Kinderpsychologin zu Lage im Camp Moria: „Zweijährige reißen sich ihre Haare aus“
Katrin Glatz-Brubakk von „Ärzte ohne Grenzen“ kennt die Traumata der Jüngsten. Wir trafen die Kinderpsychologin im Camp Moria - und bitten um Spenden.
Mit weinenden Kindern auf dem Schoß sitzen Mütter und Väter in der Warteschlange entlang der Straße zum Flüchtlingslager Moria. Auf der Ägäisinsel Lesbos nahe der Türkei betreibt „Ärzte ohne Grenzen“ mit Deutschlandsitz in Berlin bewusst außerhalb des übervollen Camps mit dem improvisierten Zeltlager drum herum eine für jeden gut erreichbare Kinderklinik. Das Areal ist umzäunt, behandelt wird in Containern.
Katrin Glatz-Brubakk kommt aus Norwegen, aber die 49-Jährige spricht Deutsch, ihre Mutter stammt aus Braunschweig. Im Behandlungsraum mit Kinderspielzeug schließt sie die Tür, sie kennt die Lage im überfüllten Lager seit Jahren: ein Dasein in Stofffetzen, im Chaos, ohne Struktur, mit Streit, Gewalt und Hunger. Hier im Raum ist es still.
Annette Kögel sprach mit der einzigen klinischen Kinderpsychologin für potenziell 4000 traumatisierte Kinder und Jugendliche im „Horrorlager“ mit 13.000 Bewohnern. Konzipiert ist es für 3000 Menschen. Wenige Stunden nach der Rückreise der Ärztin bricht in Moria ein Feuer aus, es gibt Unruhen, dazu folgt ein Update-Telefonat.
Frau Glatz-Brubakk, worunter leiden Ihre jungen Patienten?
Die Kinder und Jugendlichen kommen durch Krieg und Flucht schon teils mehrfach traumatisiert ins Camp. Die Lebensbedingungen hier machen sie noch kränker. Ich erlebe ganz kleine Kinder, bis zu Zweijährige, die sich selber beißen oder sich Haare ausreißen, weil sie so traumatisiert sind, dass sie nicht mehr wissen, wohin mit sich und ihren Gefühlen. Es sind Kinder, die sich total unreguliert verhalten. Manche schlagen den Kopf gegen die Wand.
Kinder erleben hier Erwachsene in Panik, die verzweifelt herumrennen, und sie erinnert das an Krieg. Sie halten ihren Eltern vor: Wir kommen aus dem Krieg, warum hast du mich wieder in den Krieg gebracht? Das Feuer mit einer Toten und mehreren Verletzten hat die Unsicherheit noch verstärkt, jetzt schlafen einige unserer Patienten lieber direkt auf der Straße als im Lager, weil sie solche Angst haben.
Die Kinder erleben Retraumatisierungen, schreckliche Erfahrungen kommen wieder hoch und spielen sich ab wie ein Film. Ich rede auch immer wieder mit Jugendlichen, die sich mit Zigaretten brennen oder sich mit Messern aufschneiden. Leider kommen Suizidversuche schon bei jungen Leuten vor. Wenn sie mir ihre Geschichten erzählen, kann ich das Leid sehen, hören, spüren.
Der Winter naht, da wird alles noch härter. Die Teppiche, Plastikplanen und Wolldecken waren vergangenes Jahr verschneit.
Wir behandeln dann natürlich oft Patienten mit Unterkühlungen, Infektionskrankheiten, auch mit Schnittwunden oder Hauterkrankungen. Einmal sind eine Großmutter und ihr Enkel im Winter durch ein Feuer gestorben, weil sie versucht haben, das eiskalte Zelt mit einem Feuer aufzuwärmen.
Im Camp haben mir Mütter gesagt, sie bereuten es, trotz der Verfolgung etwa in der Demokratischen Republik Kongo, von zu Hause weggegangen zu sein. Aber die Schlepper machten Versprechungen – und alle Eltern wollen eine bessere Zukunft für ihre Kinder.
Ja doch, das hören wir immer wieder. Die Menschen sind aber geflüchtet, weil sie mussten. Entweder weil die Lebensbedingungen so schlecht waren oder weil ihr Leben bedroht wurde oder weil ihre Kinder schwer krank waren und sie irgendwie Hilfe brauchten. Viele sagen sogar, dass sie lieber mit einer Bombe schnell tot wären, statt hier langsam zu sterben. Denn die Bedingungen sind haarsträubend schlimm.
Es ist immer wieder auch in Moria von sexualisierter Gewalt die Rede, gegen Erwachsene, aber auch von Vergewaltigungen von Mädchen und Jungen, auch durch Grenzbeamte und Schlepper. Kennen Sie solche Fälle aus Ihrer Sprechstunde?
Ja, so etwas gibt es, wir wissen, dass es passiert. Aber wir haben keine exakten Daten, leider. Manchen Eltern ist es auch unangenehm oder sie haben Angst, solche Fälle zu melden.
Unterschiedliche Kulturen pflegen auch unterschiedliche Tabus.
Natürlich sind es viele unserer Patienten nicht so gewohnt, zum Psychologen zu gehen, wie wir vielleicht. Aber alle Mütter und Väter machen sich um ihre Kinder Sorgen. Wenn sie sehen, dass die Kinder nicht schlafen können, wenn sie nicht essen, wenn sie nicht mehr reden, wenn sie nicht mehr spielen, wenn sie Albträume haben, kommen sie zu uns, denn sie wollen ja das Beste für ihre Kinder, das ist so, egal woher sie kommen.
In dem umzäunten früheren Militärgelände – mit Löchern im Zaun – leben auch nahezu 1000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Migranten, die alleine oder etwa mit dem älteren Cousin unterwegs sind. Manche sind von den Eltern für den Familiennachzug geschickt. Wie geht es diesen jungen Patienten?
Die unbegleiteten Minderjährigen sind natürlich allem noch mehr ausgesetzt. Sie haben ein größeres Risiko, unterwegs missbraucht zu werden. Und sie sind traumatischen Erlebnissen stärker ausgesetzt, denn sie haben keinen Erwachsenen, der ihnen erklären kann, was los ist, und sie haben natürlich auch hier in dem Lager niemanden, zu dem sie gehen können, wenn sie unruhig oder traurig sind oder Trost brauchen. So gesehen sind sie natürlich viel mehr gefährdet, psychische Störungen zu erleiden, als andere Kinder.
Wir haben etliche von ihnen auch bei uns, aber die Symptome sind mehr oder weniger die gleichen wie bei anderen Kindern und Jugendlichen. Sie sind aber verstärkt, weil die Flüchtlinge oder Migranten allein eben diese soziale Unterstützung, die man normalerweise von Eltern kriegen sollte, nicht mehr haben. Dabei brauchen sie jemanden, der sich um sie kümmert, statt des Gefühls, ständig bedroht oder in Gefahr zu sein.
Wie stärken Sie sich selbst für Ihre schwere Aufgabe in Moria?
Hier zu arbeiten, gibt mir persönlich auch viel, denn ich treffe viele starke Menschen, die dann aus sich selbst schöpfen können. Wenn ich zum Beispiel ein Kind eine Weile getroffen habe und es dann nicht mehr so ängstlich ist und es wieder lachen und spielen kann, dann ist es ein wunderschönes Gefühl, zu sehen, dass diese Ressourcen und diese Möglichkeiten wieder aufgerichtet werden – was früher nicht mehr da war, wegen der Umstände. Zudem unterstützt mein Freundeskreis meine Einsätze auf Lesbos. Manche sind auch selber hergekommen, nachdem sie gehört haben, dass das Bedürfnis nach Hilfe so groß ist, und ja, ich kriege nur positive Rückmeldungen. Wenn mich dann, wieder zurück in Trondheim, Menschen ansprechen und wir in die Tiefe gehen, merke ich natürlich auch, dass mir alles sehr nahegeht, und mir kommen dann auch mal die Tränen.
Die griechischen Behörden stellen hier im größten Flüchtlingslager Europas gerade zwei Ärzte. Sie, Frau Glatz-Brubakk, sind dank Ihrer Hilfsorganisation offensichtlich die einzige klinische Kinderpsychologin. Ärzte ohne Grenzen hat in Moria regelmäßig zwei Ärzte im Einsatz und sechs Krankenschwestern. Wie arbeiten Sie genau mit den Kindern?
Ja, ich bin die einzige Kinderpsychologin, für ungefähr 4000 Kinder im Camp, aber meine Kollegen helfen ja auch mit, es arbeiten noch drei Psychologen in unserer Klinik. Wir haben auch zwei Hebammen, Schwangere können im Krankenhaus entbinden. Es leben Menschen mehrerer Dutzend unterschiedlicher Nationalitäten unter schwierigsten Umständen auf engem Raum unter unmenschlichen Verhältnissen – von Ärzte ohne Grenzen stehen uns etwa 13 Übersetzer und Dolmetscher zur Seite.
Das Wichtigste ist, den Kindern einen Raum zu geben, wo sie sich sicher fühlen. An dem sie spielen können, denn das Spiel bietet, therapeutisch gesehen, drei Dinge: Kinder können die Welt da draußen vergessen und entspannen. Sie können sich entwickeln und lernen. Und sie können ein Trauma verarbeiten, wenn beispielsweise böse Tiere den lieben Tieren etwas antun – so lassen Sie mich in ihre Gefühlswelt hinein.
Wie lange sind Sie schon auf der Insel im Camp Moria? Sie kommen immer wieder...
Ich bin seit 1. Juni hier, also vier Monate. Ich bin aber schon zum siebten Mal auf Lesbos. Zum ersten Mal war ich im August 2015 hier und habe die ganze Entwicklung dieser Flüchtlingssituation miterlebt. Die ersten sechs Male habe ich Urlaub genommen, um hier arbeiten zu können. Für mich ist der Einsatz eine Verpflichtung. In dem Sinne, dass ich unheimlich Glück hatte, in Norwegen geboren zu sein, mit starken Eltern. Ich habe alles mitbekommen, um ein gutes Leben zu führen, und ich fühle die Verpflichtung, etwas zurückzugeben.
In Norwegen arbeite ich an der Uni in Trondheim und unterrichte klinische Kinderpsychologen. Jetzt bin ich von Ärzte ohne Grenzen eingestellt und wurde freigestellt von der Uni. Ich bekomme ungefähr ein Viertel meines Gehaltes, was ich sonst zu Hause verdiene, aber das ist nun wirklich nicht wichtig. Wir sind alle hier, weil wir engagiert sind, und wir sehen ein Leiden, worauf wir einfach reagieren müssen.
Der griechische Campleiter hat aufgegeben. Was würden Sie sich wünschen, damit sich die Bedingungen verbessern?
Egal was wir hier machen, es ist nur ein kleines Pflaster auf einer großen Wunde. Wir können jedem Einzelnen helfen, wir können unterstützen, wir können jenen, die es besonders brauchen, dabei helfen, irgendwo anders zu wohnen. Ich kann Therapie anbieten, aber es ist immer noch ein kleines Pflaster auf einer riesigen Wunde. Dies ist ein politisches Problem, es muss politisch gelöst werden.
Viele Menschen in Deutschland warnen nach vier Jahren der Flucht- und Migrationsbewegung, wir könnten nicht allen helfen, wir könnten nicht die ganze Welt aufnehmen. Die Griechen auf der Insel sagen, mit all den vielen Milliarden Euro Flüchtlingshilfen Europas müsste man doch in den Ländern selbst solche Lebensbedingungen herstellen können, dass die Menschen erst gar nicht fliehen müssen.
Schön wär’s. Aber es ist nicht so. Und solange wir das nicht schaffen, sind die Menschen hier, und die große Frage, für mich und für Ärzte ohne Grenzen, ist ja nicht hauptsächlich, wie man das schafft, welches Land wie viele aufnimmt oder wo sie hinsollen, sondern dass sie jetzt Bedingungen haben, wo sie hier sind, die nicht schädlich wirken. Es ist schädlich für Kinder, in Moria zu leben, sie werden kränker, jeden Tag, an dem sie hier wohnen. Wir müssen ihnen Bedingungen geben, die nicht alles schlimmer machen, und es muss medizinische Hilfe geben, psychologische Hilfe für alle, die es brauchen. Es braucht Struktur, Vorhersehbarkeit, Sicherheit, Verlässlichkeit, das brauchen Traumatisierte zur Stabilisierung.
Haben Sie das Gefühl, dass die EU mit den Zuständen Migranten abschrecken will?
Was die Motivation der EU ist, weiß ich nicht, wir sind eine medizinische Organisation und haben darauf den Fokus. Aber das hier eine Änderung kommen muss, das ist ganz klar.
Ärzte ohne Grenzen: So können Sie mitarbeiten oder spenden
Der Verein Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) hat seinen Deutschlandsitz Am Köllnischen Park 1 in Mitte. Derzeit sind 22 Berlinerinnen und Berliner mit Ärzte ohne Grenzen weltweit im Einsatz. Insgesamt arbeiten 126 deutsche Ärzte, Hebammen, Pflegende und Logistiker derzeit etwa in Ländern wie Afghanistan, Bangladesch, Weißrussland, Kamerun, Indien, Indonesien, Jordanien, Kenia, Libanon, Libyen, Malawi, Mexiko, Mosambik, Myanmar, Palästinensische Autonomiegebiete, Philippinen, Syrien, Tadschikistan, Tunesien, Venezuela, Jemen. Man kann sich nicht speziell für einen Ort wie etwa Moria auf Lesbos bewerben, es geht nach Bedarf. Mehr Informationen im Netz unter der Adresse: aerzte-ohne-grenzen.de/mitarbeiten/projekt
Spenden sammelt Ärzte ohne Grenzen nicht zweckgebunden und verteilt nach Bedarf: IBAN: DE72 3702 0500 0009 7097 00, BIC: BFSWDE33XXX, Verwendungszweck: Stichwort Tagesspiegel