Spaziergang mit Lüül: Keimzelle West
Eine Jugend zwischen Waldidylle und Avus-Lärm, dem ersten Bandauftritt und Drogenexzessen – mit Lüül von den „17 Hippies“ durch Eichkamp.
Da vorn hat Christoph Franke früher gewohnt. In einem kleinen Haus am Eichkatzweg, es sieht nicht viel anders aus als die anderen Häuser in der Siedlung Eichkamp, wo der Funkturm aus luftiger Höhe beobachtet, wie der Grunewald die Stadt aufsaugt. Also: Auf in den Eichkatzweg, vorbei an der Wasserpumpe, „sah früher auch mal anders aus“, sagt Lüül, „so ein schönes altmodisches Ding mit einem schnörkligen Schwengel“, und dann steht er schon vor dem Keller der Familie Franke, der sich in den Sechzigern schwer um die Kunst verdient gemacht hat. Mit Christoph und Lüül und den anderen Kollegen von Agitation Free, aber wer weiß das heute schon noch.
In diesem Keller hatten sie ihren ersten Übungsraum. Ein gemauertes Geviert mit so niedriger Decke, dass sich der kleine Trommler Christoph mit einer Hacke um Vertiefung bemühte. Sehr zum Entsetzen seiner Mutter, der klar wurde, wie ernst es ihr Sohn mit der Musik meinte. Also hat sie ihm und seinen Freunden einen richtigen Übungsraum im nahe gelegenen Gemeindehaus organisiert. Es war der Anfang vom Aufstieg der Band Agitation Free, die bis heute als Wegbereiter der elektronischen Musik gefeiert wird. Am Schlagzeug saß Christoph Franke, später hat er bei Tangerine Dream und als Komponist von Filmmusik eine Weltkarriere hingelegt. Die Gitarre hielt Lüül, er heißt eigentlich Lutz Ulbrich, aber so nennt ihn heute nicht mal mehr seine große Schwester (die ihm einst den schönen Künstlernamen verpasst hat). In den siebziger Jahren bildete Lüül mit der von Andy Warhol angebeteten Sängerin Nico privat und musikalisch ein Duett, heute spielt er Banjo bei den 17 Hippies.
Mit Nico als Gitarrist durch die USA
All das nahm seinen Anfang in Eichkamp. Einer Siedlung, die mit ihren gepflegten Vorgärten und gefegten Wegen für das steht, was das Vorurteil als spießig definiert, also als größtmöglichen Gegensatz zu den Werten der experimentellen Musik. „Kann schon sein“, sagt Lüül, „aber ich bin immer noch wahnsinnig gern hier. Schauen Sie sich mal um, atmen Sie mal die Luft, genießen Sie den Blick. Ist das nicht großartig?“ Lüül ist als Gitarrist mit Nico durch die USA getourt, er hat in Paris gewohnt, in New York, London. Und ist doch immer wieder zurückgekommen, im Allgemeinen nach Berlin und im Besonderen nach Eichkamp – übrigens ohne Artikel, „ganz wichtig“, sagt Lüül. „Der Eichkamp sagen nur Zugereiste, keiner von uns hier.“ Irgendwie gehört er selbst immer noch dazu, obwohl er mittlerweile in Prenzlauer Berg wohnt, „auch ganz schön, aber es fehlt mir das Grüne“.
Als Treffpunkt für einen Spaziergang durch das Viertel seiner Jugend schlägt Lüül den alten Bahnhof Eichkamp vor, „aber passen Sie auf, der heißt jetzt Messe Süd“. Reverenz an die Messegesellschaft, die nebenan den City Cube hingeklotzt hat, wo früher mal Deutschlandhalle und Eissporthalle standen, Schauplätze großartiger Konzerte von Bill Haley oder den Rolling Stones.
Die Schankwirtschaft "Eichkater" ist schon lange aufgegeben
Lüül wird in ein paar Wochen 65 und ist doch eine jugendliche Erscheinung, er trägt das blonde Haar immer noch schulterlang und darauf einen hellen Strohhut. Er wartet am anderen Eingang, dem zur Siedlung, wo früher mal die Schankwirtschaft „Eichkater“ um Kundschaft warb. Der Eichkater ist längst aufgegeben und verlassen, der Garten verwildert, die Ladenfront mit Graffiti beschmiert, „Kied x Rebell“ oder so ähnlich. Lüül und seine Freunde wollten damals auch Rebellen sein. Nicht mit Sprühdose, sondern mit Klampfe und Mikrofon. Im Biergarten vom Eichkater hatten sie ihren ersten Auftritt. „Der Wirt war unser erster Sponsor, wir waren zwölf oder 13, am Ende haben wir eine Lage bekommen“, Rock ’n’ Roll eben.
Weiter vom Bahnhof auf die Waldschulallee und dann gleich nach links in die nächste Straße, Am Vogelherd, „sind schon schräge Namen“, sagt Lüül. „Da vorn an der Ecke hat mal der Radfahrer Jens Voigt gewohnt, aber der ist dann weggezogen Richtung Heerstraße.“ Über die unausgesprochene Grenze Richtung Westend, so heißt hier ja die gesamte Gegend, auch wenn das keiner hören will. Eichkamp steht nicht im Status eines Orts- oder gar Stadtteils, sondern in dem einer Ortslage.
Die Siedlung schmiegt sich im Südwesten an den Grunewald und ist die kleine, nicht ganz so vermögende Schwester der Villenkolonie auf der anderen Seite der Avus. „Typisches Kleinbürgertum hat hier früher gewohnt“, sagt Lüül, „nicht das große Geld, noch in den fünfziger Jahren gab es in unserer Straße ganze vier Autos.“ Der Architekt Max Taut hat Eichkamp nach dem Zweiten Weltkrieg als Gartenstadt mit Reihen- und Doppelhäusern konzipiert. Schmale Straßen, autofreie Verbindungswege und die vielen Bäume versprühen ländlichen Charme. Lüül ist hier geboren und aufgewachsen, erst im Hornisgrund, später im Eichkatzweg und zum Schluss an der Eichkampstraße, gleich neben der Avus, auf der damals noch Rennen gefahren wurden. Lüül hat ihr in seinem Song „West-Berlin“ einen Vers gewidmet:
„Ruinen verfielen,
verführten zum Spielen,
die Avus schmeckte nach Autobenzin.“
Aus der Distanz ist das Mommsenstadion zu erahnen, Heimstätte vom SC Charlottenburg und von Tennis Borussia. Lüül ist neulich mal hingegangen, nachdem er in „West-Berlin“ auch „Tennis Borussia in der Ersten Liga“ besungen hatte. Ebendeswegen bat ihn der Verein ins Mommsenstadion, wo es zuletzt großartigen Ärger gab um die Zurschaustellung der Regenbogenfahne. Immerhin dieses Problem ist jetzt gelöst, nur sportlich geht es bei dem mittlerweile fünftklassigen Klub ein wenig bescheidener zu. Lüül hat sich das Spiel gegen Lichtenberg 47 angeschaut und als Geschenk ein lilaweißes Hemd bekommen, Tennis Borussias Klubfarben, dazu die Aufschrift: „Lilaweiße West-Berliner Schnösel“. Lüül lacht. „Hätte ich eigentlich für den Fototermin anziehen müssen!“
"Alle Läden haben hier dichtgemacht"
Weiter über den Lärchenweg in den Zikadenweg. Aus dem Supermarkt an der Ecke ist eine Ferienwohnung geworden, „die Läden hier haben alle dichtgemacht“, sagt Lüül, zuletzt der Bäcker an der Eichkampstraße. Die Sozialstruktur hat sich verändert. Eichkamp ist keine Kleine-Leute-Gegend mehr, sondern eine begehrte Wohnlage mit hochpreisigen Immobilien, über die S-Bahnhöfe Eichkamp und Grunewald perfekt an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen. Wo früher der Marktplatz war, entsteht gerade ein zweistöckiger Klotz von der Art, für die das Maklerdeutsch die Vokabel „Townhouse“ kreiert hat.
Vor ein paar Jahren hat sich auch die Kirche aus der Siedlung verabschiedet. Das alte Gemeindehaus befindet sich seit ein paar Jahren in privater Trägerschaft und fördert jetzt als „Haus Eichkamp“ den Nachbarschaftsgeist. Auf dem hinteren Teil des ausladenden Grundstücks gibt es immer noch den Kindergarten, wo früher die strenge Schwester Erika ihr Regiment führte. Vor der Tür hantiert ein Mann mit Schlüsseln. Lüül winkt mit seinem Strohhut herüber, „guten Tag, ich bin alter Eichkamper, ob wir mal reinkommen dürfen?“. Na klar, kein Problem. Der Mann mit den Schüsseln stellt sich als Hausmeister vor, „ach Lüül, natürlich, hab Sie gar nicht erkannt mit dem Hut. Na, dann kommen Sie mal rein!“.
Das alte Gemeindehaus wird gerade renoviert, aber die Bühne im Saal baut sich noch so erhaben auf wie in den sechziger Jahren, als Lüül hier mit seiner Band die ersten Auftritte hingelegt hat. Alle Jahre wieder kehrt er zurück für ein Konzert in der Intimität seiner Kindheit, zuletzt im Mai, vor knapp hundert Leuten. Kommen da auch Leute, die er noch von früher kennt? „Eigentlich nicht, die meisten sind längst weggezogen“, aber halt, da war doch mal was. Vor ein paar Jahren, Lüül hatte gerade aus seiner Autobiografie vorgelesen, „da kam eine Frau und erzählte, wie sie mit ihren Freundinnen immer am Kellerfenster stand, wenn wir unten geübt haben. Ha!, die war sozusagen unser erstes Groupie“.
Auf dem Stellplatz von Papas Auto ist heute ein Komposthaufen
Vom alten Gemeindehaus biegt Lüül in den Maikäferpfad ab und dann in den Eichkatzweg. Auf der linken Seite war der Zigarettenladen, den es natürlich auch nicht mehr gibt. Kurzer Blick durch die Fensterschreiben von Haus Nummer 38, das Lüül mit seiner Familie für ein paar Jahre zur Miete bewohnte, bevor der Vater ein eigenes an der Eichkampstraße kaufte, nur eine Querstraße weiter, aber direkt neben der lauten Avus, was die Idylle doch ein wenig stört. Als die Eltern vor ein paar Jahren gestorben sind, ist seine Schwester eingezogen, „sie ist leider gerade verreist, aber wir können gern mal in den Garten schauen“. Grüne Ranken klettern über die komplette Front des Hauses, der Stellplatz für Papas Auto ist in einen riesigen Komposthaufen umfunktioniert worden, und spätestens zwischen den Apfel- und Mirabellenbäumen ist der Lärm vergessen.
Das Haus an der Eichkampstraße stand immer offen für Lüül, seine Freunde und ihre Musik. „Meine Eltern waren da sehr tolerant und offen für alles Neue“, selbst als er zwischenzeitlich mit der wilden Nico dort wohnte und die beiden mit langen Gewändern die kleinbürgerliche Umgebung irritierten. Erst als es mit den Drogen, mit dem Heroin, zu viel wurde, legten die Eltern dem Paar den Auszug nahe.
Nico ist 1988 auf Ibiza gestorben und auf dem Friedhof am Schildhorn begraben worden. Am Rande des Grunewalds, an dem Lüül aufgewachsen ist und der so etwas wie ein Sehnsuchtsort seiner frühesten Kindheit war. Zeit für einen letzten Weg auf diesem Spaziergang durch die Vergangenheit: von der Eichkampstraße rechts in die Alte Allee und links in den Hornisgrund, vorbei am Eckhaus, wo damals der Dorfpolizist gewohnt hat, „ein gemütlicher Mann, aber wehe, einer von uns ist bei einem anderen auf dem Fahrrad-Gepäckträger mitgefahren“.
Der Hornisgrund läuft direkt auf den Wald zu. Dunkel, kühl und mächtig liegt er da, einen Steinwurf entfernt von dem Haus, in dem Lüül seine ersten Lebensjahre verbracht hat. Drei Zimmer im ersten Stock, unten wohnte eine Balletttänzerin. Lüül verharrt einen Augenblick und blickt versonnen auf den Wald. Denkt zurück an die Fußballspiele, die Kletterpartien auf den Teufelsberg, die Badeausflüge zum Teufelssee. „War schon eine tolle Zeit hier“, und es war schön, mal wieder nach Eichkamp zu kommen. Wiederholung folgt. Spätestens im nächsten Frühling, beim Heimspiel vor hundert Zuschauern im alten Gemeindehaus.
In unserer Reihe "Eine Runde Berlin - Streifzüge durch die Kieze" bereits erschienen: Mit Autorin Jana Hensel in Prenzlauer Berg und am Fernsehturm. Mit Sängerin Inga Humpe am Spree-Ufer in Mitte. Mit Weltenbummlerin Heidi Hetzer im Opern-Viertel. Mit DJ Alfred Heinrichs durch Lichtenberg.