Stadtspaziergang durch das südliche Neukölln: „Das Leben hier ist nicht wie am Wannsee“
Joschka Langenbrinck stellt dauernd Anfragen im Abgeordnetenhaus. Manche nervt das, doch der SPD-Politiker will damit etwas in Neukölln verändern. Ein Rundgang.
Mi
Es dauert nur ein paar Minuten, bis Joschka Langenbrinck zum ersten Mal stehen bleibt, um Hände zu schütteln. Ursula Müller vom Freilandlabor Britz winkt ihn zu sich, zeigt ihm ein Kinder-Ferienprojekt und berichtet von einer geplanten Müll-Sammelaktion. Langenbrinck hört zu, stellt Fragen und macht Müller Hoffnungen für das Freilandlabor: „Es sieht gut aus, dass wir im nächsten Haushalt finanziell noch was draufpacken.“ Dann will er weiter, doch da warten schon ein paar Jugendliche und wollen mit Langenbrinck über den Flughafen Tegel sprechen. Den 32-jährigen SPD-Politiker kennt hier jeder, sein Wort hat Gewicht - anders als im Abgeordnetenhaus.
Dort fällt der Bildungspolitiker vor allem durch seine parlamentarischen Anfragen auf. 628 davon hat er in den vergangenen sechs Jahren gestellt. Er hat Zahlen erfragt zur Kinderbettelei, zu Hütchenspielern, zu Schulschwänzern, zu Gewalt an Schulen, zu Müll in Neukölln, zu Schultoiletten und zur Drogenkriminalität. Er hat detaillierte Angaben über Privatschulen, Kitas, Lehrer und Betreuer. Will man mit ihm über eine Anfrage sprechen, muss er sich die oft erst noch einmal ansehen. In den Verwaltungen sei man teilweise von seiner Detailversessenheit genervt, heißt es aus dem Abgeordnetenhaus. „Ich nehme meinen Job eben ernst“, sagt der Politiker. Er vermisst die Stadt mit seinen Zahlen.
Langenbrincks Wahlkreis wird auch "Hartz-IV-Wahlkreis" genannt
Warum er das macht, will er bei einem Spaziergang durch die Weiße- und die High-Deck-Siedlung im Süden Neuköllns erklären. Hier, wo die Sonnenallee nicht mehr wuselig multikulti, sondern nur noch laut und trostlos ist, hat Langenbrinck seinen Wahlkreis. Sozialleistungsempfänger, Migranten und Arbeitslose wohnen in den schmucklosen Bauten aus den 70er Jahren. Die Gegend gehört zu den sozialen Brennpunkten. Manche bezeichnen sie als „Hartz-IV-Wahlkreis“, Langenbrinck sagt „Berlin im Kleinen“.
Wie viele Herausforderungen es auch im kleinen Berlin gibt, wird beim Spaziergang durch die beiden Siedlungen offensichtlich. Das Gelände ist stark vermüllt, der neue Fußballplatz schon wieder gesperrt, es gibt keine Cafés oder Kneipen, dazu sind seit dem 1. Januar die Mieten um zehn Prozent gestiegen, weil die Sozialbindung abgelaufen ist. Viele Anwohner spüren nun den Vertreibungsdruck. „Wir mussten nach Gropiusstadt umziehen“, sagt der Jugendliche, der Langenbrinck zu seiner Meinung zu Tegel gefragt hatte. „Leider kein Einzelfall“, kommentiert der Politiker. Die Verdrängung treibe die Leute in Wellen an die Stadtränder. Die Politik sei weitgehend machtlos.
„Die Leute brauchen hier einfach Hilfe, das motiviert mich.“
Ein weiteres Problem sei die steigende Drogenkriminalität. Mehrere Szenen der Serie „4 Blocks“, die sich mit den Machenschaften der arabischen Clans in Neukölln beschäftigt, wurden in der High- Deck-Siedlung gedreht. „Vieles, was da gezeigt wurde, ist leider realistisch“, sagt Langenbrinck und verweist auf Steuerbetrug, Kriminalität und Dealerbanden. „Das Leben hier ist nicht wie am Wannsee“, sagt er. Doch genau das reizt ihn: „Die Leute brauchen hier einfach Hilfe, das motiviert mich.“
Vor allem Kindern und Jugendlichen will der Bildungspolitiker helfen. Von den 16 000 Bewohnern der High-Deck- und der Weißen Siedlung ist ein Viertel unter 18 Jahre alt. Jeder Zehnte ist jünger als sechs. Jugendeinrichtungen gibt es jedoch nur zwei, beide vollkommen überlastet. „Viele Kinder hier haben noch nie das Brandenburger Tor aus der Nähe gesehen“, sagt Langenbrinck. Es spricht von der sozialen Mobilitätsfalle. Man müsse die Menschen aktiv abholen, bevor sie abrutschen. Ausreichend Kita-Plätze, Nachmittagsangebote, gute Schulen mit genügend Lehrern. Alles keine neuen Forderungen, aber Langenbrinck engagiert sich dafür.
Als Argument helfen ihm bei den Diskussionen mit den Verwaltungen für Finanzen und Schule seine Parlamentarischen Anfragen. Er weiß, wo Lehrer fehlen. Er weiß, wo der Kitabedarf hoch ist. Er weiß, wo der größte Sanierungsbedarf besteht. Und wenn die Zahlen nicht reichen, dann schreibe er eben Briefe. Als es um die Drogenkriminalität am Bahnhof Neukölln ging, schrieb er 17 Briefe. Man müsse manchmal auch ein bisschen nerven und für Transparenz sorgen. „Nur öffentlicher Druck erzeugt Veränderung“, sagt er vor einer neu eröffneten Kita, für deren Bau er in den Haushaltsverhandlungen 2,5 Millionen Euro sichern konnte. 120 Kinder werden nun in einer modernen Anlage direkt am früheren Grenzstreifen betreut. „Da wird aus meinen Anfragen mal was Handfestes“, sagt der Politiker und ist ein bisschen stolz.
Sein Vater starb früh, die Mutter hatte es nicht leicht
Wie wichtig eine niedrigschwellige und gute Bildung ist, hat Langenbrinck selbst erfahren. Geboren wurde er in Willich am Niederrhein, sein Vater starb früh, die Mutter als Erzieherin hatte es mit ihm und seinem Bruder nicht leicht, finanziell über die Runden zu kommen. Langenbrinck musste sich selbst helfen. Er wurde Schülersprecher und engagierte sich früh für die Jusos. Dann zog er nach Berlin und fand eine Wohnung im nördlichen Neukölln. Bis heute lebt er dort. Nebenher studierte er mit einem Stipendium und BAföG in Potsdam Politik – als Erster aus seiner Familie. Nebenher jobbte er im Bundestagsbüro des früheren Verkehrsministers Wolfgang Tiefensee. Seit 2006 ist er selbst Parlamentarier, sitzt im Berliner Abgeordnetenhaus – damals wie heute ist er der jüngste Vertreter der SPD. Zwei Mal hat er das Direktmandat gewonnen, sein Erststimmenergebnis lag dabei deutlich vor den Zweitstimmen für seine Partei. „Mein Lebenslauf war eben nicht nur Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal. Ein bisschen Lebenserfahrung war schon auch dabei.“
Zum Abschluss des Rundgangs besucht er den Jugendtreff. „The Corner“. Mitarbeiter haben ihn eingeladen, sie feiern den Abschied einer Kollegin. Auch hier kennen den 32-Jährigen alle, für eine Aufstockung des Gebäudes hat er im Abgeordnetenhaus geworben. Langenbrinck sitzt auf einer Bierbank, nimmt einen Schluck Sekt und wirkt für einen Moment zufrieden. An der Wand hinter ihm sind Graffiti von Gandhi, Einstein und Mandela zu sehen. „Die Zukunft hängt davon ab, was wir in der Gegenwart verändern“, steht darunter. Langenbrinck leert sein Glas und will schon wieder weiter zu einer Problemschule um die Ecke. Da sei eben erst eine Förderung ausgelaufen. Vielleicht schreibt er noch eine Anfrage deswegen.
In unserer Reihe "Eine Runde Berlin - Streifzüge durch die Kieze" bereits erschienen: Mit Autorin Jana Hensel in Prenzlauer Berg und am Fernsehturm. Mit Sängerin Inga Humpe am Spree-Ufer in Mitte. Mit Weltenbummlerin Heidi Hetzer im Opern-Viertel. Mit DJ Alfred Heinrichs durch Lichtenberg. Mit Lüül durch Eichkamp in Westend. Mit dem Hauptmann-Darsteller Jürgen Hilbrecht durch Köpenick. Mit Sängerin Elif durch Moabit. Mit Autorin Emilia Smechowski durch Kreuzberg. Mit dem Botschafter des Vatikans an der Hasenheide entlang.