Stadtspaziergang mit Alfred Heinrichs: Lichtenberg: In der hipsterfreien Zone
Lichtenberg, mon amour: Elektromusiker Alfred Heinrichs findet Friedrichshain „überhyped“. Dem eigenen Bezirk hat er ein Album gewidmet.
Die beiden wichtigsten Orte im Leben des Elektromusikers Lars Heinrichs sind bloß drei Kilometer voneinander entfernt. Im Norden Lichtenbergs, in der Wotanstraße, hat er seine Wohnung, sein Studio und das Büro für seine Produktionsfirma, das Label supdub. Im Süden, in der Türrschmidtstraße, leben seine Exfreundin und sein kleiner Sohn. In seinem Leben, sagt Lars Heinrichs, habe der Junge die Musik „tatsächlich an die zweite Stelle gerückt“. Für den Musiker ist Lichtenberg Heimat, Herzenssache und eine Überzeugung – so sehr, dass er sein 2014 produziertes Album „Lichtenberg“ genannt hat.
Als Elektromusiker nennt er sich „Alfred Heinrichs“ – eine kleine Hommage an den Opa, der ihn in jeder Hinsicht beeindruckt habe. Die drei Kilometer vom Studio im Norden zur Türrschmidtstraße im Kaskelkiez hat er gerade wieder absolviert. Das neue Album ist fertig, Lars Heinrich sitzt sehr entspannt im Schatten vor einem kleinen Café, in Dienstkleidung sozusagen: schwarzes Basecap, schwarze Sonnenbrille, schwarze Kapuzenjacke, schwarze Hose. Autos holpern über das Kopfsteinpflaster, es ist ein Altbau-Kiez mit Häusern, die gut aussehen, aber nicht aufgehübscht, mit ein paar Restaurants, einem Obstladen. Das Thema – reden wir über Lichtenberg! – hat ihn interessiert. Er passt hierhin in seiner offenen, uneitlen Art.
Ein Mittelfinger in Richtung Friedrichshain
Für einen Musiker, der ein Dutzend elektronischer Alben und EPs gemacht und schon in Barcelona und Melbourne gespielt hat, ist der Verzicht auf das Logo „Berlin“ eine Aussage, die Betonung von „Lichtenberg“ die andere, stärkere. Im Café gibt es frische Bagels und „Lemoncake“, aber das ist das einzige Tribut an die anglophile Weltjugendhauptstadt Berlin. Lichtenberg ist noch ziemlich hipsterfrei. „Hier verkleidet sich keiner“, sagt Lars Heinrichs und lacht ein breites Lachen.
Der Hersteller textloser schneller Musik produziert auch gerne nachhallende Thesen. Was er mit „verkleiden“ meint, macht er mit einem Kopfnicken in Richtung des Nachbarbezirks Friedrichshain-Kreuzberg deutlich. Er sei gern mal in Friedrichshain, sagt er, „aber ich möchte da niemals wohnen“. Friedrichshain sei „überhyped“. Dass man die Leute in den Restaurants persönlich kenne, habe sich in Friedrichshain längst verloren. „In Friedrichshain haben alle ’nen Bart und denselben Tätowierer“, Friedrichshain sei „einfach Fasching, jeder verkleidet sich, in der Individualität ist jeder gleich“. Der Albumtitel „Lichtenberg“ – noch ein breites Lachen – sei „im Prinzip der Mittelfinger Richtung Friedrichshain.“
Malocher-Vergangenheit und Kulturindustrie-Gegenwart
Lichtenberg hatte lange einen, sagen wir, etwas strapazierten Ruf, vor allem durch die Weitlingstraße, anderthalb Kilometer östlich vom Kaskelkiez gelegen, und eine dort lebende Neonazi-Population. Von dieser ist angeblich nicht mehr viel übrig. Aber Images ändern sich nur langsam. Und weil die Weitlingstraße der 90er Jahre nicht mehr die von heute ist, hat Lars Heinrichs einen der Albumtracks von „Lichtenberg“ eben „Weitlingstraße“ genannt.
Dass Lichtenberg angenehme, interessante Kieze hat, sieht man nicht in der Weitlingstraße, man muss es sich ergehen. Der Kaskelkiez erweist sich als netter Altbau-Kiez, die Gegend in Richtung Frankfurter Allee boomt – und im Norden finden sich auf DDR-Restbeständen an Industriegeländen Atelierhäuser und Werkstätten – die krude wirkende Verbindung aus Malocher-Geschichte und Kulturindustrie-Gegenwart. Und dann ist da noch die asiatische Insel, das Dong-Xuan-Center, der größte Asia-Markt der Stadt. Daneben: der Landschaftspark Herzberge. Für Lars Heinrichs ist es Oase, Frischluftzone, Grün mitten in der Stadt. Das kann Berlin. Durch den Park jogge er gern, sagt Lars Heinrichs. Gelegentlich sehe er einen Schäfer mit einer Herde. Dann bleibe er stehen und fühle sich wie „mitten in Brandenburg". Lichtenberg enthalte „einfach alles“, stellt Lars Heinrichs fest.
Im Jugendclub mit Paul Kalkbrenner
Dazu gehört auch: seine Jugend. Das, was er seine musikalischen Wurzeln nennt. Als Junge hat er Schlagzeug gelernt. Da hat es zu Hause viel Streit gegeben, sagt er lachend. In einem Lichtenberger Jugendclub habe er Paul Kalkbrenner und Sascha Funke kennengelernt – alle drei Jahrgang ’77, heute Elektromusiker, „Kinder der Wende“, sagt Lars Heinrichs, „die Jugendlichen haben sich freigetanzt von den Ängsten der Eltern.“ Über den berühmtesten der drei sagt Lars Heinrichs: „Wat der Paule da geschafft hat… aus Lichtenberg raus in die riesige große Welt“ – und trotzdem sei Paul Kalkbrenner Lichtenberger geblieben und unterstütze den Fußballverein „Sparta Lichtenberg“ als Sponsor. Bei Sparta trainiert auch Lars Heinrichs’ kleiner Sohn.
Für ihn selbst ist Lichtenberg sozusagen die innere und äußere Wahlheimat. Er habe früher in Charlottenburg gewohnt, in Moabit sei er zur Schule gegangen, der Westen habe ihn so geprägt wie der Osten. Im Westen habe er gelernt: „Du bist Einzelkämpfer, du musst dich behaupten.“ Im Osten galt: „Du bist Teil des Ganzen, du wirst nicht fallengelassen.“ Dort, wo er jetzt wohne, in der Wotanstraße, sei es nicht bloß sehr ruhig – was ihm sehr wichtig sei. Er sei auch Teil einer Hausgemeinschaft „typisch Osten“ – und typisch Berliner Gegenwart, mit Leuten aus Asien und Afrika. Hinten im Hof gebe es eine Grillecke, wo man sich einfach dazusetze, wenn man wolle. Als er hingezogen sei, habe er gehört: „Herzlich willkommen – wir kennen dich.“ Das „Lichtenberg“-Album war ihm musikalisch vorausgeeilt. Dass er damit gezeigt hatte: „Ey, ich leb’ hier gerne“, habe die Leute stolz gemacht.
Klar, der Berlin-Hype ist hier auch zu spüren. In der nächsten Querstraße, sagt Lars Heinrichs, müsse man 1800 Euro Miete für eine Neubauwohnung bezahlen. Noch aber meint man hier zu spüren, dass alles etwas weniger aufgeregt ist, weniger Selfie-intensiv, weniger Party-orientiert und entspannter als in Kreuzberg-Mitte-Friedrichshain.
Lars Heinrichs kennt Berlin zu lange und zu gut, um zu glauben, dass der Hype einfach an einer Bezirksgrenze Halt macht. „Irgendwann werde ich sicher meine Ruhe außerhalb der Stadt suchen“, sagt er. Aber einstweilen hofft er stark, dass sich Lichtenberg noch lange so anfühlt wie jetzt. Am Nöldnerplatz werde für ein Wohnprojekt mit dem Namen „Das Lichtenhain“ geworben, sagt Lars Heinrichs. „Was soll das? Für mich eine Beleidigung.“
In unserer Reihe "Eine Runde Berlin - Streifzüge durch die Kieze" bereits erschienen: Mit Autorin Jana Hensel in Prenzlauer Berg und am Fernsehturm. Mit Sängerin Inga Humpe am Spree-Ufer in Mitte. Mit Weltenbummlerin Heidi Hetzer im Opern-Viertel.