Berlin will zehn Geflüchtete aus Griechenland aufnehmen: Der einzige Draht zu den Eltern ist das Handy
Der Bund will 50 minderjährige Geflüchtete aus den Elendslagern auf den griechischen Inseln retten. Zehn sollen auch nach Berlin kommen.
Über kaum eine Gruppe junger Menschen wird so viel geredet wie über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, im Behördenkürzel UMF genannt. Und kaum eine Gruppe junger Menschen in Berlin lebt so von der Öffentlichkeit abgeschirmt, wegen des Persönlichkeitsschutzes – sodass die meisten Hauptstädter wenig mitbekommen von Leben, Freuden, Ängsten und Entwicklungen der Kinder und Jugendlichen ohne Eltern in einer zunächst völlig fremden Welt. Sie alle haben in ihren jungen Jahren schon mehr erlebt, als sich ein Erwachsener vorstellen kann.
Jetzt will Deutschland im Rahmen einer europäischen Lösung „im ersten Schritt“ 50 minderjährige Geflüchtete aus den Elendslagern auf den griechischen Inseln retten – zehn sollen nach Berlin kommen – die Stadt hatte allerdings schon angegeben, 50 sofort und bis zu 300 durch Krieg, Krisen und Flucht schwer traumatisierte junge Menschen aufnehmen zu können, denen das Berliner Jugendhilfesystems positive Entwicklungsperspektiven bietet. Die Stadt hat da Erfahrung.
Wie fing für Berlin alles an?
In den ersten beiden Willkommensjahren der Flüchtlingskrise 2015/16 nahm Berlin bereits 5633 Kinder und Jugendliche auf. Die meisten von ihnen absolvierten die Tausende Kilometer weite Flucht etwa aus Afghanistan zu Fuß, finanzierten die Schlepperkosten über Tagelöhnerei oder Kinderarbeit in der Türkei. Ihre Eltern wünschten ihnen ein besseres Leben in Sicherheit und mit hoffentlich bester Versorgung in Deutschland.
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Jugendliche schlossen sich auf der Balkanroute mit anderen zusammen. Bei den Kindern anderer Herkunftsländer, vor allem Syrien, oder bei Palästinensern, schickten die Eltern zumeist einen der älteren und willensstärksten Söhne los, oft mit Bekannten, Cousin oder Onkel – auch, um später selbst über den Weg der Familienzusammenführung nachzukommen. Für die ganze Familie reicht das Geld für die Flucht oft nicht.
Die Balkanroute Syrien-Deutschland dauerte damals mit Fußmarsch durch die Türkei, Schlafen auf der Straße und Überfahrt in kippenden Yachten, sinkenden Schlauchbooten von der Türkei nach Griechenland im Idealfall gut vier Wochen.
Wie viele kamen zuletzt hierher?
Nach Auskunft von Iris Brennberger, Sprecherin der Senatsjugendverwaltung, erreichten 2019 insgesamt 719 minderjährige Migranten und Geflüchtete Berlin. Dazu kamen 23 Familienzusammenführungen junger Menschen nach Dublin III und 18 Fälle, in denen die Inobhutnahmen von begleiteten Minderjährigen geprüft wurde.
Das bedeutet, auch unabhängig von der jetzigen humanitären Aufnahme einiger weniger junger Menschen in Not, erreichen Berlin jeden Tag zwei bis drei Kinder und Jugendliche ohne Eltern auf der Flucht. Sie werden teils versteckt in Autos oder Lkw vom Festland im südlichen Europa bis in die Stadt gefahren.
Im März 2020 wurden in Berlin 42 junge Menschen neu als unbegleitete minderjährigen Geflüchteten registriert – das waren so viele wie im Dezember 2019. Zwischen 2017 und 2019 waren es jedes Jahr um die 900, die in Berlin ankamen.
Was war das alte Zuhause?
2019 waren die Hauptherkunftsländer laut Angaben Afghanistan (125 junge Menschen), Guinea (78), Gambia (70), Vietnam (63) und Syrien (54). Im Januar 2020 kamen aus Afghanistan elf. Sechs gaben an, aus Guinea zu kommen, je fünf aus Gambia und Vietnam, aus der Russischen Föderation und aus Syrien stammten je vier ohne Mutter und Vater. Kontakt wird meist über WhatsApp gehalten.
Wie ist das mit dem Alter?
Die meisten unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sind Jugendliche. Laut Zahlen der Jugendverwaltung erreichten 2019 insgesamt 16 Kinder unter fünf Jahren die Stadt ohne Eltern (2020: 2). 93 zwischen sechs und 13 Jahren waren ohne Eltern unterwegs (6). Dazu kamen 272 Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren (24) sowie 379 Siebzehnjährige (23). Die Angabe „ungeklärtes Alter“ gab es 2019 einmal, 2020 zuletzt keinmal.
Warum sich jünger machen?
Wie Altersuntersuchungen und Erfahrungen der ersten fünf Fluchtkrisen-Jahre ergaben, versuchen sich etliche der ohne Eltern Geflüchteten jünger zu machen als sie sind.
Das hat mehrere Gründe: Wer unter 18 ist, darf nicht abgeschoben werden – aber im Idealfall Verwandte ersten Grades und, in der Regel, nur die minderjährigen Geschwister nach Berlin nachholen.
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Da der ganze Prozess und das Asylverfahren mehrere Jahre dauert und auf jeden Fall vor dem 18. Lebensjahr begonnen worden sein muss, ist jüngeres Alter von Vorteil. Auch für eine Bleibeperspektive über mehrere Jahre durch Integration selbst ohne Asylgewährung.
Zudem kommen Minderjährige in die Jugendhilfe – das bedeutet eine umfassendere Unterbringung und Betreuung als in den Gemeinschaftsunterkünften der Erwachsenen. Und jeder muss einen Vormund gestellt bekommen, von Amts wegen, von einem Verein. Oder es ist ein Ehrenamtlicher: Sie übernehmen für Minderjährige das Asylverfahren, und, auch anstelle der Eltern, die Gesundheitssorge, Schulentscheidungen, Finanzen, sie haben das Aufenthaltsbestimmungsrecht und sind wichtige Bezugspersonen.
Was passiert nach der Ankunft?
Alle jungen Menschen ohne Eltern hier – und dann auch nach Berlin verteilte, kommen automatisch zunächst in die Zuständigkeit des Landesjugendamtes. Zentrale Erstaufnahmestelle ist im Normalfall die Einrichtung der FSD Stiftung in Steglitz. Dort findet die Clearingphase statt – also die Identitätsklärung, Gesundheitsuntersuchung, Schulplatzsuche, Nachfragen, ob die Familie nachfolgen will.
Im Anschluss werden die Unbegleiteten dann nach Geburtstag in die Zuständigkeit der bezirklichen Jugendämter weitergegeben. Die jetzt humanitär aus Griechenland geholten UMF werden erst in Quarantäne und auch medizinisch und psychologisch betreut werden müssen.
Zum Stichtag 9. Dezember 2019 waren in Berlin jetzt aktuell insgesamt 841 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gemeldet. 58 der minderjährigen Kinder und Jugendlichen waren noch in Zuständigkeit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, 783 bereits in Zuständigkeit der Bezirke.
Was ist jetzt anders als früher?
Die Mehrheit der jungen Menschen ist jetzt sogar über Monate oder Jahre allein auf der Flucht und in Dreck und Elend gewesen und so oft mehrfach traumatisiert. Viele haben Zustände wie Angst, Missbrauch, Terror, Hunger, Gewalt, Einsamkeit, Prostitution, Ausschreitungen, Suizidgedanken und Feuer, ohne Schutz eines Erwachsenen, miterlebt – also hohen Betreuungsbedarf.
Auch Sicherheitsüberprüfungen – wer könnte aus Krieg und Terror als Eltern nachfolgen? – sind wichtig.
Was bereiten die Experten vor?
Die Berliner Jugendhilfe steht bereit. Senatorin Sandra Scheeres (SPD) sagt, „die Situation in den Geflüchtetenlagern in Griechenland ist entsetzlich. Kinder sind besonders schutzlos und brauchen unsere Hilfe. Wir können trotz der Corona-Vorschriften sofort 50 unbegleitete Kinder aufnehmen und medizinisch versorgen. Hierzu hat meine Senatsverwaltung mit zwei Kliniken Absprachen getroffen.
Berlin hat in den vergangenen Jahren wertvolle Erfahrung gesammelt. Es gibt gut funktionierende Strukturen, die wir nutzen können.“ Die migrationspolitische Sprecherin der Grünen, Bettina Jarasch, sagt, nun 50 Kinder nach Deutschland zu holen, könne nur ein erster Schritt bleiben: „Es gibt auch in Deutschland eine Koalition der willigen Bundesländer, da geht deutlich mehr.“
Das Berliner Netzwerk Vormundschaften steht mit zwei Dutzend erfahrener Ehrenamts-Vormünder bereit. Es gibt Traumatherapeuten, Übersetzer, allerdings hoch ausgelastet. Engagierte Berliner denken auch an europaweite Patenprojekte.
Was Zuwendung bewegen kann
Die Erfahrungen zeigen, dass professionelle und engagierte Bezugsbetreuer, Pflegestellen oder Pflegeeltern die jungen Menschen stabilisieren und in ein neues erfülltes Leben führen können. Hunderte Tagesspiegel-Leserinnen und -Leser haben sich nach Berichten seit 2015 als ehrenamtliche Vormünder oder Pflegeeltern qualifiziert: frühere Analphabeten machen Ausbildungen, planen das Abitur. Sie sind Klassik-Fans – oder Schauspieler etwa im Stück „Futureland“ im Gorki-Theater geworden. Einige afghanische Pflegekinder sind adoptiert.
Ganz normale Jungs, die mit viel Humor und Resilienz im persönlichen Umgang viel Freude und Glück bedeuten, so die Erfahrung vieler. Andere kämpfen mit dem Schicksal, nicht immer geht alles gut. Wenn die Familie nach Jahren nachkommt, sind die UMF jedenfalls gereifte Berlinkenner, Deutschland-Experten, oft Dolmetscher, dann teils als Kind auch in der Rolle des Familienvorstands.