Berliner Wirtschaft: Die Leiden der jungen Digital-Hauptstadt
Berlin gibt sich gerne als digitaler Vorreiter. Die Start-up-Szene gedeiht zwar prächtig, doch es fehlt bisher an einer politischen Strategie.
Eigentlich ist alles angerichtet: exzellente Forschungsinstitute, eine dynamische Gründerszene und eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Initiativen im Digitalbereich. Nirgendwo sonst in Deutschland gibt es vermutlich einen so enormen Wissenspool und so viel Know-how über die technologischen Umbrüche unserer Zeit. Und doch wird Berlin dem eigenen Anspruch – Digital-Hauptstadt zu sein – nicht in allen Bereichen gerecht.
Der Rahmen passt nämlich nicht immer zum selbst gezeichneten Bild. Das Potenzial, das in Berlin schlummert, wird nicht gänzlich ausgeschöpft, monieren Kritiker. Woran hakt es? Und wo ist Berlin Spitzenreiter?
Chef für Digitales fehlt in Berlin
Aufseiten der Stadtpolitik gibt es gleich mehrere Baustellen. Die öffentliche Verwaltung ist noch zu großen Teilen analog, die Smart City lässt auf sich warten und es fehlt jemand, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Digitalisierung, so sind sich viele Experten einig, muss Chefsache sein – doch dieser fehlt in Berlin im Gegensatz zu anderen Metropolen, die eigene sogenannte Chief Information Officers (CIO) haben.
Viele Spieler teilen sich deshalb das Feld. Sabine Smentek (SPD), Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Inneres, kümmert sich um die Modernisierung der IT in der Verwaltung. Frank Nägele (SPD), Staatssekretär in der Senatskanzlei, soll an der Smart City Berlin feilen. Und für den Unternehmenssektor ist Christian Rickerts, Ex-Wikimedia-Chef und Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe, zuständig. Auch im Gesundheits- und Kulturressort laufen eigene Digitalisierungsprojekte.
Beratungsunternehmen helfen bei Strategie
Dieser Flickenteppich aus zuständigen Stellen und Personen sorgt immer wieder für Unstimmigkeiten, auch wenn rein formal die Senatsverwaltung für Wirtschaft federführend verantwortlich ist. Erst zuletzt war die Aufregung wieder groß als netzpolitik.org ein Vertragspapier der Berater von Ernst & Young veröffentlichte. Darin erklärt das Unternehmen, wie der Prozess für eine Digitalstrategie, für die Staatssekretär Rickerts zuständig ist, aufgesetzt werden könnte. Viele Beteiligte waren irritiert, weil etwa zivilgesellschaftliche Akteure in diesem Dokument fehlen und der Fokus klar auf Wirtschaft und Unternehmen liegt.
Eine Kritik, die eine Sprecherin von Rickerts zurückweist: „Zivilgesellschaftliche Akteure sind definitiv das Asset Berlins und sind daher natürlich beteiligt.“ Bald würden „Fokusgruppen“ starten, in denen Ideen und potenzielle Projekte eingebracht werden können. Die erste im August mit „Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen und Forschungseinrichtungen“, wie die Sprecherin erklärt. „Das Land Berlin versteht sich als Gestalter der Digitalwende – lernend, ausgleichend und begleitend.“ Dass Beratungsunternehmen dafür gebraucht werden, sieht die Sprecherin als eine „durchaus übliche, zielführende und kosteneffiziente“ Maßnahme. Im zweiten Halbjahr 2020 soll der Prozess abgeschlossen sein und die Strategie stehen.
Smart City lässt warten
Für die Smart City – die Vision einer klugen und vernetzten Stadt – ist ein neues Konzept bereits fertig. Neben der Eröffnung des CityLAB Berlin, ein Diskussions- und Ideenraum für die Berliner Smart-City-Szene, ließ der zuständige Staatssekretär Nägele vor Kurzem die Berliner Smart-City-Strategie aus dem Jahr 2015 aktualisieren und reichte das neue Papier, das Tagesspiegel Background vorliegt und sechs Stadtgebiete digital gestalten soll, bei einem millionenschweren Förderprogramm des Bundesinnenministeriums (BMI) ein – ging dabei allerdings leer aus.
Auch andere Städte wie München oder Hamburg schafften es nicht auf die Siegerplätze des Wettbewerbs und die Ausschreibung lief nicht reibungslos ab (Tagesspiegel Background berichtete). Der Berliner Projektvorschlag sei aber so oder so chancenlos und nicht ausgegoren genug gewesen, heißt es aus dem Umfeld der Jury.
Bereits Anfang Mai knirschte es hinter den Kulissen gewaltig, als Ina Schieferdecker als Sprecherin des „Netzwerk Smart City Berlin“ zurücktrat und die Stadt damit eine ihrer führenden Smart-City-Expertinnen verlor. Vonseiten der Berliner Regierung gehe es zu wenig voran, Vorhaben würden zu langsam umgesetzt, bemängelten Kritiker aus Kreisen des Netzwerks damals.
Nägele kündigte jedenfalls an, das neue Smart-City-Papier zu großen Teilen selbst umsetzen zu wollen und hofft noch auf eine Finanzierungslösung. Was allerdings schwierig werden könnte, da der Senatsentwurf für den Doppelhaushalt für die nächsten beiden Jahre bereits auf dem Tisch liegt. Im Herbst muss der Vorschlag noch in den zuständigen Ausschüssen des Berliner Abgeordnetenhauses diskutiert werden, bevor er Ende des Jahres beschlossen wird.
Zu wenig Geld für die Verwaltungsreform
Viel hängt generell am Geld. Der Haushaltsentwurf frustete nämlich aus einem anderen Grund viele Digitalpolitiker – auch innerhalb der rot-rot-grünen Regierungskoalition. Staatssekretärin Smentek hatte 600 Millionen Euro beantragt, um laufende IT-Projekte zu beschleunigen und das 2016 noch unter Rot-Schwarz beschlossene E-Government-Gesetz einzuhalten. Bekommen hat sie nicht einmal die Hälfte. „Rot-Rot-Grün muss mutiger Geld in die Hand nehmen, um die selbst gesteckten digitalen Ziele zu erreichen. Der Doppelhaushalt ist in dieser Hinsicht eine Enttäuschung“, ärgert sich Bernd Schlömer, Digitalisierungssprecher der FDP in Berlin.
Unter anderem geht es dabei um drei große Vorhaben: die flächendeckende Einführung einer elektronischen Akte (E-Akte) bis 2023, die Umstellung Zehntausender Rechner auf Windows 10 bis Jahresende und die sogenannte „Migration“ in das IT-Dienstleistungszentrum Berlin (ITDZ). Damit ist eine einheitliche Administration aller verwaltungsinternen IT-Geräte gemeint.
Herzstück ist dabei der sogenannte „BerlinPC“: Mitarbeiter der Verwaltung können sich durch diese standardisierten Rechner dann erstmals von überall aus einloggen, weil ihre Arbeitsprogramme und Daten in einer Cloud des ITDZ liegen. Bei allen drei Projekten gibt es aktuell schon Probleme, die durch eine Unterfinanzierung weiter verschärft werden könnten.
Berlin klare Start-Up-Hauptstadt
Exzellent ist allerdings der Wissenschaftsstandort, wie gerade auch wieder der Erfolg der drei Universitäten beim Exzellenzwettbewerb des Bundesforschungsministeriums zeigte. Bis zu 28 Millionen Euro an Fördermitteln pro Jahr erhalten die Hochschulen und die Charité. Gerade im Digitalbereich hat sich auch einiges getan, so wurden 2016 mit der Gründung des Einstein Center Digital Future 50 neue IT-Professuren geschaffen, von denen allerdings noch nicht alle berufen sind.
Im privaten Bereich ist die Dynamik ebenfalls enorm. Langsam wird es sogar schwer, den Überblick zu behalten. Denn mit Getyourguide, N26, Signavio, Friday, WeFox und Raisin haben in diesem Jahr bereits sechs Berliner Start-ups jeweils über hundert Millionen Euro an zusätzlichem Wagniskapital erhalten. Noch vor wenigen Jahren gab es ein bis zwei solcher großen Finanzierungsrunden pro Jahr, inzwischen erfolgt die gleiche Zahl an Meldungen oft in einem Monat. Zusammen haben die genannten Start-ups 1,3 Milliarden Euro gesammelt, das sind jetzt schon 50 Prozent mehr, als alle bayerischen Start-ups im gesamten Vorjahr erhalten haben.
Im ersten Halbjahr 2019 erhielten Berliner Start-ups generell 76 Prozent des gesamten in deutsche Start-ups investierten Risikokapitals, wie aus dem aktuellen Start-up-Barometer von Ernst & Young hervorgeht. Damit bestätigt Berlin einmal mehr seinen Ruf als unangefochtene deutsche Start-up-Hauptstadt, auch in Europa ist nur London diesbezüglich noch attraktiver.
Im Zeitraum 2008 bis 2017 entstanden insgesamt 47.397 neue Arbeitsplätze in der Berliner Digitalwirtschaft, errechnete die landeseigene Investitionsbank Berlin (IBB) Ende des Vorjahres. Das entspricht einem durchschnittlichen jährlichen Zuwachs von knapp neun Prozent. Jeder siebte neue Job in Berlin entsteht demnach in der Digitalbranche.
Auch zahlreiche Konzerne wie Volkswagen, Daimler oder die Metro siedeln inzwischen große Entwicklungs- und Innovationsabteilungen in Berlin an. Siemens plant derzeit mit der Siemensstadt 2.0 einen ganzen Campus für 600 Millionen Euro. Selbst Amazon leitet seine Aktivitäten im Bereich Maschinelles Lernen aus Berlin.
Doch obwohl die Digitalwirtschaft floriert und von seiner Bedeutung inzwischen die Industrie überholt hat, ist das Verhältnis zur Politik auch hier nicht immer einfach. Ignoranz und Desinteresse hatte Florian Nöll, der scheidende Vorsitzende des deutschen Start-up-Verbandes, im Vorjahr Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) vorgeworfen. Eine teils mangelnde Breitbandversorgung, Bürokratie beispielsweise bei der Anstellung von neuen Mitarbeitern aus dem Ausland und zunehmend auch Schwierigkeiten geeignete, günstige Büroflächen zu finden, sind Probleme, die viele Jungunternehmen umtreiben.
Im vergangenen Juli kam es dann zu einem ersten klärenden Gespräch und SPD-Politiker Michael Müller lud zu einem runden Tisch mit Vertretern der Branche. Christoph Stresing, der neue Geschäftsführer des Start-up-Verbands, sagt: „Das war ein guter Anfang, aber am Ende zählen die Ergebnisse.“ Mitarbeit: Oliver Voß