuvor. Die satte Wirtschaftswundergesellschaft war in Gärung geraten, und das zeigte sich in West-Berlin, in den hohen und späten Sechzigern gleichsam der Druckkessel der bundesdeutschen Gesellschaft, deutlicher als anderswo.
Farbeierhagel aufs Amerikahaus
Wären die Studenten auch ohne Vietnamkrieg auf die Straße gegangen? Vermutlich schon, ein Wandel war überfällig. Die NS-Verbrechen waren weder gesühnt noch irgendwie aufgearbeitet, stattdessen unter den neu erworbenen Perserteppich gekehrt worden, und nicht nur an den Universitäten hing „unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“. Aber der Krieg in Südostasien hat das Aufbegehren hier und anderswo sicher beflügelt, das sich erst im Vietnamkongress an der Technischen Universität im Februar 1968 und danach in wiederholten, von massiven Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei geprägten Protesten äußerte, samt Farbeierhagel aufs Amerikahaus an der Hardenbergstraße.
Vielfach schlug den Studenten geradezu unverblümter Hass entgegen, hielt doch die Mehrheit der Bevölkerung noch immer Ruhe für die erste Bürgerpflicht. Und die Haltung der Polizei war ohnehin durch die von ihrem damaligen Präsidenten Erich Duensing empfohlene Leberwursttaktik geprägt: „Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie am Ende auseinanderplatzt.“ Ein auch bei den Anti-Schah-Protesten am 2. Juni 1967 angewendetes Prinzip, bei denen der Student Benno Ohnesorg zu Tode kam. Dass der Todesschütze, der Polizist Karl-Heinz Kurras, nebenbei IM der allerdings unbeteiligten Stasi war, konnte sich damals noch niemand vorstellen.
Tagesspiegel-Artikel hingen in den Hörsälen
Die Rolle der Medien in diesen Zeiten des keineswegs gewaltfreien Umbruchs hätte unterschiedlicher kaum sein können: hier die von der aufbegehrenden Jugend gehasste und zurückhassende Springer-Presse mit „Bild“ als publizistischer Speerspitze, deren Verlagshaus in der damaligen Kochstraße nach dem Attentat auf Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 Ziel schwerer Ausschreitungen wurde; dort der wiederum moderate Tagesspiegel, zwar eindeutig in der Ablehnung gewalttätiger Proteste, doch um Fairness bemüht und verständnisvoll gegenüber den Anliegen der Studenten. Das wurde von denen anerkannt und auch honoriert: Artikel des Tagesspiegels hingen bald sogar an den Wänden und Fenstern der Hörsäle.
Verleger Franz Karl Maier und Mitarbeiter wie seine Ressortleiter Günter Matthes aus dem Lokalen und Uwe Schlicht aus der für Bildungspolitik zuständigen Wissenschaft werteten Leute wie Dutschke eben nicht als Rädelsführer einer kommunistischen Unterwanderung, sahen in der Studentenbewegung vielmehr den Ausdruck einer gesellschaftlichen Zeitenwende, die ein liberales Blatt wie der Tagesspiegel zu reflektieren habe, deren Vertretern man ein Podium, die Möglichkeit zur Öffentlichkeit geben müsse.
Und so erschien einmal wöchentlich die Rubrik mit dem etwas betulichen Titel „Studenten über ihre Probleme“, eine in der Dienstagsausgabe fest eingeplante Doppelspalte, um „den Studentenvertretungen und den zu ihnen in Opposition stehenden Gruppen“ Gelegenheit zu geben, „sich gegenüber der Allgemeinheit eigenverantwortlich zu hochschulpolitischen Fragen aller Art, die menschlichen Probleme der heutigen akademischen Jugend eingeschlossen, zu äußern“.
Vietnamkrieg und Weltrevolution, wenngleich sie vielen am Herzen lagen, waren als Themen ausgeschlossen, das war die einzige Auflage. Gleichwohl „kostete es viel Mühe, die ultralinken Autoren davon abzubringen, den Redaktionsschluss mit bürgerlicher Repression zu verwechseln und unwilligen Lesern zu raten, die Zumutungen der Rebellen als Information zu verstehen“, wie sich Günter Matthes Jahrzehnte später erinnerte. Wobei Debatten über Themen wie „Das Fachhochschulgesetz aus studentischer Sicht“ oder das vom Asta beanspruchte allgemein-politische Mandat wohl ohnehin die Interessenlage der Lesermehrheit allenfalls am Rande trafen.
Öffentliche Fehden zwischen den Verlagshäusern
Die unterschiedliche Ausrichtung der Verlagshäuser in der Potsdamer und der Kochstraße konnten durchaus auch zu öffentlich ausgetragenen Fehden führen – so, als der stellvertretende Chefredakteur der „Morgenpost“ nach den Krawallen vor dem Springer-Hochhaus dem Tagesspiegel mangelnde Solidarität vorwarf, was dessen „Herausgeber“ – dahinter dürfte Verleger FKM gesteckt haben – gelassen, aber deutlich zurückwiesen: „Mit einem Journalisten, der gegenüber seiner Leserschaft, ohne diese über das von uns Gesagte zu unterrichten, mit der Unterstellung arbeitet, der Tagesspiegel rede den Feinden der Demokratie zum Munde, setzen wir uns nicht auseinander.“
Aber weitaus öfter rieb sich Franz Karl Maier an der für Blätter wie den Tagesspiegel bedrohlichen Marktmacht des Medienkonzerns, äußerte sich gern auch pointiert zu dem „unmittelbarsten und scharfen Wettbewerb seitens des SFB“ und seine Folgen für die ohnehin bedrohliche Konzentration auf dem Berliner Pressemarkt. Was ihn nicht hinderte, eine kaum verkappte Subventionierung der Presse seitens des Senats ebenso massiv wie erfolgreich zu attackieren.
Die vom Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) geführte Landesregierung hatte 1971 von der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt in drei Jahresraten Sondermittel über 15 Millionen DM zugebilligt bekommen, um damit die mittleren und kleineren, also Springer-fernen West-Berliner Blätter zu unterstützen. Das zielte offensichtlich vor allem auf den SPD-nahen „Telegraf“ und seine Abendausgabe „nacht-depesche“, die unter zunehmenden wirtschaftlichen Problemen litten, aber auch „Abend“, „Spandauer Volksblatt“ und Tagesspiegel sollten an dem unverhofften Geldregen teilhaben.
Staatliche Subventionen als Kredite kaschiert
Letztlich lief es auf eine staatliche Subventionierung hinaus, waren doch die als Kredite kaschierten Zahlungen mit äußerst günstigen, alles andere als marktüblichen Konditionen verbunden und widersprachen damit diametral Franz Karl Maiers Prinzipien: „Subventionen zerstören eine freie Presse“, so betitelte er seine Philippika in der Ausgabe vom 19. März 1972, worin er die Aktion des Senats scharf als Verstoß gegen das Grundgesetz geißelte, auch einen Monat zuvor, schon damals überaus polemischen Brief an Schütz abdruckte. Der Tagesspiegel wolle nicht „als Feigenblatt für eine Maßnahme“ fungieren, „die keine Kreditaktion, sondern bei der gegebenen Sachlage in mindestens einem Fall, dem der Zuteilung von DM 2,5 Millionen an den ,Telegraf‘, praktisch reine Subventionierung aus Steuermitteln ist“.
Die für den Tagesspiegel als erste Tranche vorgesehenen 500.000 DM lehnte Maier ab, ging schließlich, als der Senat auch in den folgenden Jahren sein Füllhorn über „Abend“ und „Spandauer Volksblatt“ ausgießen wollte, sogar juristisch gegen den von ihm nach wie vor strikt abgelehnten Subventionssegen vor. Und tatsächlich untersagte das Verwaltungsgericht im Mai 1974 die erneute Subventionierung der beiden Zeitungen als verfassungswidrigen Eingriff in die Pressefreiheit. Der Senat ging in Berufung, unterlag jedoch ein Jahr später auch vor dem Oberverwaltungsgericht. Gelder für „Telegraf“ und „nacht-depesche“ waren nicht mehr Gegenstand der Verhandlungen gewesen: Trotz der staatlichen Mittel waren die Blätter am 30. Juni 1972 eingestellt worden.
Der Linksterrorismus begann mit der Befreiung von Andreas Baader
Konflikt- und damit Nachrichtenstoff bot sich im dritten Jahrzehnt des Tagesspiegels aber auch ohne solche speziellen medienpolitischen Querelen mehr als genug, waren doch die Jahre zwischen 1966 und 1975 allgemein von solch einem massiven Wandel geprägt, wie danach erst wieder die Zeit nach dem Mauerfall 1989 mit all seinen Konsequenzen. Auch angefacht und scheinbar gerechtfertigt durch den juristisch ungesühnt gebliebenen Tod Benno Ohnesorgs mutierte ein Teil des 68er-Protestpotenzials zu offen bekannter und dann auch praktizierter Gewaltbereitschaft gegen den Staat und seine Organe.
Am 14. Mai 1970 wurde der als Kaufhausbrandstifter verurteilte Andreas Baader bei einem Bibliotheksbesuch in Dahlem von einer Gruppe um Ulrike Meinhof mit Gewalt befreit. Die Tat, bei der ein Bibliotheksangestellter und ein Justizwachtmeister durch Schüsse schwer verletzt wurden, gilt als Beginn des Linksterrorismus in der Bundesrepublik, dessen Schauplätze wiederholt auch in West-Berlin lagen. Am 10. November 1974 wurde Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann in seiner Wohnung in Westend von Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ ermordet, einer Gruppe, deren Name an den Tod Benno Ohnesorgs erinnern sollte. Sie war es auch, die am 27. Februar 1975 den CDU-Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl Peter Lorenz in Zehlendorf entführte und fünf inhaftierte Gesinnungsgenossen freipresste – ein Erfolg, der zwei Jahre später die Entführer von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in ihren Plänen bestärkte. Damit führte ein direkter Weg von Berlin nach Mogadischu.
Der Drang zum Umbruch, der die ganze Gesellschaft in all seinen positiven wie negativen Facetten erfasst hatte, war sogar am Stadtbild ablesbar, hüben wie drüben. In den Achtzigern hieß das Zauberwort der Stadtplaner „behutsame Stadtsanierung“, aber da war in bestimmten West-Berliner Vierteln schon nichts mehr zu sanieren, jedenfalls nichts Historisches. „Flächensanierung“ hieß die 1963 von Willy Brandt ausgegebene Parole, später sprach man angesichts vollständig umgemodelter, erst plattgemachter, dann neu hinbetonierter Stadtlandschaften lieber von Kahlschlagsanierung. So fiel 1973 der durch seine Geschichte ebenso berühmte wie berüchtigte Sportpalast an der Potsdamer Straße in Schöneberg, dessen Nachfolgebau wegen der häufig vom Sozialamt gezahlten Mieten bei vielen bald nur noch Sozialpalast hieß. Zwei Jahre zuvor hatte es in der Potsdamer Straße in Tiergarten sogar das Geburtshaus des deutschen Rundfunks getroffen, wo 1923 – „Hier Sendestelle Berlin, Vox-Haus, Welle 400“ – der erste deutsche Sender ein regelmäßiges Programm aufgenommen hatte. Respekt vor Traditionen, vor der Geschichte der Stadt? Fehlanzeige.
Der Tagesspiegel druckte unpolitische Meldungen der Ost-Presse nach
In Ost-Berlin verfielen Straßenzüge eher, als dass sie abgerissen wurden. Teilweise aber ging man ähnliche Wege, die Betongebirge auf der Fischerinsel, einst ein kleinteilig-malerischer Arme-Leute-Kiez, zeugen davon. Prestigebauten waren der 1969 eröffnete Fernsehturm, noch immer Deutschlands höchstes Gebäude, und der Palast der Republik, mit dessen Bau 1973 begonnen wurde. Die West-Berliner konnten diese Veränderungen jenseits der Mauer lange Zeit nur sehr beschränkt mit eigenen Augen ansehen, an wenigen Tagen um Weihnachten/Neujahr, Ostern und Pfingsten herum, wie es die verschiedenen Passierscheinabkommen zwischen Senat und DDR-Regierung zuließen.
Immerhin hatte der Tagesspiegel bereits am 16. Mai 1964 mit der neuen Rubrik „Ost-Berlin in der Ost-Presse“ ein kleines Guckloch auf die Lebenswirklichkeit jenseits der Mauer eröffnet, druckte unkommentiert Meldungen aus Ost-Berliner Zeitungen nach, beschränkt „auf den Alltag, auf menschliche Vorgänge, Veränderungen des Stadtbildes, auf im Kern unpolitische Meldungen also“, wie die nun über Jahrzehnte täglich erscheinende Rubrik anmoderiert wurde. Günter Matthes hatte sie Franz Karl Maier vorgeschlagen, der darauf nur antwortete, er laufe damit bei ihm offene Türen ein.
Ab 1972 durften West-Berliner den Ostteil der Stadt erkunden
Gelegenheit, das Guckloch zu einem Fenster zu erweitern, ergab sich 1972 mit einer Zusatzvereinbarung zum Vier-Mächte-Abkommen: West-Berlinern war es nun möglich, auch ohne besonderen Anlass zu Tagesbesuchen nach Ost-Berlin und in die DDR einzureisen – sofern man nur bestimmte Anträge stellte, Formulare ausfüllte und die strengen Regularien einhielt. Sogar längere Besuche wurden gestattet, Voraussetzung war eine Einladung. Plötzlich war es damit wieder möglich, die Umgebung zu erkunden, und Hans Scholz, damals Feuilleton-Chef des Tagesspiegels, nutzte sie reichlich.
Am 8. August 1972, um 5.50 Uhr morgens auf dem Bahnhof Friedrichstraße, begann er seine erste Entdeckungsreise durch den unbekannten Osten, Auftakt zu noch vielen Fahrten in die Mark Brandenburg, auf den Spuren des großen Fontane. Mit auch zwischenmenschlich überraschenden Ergebnissen: Verband der West-Berliner mit Volkspolizisten sonst nur schroffe Unhöflichkeit und oft schikanöses Verhalten, so erlebte Scholz auf seinem ersten Ausflug die Vertreter des DDR-Staates als „allesamt manierlich, überwiegend freundlich, teils heiter. Im Ernst, es schien ihnen Spaß zu machen, Späße zu machen und im Dienst auch außerdienstlich ein bisschen zu palavern.“
Politische Entspannung deutete sich an, noch im Gewand einer gewissen Entspanntheit im persönlichen Umgang, von Grenzern erst praktiziert, 1973 dann anlässlich der Ost-Berliner Weltjugendfestspiele staatlich inszeniert. Nur noch ein Jahr dauerte es nun, bis in der Hannoverschen Straße 39 in Mitte die „Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR“ eröffnet wurde. Der „Wandel durch Annäherung“, erdacht vom ehemaligen Tagesspiegel-Redakteur Egon Bahr und umgesetzt vom ehemaligen Regierenden Bürgermeister Willy Brandt, begann sich zu entfalten.
Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.