Gründer in der Hauptstadt: Berliner Start-up-Szene attackiert den Senat
Der Verbandschef schreibt einen Brandbrief an Bürgermeister Michael Müller. Der Vorwurf: Gründer würden ignoriert und aus der Stadt vergrault.
Fragt man Start-ups, was sie sich von der Politik wünschen, lautet die Antwort fast immer: Sie solle sich möglichst heraushalten und die Jungunternehmer einfach machen lassen. Demnach könnte Michael Müller eigentlich als Vorzeigepolitiker gelten, denn in den Augen des Bundesverbandes Deutsche Start-ups glänzt Berlins Regierender Bürgermeister durch Ignoranz gegenüber der Szene.
Am besonderen Interesse des Berliner Senats für die Gründerszene liege es jedenfalls nicht, dass sich Berlin zum europäischen Start-up-Epizentrum entwickelt habe, schreibt Verbandschef Florian Nöll süffisant in einem Brief an Müller, der dem Tagesspiegel vorliegt.
Senat ignoriert Digital-Experten vor der Tür
Denn Nöll hat inzwischen von der Politik des Senats genug. „Start-ups werden schlicht und ergreifend ignoriert“, schimpft er in seinem Brief an den Regierenden. Und das in vielerlei Hinsicht. Egal ob es um die Digitalisierung der Verwaltung oder Mobilitätsgipfel und neue Verkehrsangebote geht: „Der Bürgermeister müsste nur das Rathaus verlassen und hätte vor der Tür Tausende Digital-Experten“, sagt Nöll. Stattdessen setze der Senat auf Großunternehmen wie Microsoft, Daimler & Co. „Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, wir müssen reden“, heißt es in dem Schreiben.
Doch auf ein Gespräch mit dem Bürgermeister warten die Start-up-Lobbyisten seit dessen Amtsantritt. Damals hatten sie Müller noch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Start-up-Bürgermeister“ überreicht. Doch so würde Nöll ihn heute wohl nicht mehr bezeichnen. Immerhin hat Müller bereits reagiert, es soll zeitnah ein Treffen geben. "Die schnelle Antwort macht Hoffnung", schreibt Nöll auf Twitter.
In seinem Brief wirft er Müller nicht nur Ignoranz und Desinteresse vor, sondern gar „Gründer und Jungunternehmen aus der Stadt zu vergraulen“. Denn die Zeiten, in denen Gründer schicke Lofts in Innenstadtlage für wenig Geld beziehen konnten, sind längst vorbei. Wenn eine Idee zündet, die Unternehmen wachsen und auf einmal 100 Mitarbeiter und mehr beschäftigen, sei es enorm schwer, geeignete Büroflächen zu finden, klagen viele Gründer. Nicht jeder kann sich eben einfach ein eigenes Viertel bauen, wie gerade Zalando zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße.
Umzug wegen schlechter Internetverbindung
Ein weiterer Kritikpunkt und ein Problem bei der Standortsuche sind die auch in Berlin oft dürftigen Internetverbindungen. Wegen des schlechten Netzes musste das auf Technologiefirmen spezialisierte PR-Unternehmen Clarity im Vorjahr aus dem Büro in der Auguststraße in Mitte ausziehen. Und als der Online-Brillenhändler Mister Spex sein Logistikzentrum am Siemensdamm eröffnete, ließ das Start-up selbst Glasfaser verlegen, um vernünftig mit der Zentrale im Prenzlauer Berg kommunizieren zu können.
Neben einem fehlenden Konzept für bezahlbaren Wohn- und Gewerberaum kritisiert der Verband auch die Verwaltung. Jeder zweite Mitarbeiter in Berliner Startups kommt inzwischen aus dem Ausland. Die Hälfte der Jungunternehmen beklagte im jüngsten Start-up-Monitor jedoch die bürokratischen Hürden vor allem für ausländische Mitarbeiter. Der Start-up-Verband forderte daher schon von Müllers Amtsvorgänger Klaus Wowereit, Verwaltungsdienstleistungen auch auf englisch anzubieten. Getan hat sich wenig.
Nöll staunte daher nicht schlecht, als Wirtschaftssenatorin Ramona Pop den Senat kürzlich auf einer Start-up -Konferenz dafür rühmte, dass die Gewerbeanmeldung inzwischen in sechs Sprachen zur Verfügung stünde. „Schon ihren Vorgängerinnen haben wir immer wieder erklärt, dass ein Formular in deutscher Sprache, das in deutscher Sprache ausgefüllt werden muss, kein mehrsprachiges Angebot wird, nur weil man einige Ausfüllhinweise in anderen Sprachen anbietet“, schreibt er daher nun an Müller.
„Die Bürokratie ist ein Albtraum“
Auch Travis Todd stimmt ihm zu. Der Amerikaner zog 2007 nach Berlin und startete mit Freunden „Silicon Allee“, den ersten englischsprachigen Blog über die hiesige Start-up-Szene. Heute betreiben sie mit Partnern unter dem Namen einen eigenen Tech-Campus in Mitte. „Die Bürokratie ist ein Albtraum“, sagt Todd. Und das gelte nicht nur für die Gründung.
Er selbst schlägt sich seit sechs Jahren damit herum, seine erste hiesige Firma wieder endgültig zu schließen. „Man muss Unternehmern beim Scheitern helfen“, sagt Todd. Schließlich sind die erfolgreichsten Gründer oft solche, die zuvor schon zwei, drei Mal mit ihrer Idee daneben lagen. Doch wer in Berlin scheitere, werde allein durch die folgenden Behördengänge abgeschreckt, es je wieder zu versuchen.
Szenekenner Todd beobachtet zudem, dass andere Städte, von Budapest über Paris bis Lissabon massiv um Start-ups werben. „Wenn Berlin auf seinem hohen Ross nicht aufpasst, riskiert es, den Spitzenplatz zu verlieren“.