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Denk ich an Deutschland. In „Futureland“ am Gorki-Theater spielen junge Geflüchtete ihr Leben.
© Langkafel/promo
Update

Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge: Zwei Kinder kommen täglich alleine nach Berlin

In Berlin leben etwa 850 minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern. Teils ist die Jugendhilfe überfordert. Es gibt aber viele Erfolgsgeschichten.

Welche Situation führt Eltern dazu, ihr Kind in ein fernes Land zu schicken? Was bringt einen Teenager dazu, allein eine gefahrenvolle und womöglich tödliche Reise anzutreten? Einblicke in das Leben von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) gibt jetzt das erfolgreiche Theaterstück „Futureland“, in dem auch 2020 einige Jugendliche ihre Lebensgeschichten selbst auf die Bühne des Gorki-Theaters in Mitte bringen. Ihre Familien hoffen auf ein besseres Leben für ihre Kinder, aber auch darauf, ihnen nachfolgen zu können, um der Perspektivlosigkeit in der Heimat zu entkommen. Von der Öffentlichkeit relativ unbemerkt, kommen auch in Berlin weiter jeden Monat 40 bis 80 zumeist Jugendliche, aber auch Kinder unter 14 Jahren, in der Erstaufnahme und Clearingstelle der Stiftung zur Förderung sozialer Dienste (FSD) an.

Junge Flüchtlinge allein: Vom Leben bekommen viele kaum etwas mit

Das sind zwei bis drei junge Menschen am Tag, die Berlin etwa versteckt von Schleppern in Lkw erreichen. Sie haben teils eine monate- oder jahrelange, oft traumatisierende Reise hinter sich. Im offiziellen Sprachgebrauch heißen sie „unbegleitet“, oft wird aber der stärkste Sohn einem Cousin oder Bekannten mitgegeben. Oder Jungs finden sich auf dem Weg als Schicksalsgemeinschaft. Auch das Leben der zum Stichtag 9. Dezember 2019 insgesamt 841 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Berlin spielt sich meist im Stillen ab, in die Wohngruppen kommen Presse oder Ehrenamtliche wegen des Persönlichkeitsschutzes kaum herein. Und gibt es keinen ehrenamtlichen Vormund, der die Elternrechte persönlich engagiert vertritt, so fallen Missstände und Erfolgsgeschichten nicht auf.

Minderjährige Flüchtlinge brauchen Rituale, Halt und Stabilität

Für Jugendhilfeeinrichtungen und auch Berlins etwa 50 Pflegeeltern, die junge Flüchtlinge aufgenommen haben, ist die dringendste Aufgabe, ihre Schützlinge zunächst zu stabilisieren: Sicherheit vermitteln, Verlässlichkeit ausstrahlen, Halt geben. Laut Iris Brennberger, Sprecherin der zuständigen Senatsjugendverwaltung, sind die zehn häufigsten Herkunftsländer 2019 in alphabetischer Reihenfolge: Afghanistan, Gambia, Guinea, Guinea-Bissau, Irak, Russische Förderation, Syrien, Tunesien, Ukraine, Palästinenser aus dem Libanon, und Vietnam. Egal, woher die Kinder und Jugendlichen kommen - es bilden sich schnell familiäre Gefühle, über anfängliche Sprachbarrieren und Landesgrenzen hinweg - es ist doch das schutzbedürftige Kind. Weitere Pflegeeltern werden gesucht.

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Nach Einblicken des Tagesspiegels sowie von Hilfsorganisationen haben die aus Afrika stammenden Jugendlichen, wenn sie durch die Wüste, über die Lager in Libyen und die mehrtägigen Bootsfahrten Europa erreichten und dann in Berlin ankommen, hohen psychologischen Bedarf. Doch Wartezeiten für Traumatherapeuten sind lang.

Flüchtlinge allein in Berlin machen sich teils jünger - warum?

iele verdrängen das Erlebte, Missbrauch, Gewalt, den Kampf ums Überleben jahrelang. Bei den Ankunftszahlen liegt Berlin wieder auf dem Niveau von 2013. 2014 kamen 1085 Jugendliche und Kinder ohne Eltern, 2015 waren es 4252, 2016 noch 1381, ein Jahr später 912 UMF. Das sind alles Senatszahlen vor dem genauen Clearingverfahren.

Erfahrungsgemäß machen sich etliche der Unbegleiteten jünger, was aber nicht auffallen muss, aus mehreren Gründen: Minderjährige erhalten einen Vormund, der das Asylverfahren übernimmt, das in der Regel Jahre dauert. Bis zum Alter von 18 Jahren bleiben sie von Abschiebung ausgenommen, im Idealfall können sie Familienangehörige nachholen. Je jünger sie eingereist sind und je länger sie hier leben, desto eher haben auch jene ohne Asylschutz die Chance, über gelebte Integration bleiben zu dürfen. Und: In der Jugendhilfe werden sie individueller versorgt als in Erwachsenenunterkünften.

Bürokratie und Familiensachen

Es gibt an Jugendhilfeeinrichtungen freier Träger aber auch Kritik. In einem Fall seien entgegen den Ankündigungen keine Betreuer vor Ort gewesen. Jugendliche, die in der Pubertät Regeln und Konsequenzen brauchen, blieben sich selbst überlassen, sagt eine frühere Pflegemutter dem Tagesspiegel. Sie habe gemeinsam kiffende Betreuer und Jugendliche erlebt. Da wirke die Jugendhilfe „überfordert und sie agiert hilflos, selbst bei konkreten Beschwerden. Der Skandal ist, dass die ,betreuten‘ Jugendlichen verbleiben müssen, weil sie auf dem Papier angeblich angemessen versorgt sind“, sagt die Frau. Teils würden Jugendliche „mit Geldpauschalen, Bürokratie, unzureichender Einzelfallhilfe und 08/15-Behandlung abgespeist“, so ein Pflegevater.

Andere loben engagierte Jugendamtsmitarbeiter und freie Träger. Jugendhilfe werde auch nach dem 18. Geburtstag verlängert.

Von den Eltern oft für Familienachzug vorgeschickt

Es entstünden teils Ansprüche, wenn Ämter Jugendlichen, oft aus armen Ländern, die erste eigene Wohnung und Geld zahlten. Es gibt viele Erfolgsfälle, da machen vorgeschickte Kinder in Heimen mit engagierten Betreuern und dank Elternkontakt über WhatsApp ihren Weg, wie bei den Darstellern von „Futureland“ im Gorki-Theater. Eine Freude, und Herausforderung, für alle ist der Familiennachzug nach Jahren der Trennung.

Laut Jugendamtsexperten ist eine Pflegefamilie nicht für jeden das Richtige. Es gibt aber viele erfolgreiche Beispiele. Wie der afghanische Flüchtling: Er kam als Analphabet und wurde Klassenbester in einer Problemkiez-Schule – Flüchtlinge wie er regen sich ihrerseits über Mitschüler auf, die „Hartz IV“ werden wollen. Er ist von der Pflegemutter jetzt adoptiert und nun Deutscher. „Pflegefamilien sind die wirksamste, preiswerteste, persönlichste und umfassendste Integrationshilfe“, fasst ein Vater die Erfahrungen seiner Pflegeelterngruppe zusammen.

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